31.12.1996 

Der dritte Weg in den Bürgerkrieg

Jugoslawien und das Ende der nachholenden Modernisierung

Ernst Lohoff

Horlemann-Verlag, Bad Honnef 1996, 192 S., br., ISBN 3-89502-055-9

Westliche Beobachter sehen im grassierenden Ethnonationalismus für gewöhnlich ein anachronistisches Phänomen, das so gar nicht zu unserer ach so aufgeklärten Epoche passen will. Insbesondere die Entwicklungen im ehemaligen Jugoslawien erscheinen im heutigen Europa, wo der Siegeszug des totalen Marktes alle nationalen Grenzen längst obsolet macht, als Fremdkörper.

Ernst Lohoffs verblüffende Analyse eröffnet demgegenüber eine gänzlich andere Perspektive. Er zeichnet zunächst nach, warum in Jugoslawien das unter Tito begonnene Modernisierungsprojekt weder unter dem Banner des Sozialismus noch dem des Marktliberalismus zu einem erfolgreichen Ende geführt werden konnte. Ferner macht er deutlich, daß unter den für den jugoslawischen Vielvölkerstaat spezifischen Bedingungen der Kollaps nachholender Entwicklung zu einer Neubesetzung nationaler Gegensätze führen mußte. Im letzten Teil untersucht er die Reproduktionslogik der in diesem Zerfallsprozeß entstandenen pseudostaatlichen Regime.


AUSZUG

Inhalt

Vorbemerkung

1. Die Erfindung der Nation in Südeuropa

2. Der erste jugoslawische Staat – ein historischer Fehlstart

3. Der Krieg der Partisanen und die Wiedergeburt der jugoslawischen Idee unter sozialistischen Vorzeichen

4. Der Traum von der gesellschaftlichen Gesamtfabrik Jugoslawien in der Phase des »administrativen Sozialismus«

5. Etatistische Steuerung und »negative Konkurrenz«

6. Der jugoslawische Selbstverwaltungssozialismus eine Utopie mit eingebauten Sprengsätzen

7. Staatsökonomie und Marktwirtschaftsreform die marktwirtschaftliche Reformwelle der 60er Jahre

8. Die marktwirtschaftlichen Reformen und der »Egoismus der Republiken« – das »jugoslawische Modell« in der Zerreißprobe

9. Konsolidierung auf brüchiger Grundlage – die letzten Jahre der Titoherrschaft und die Selbstverwaltungsmythologie

10. Kreditfinanzierte Scheinprosperität – die jugoslawische Wirtschaft in den 70er Jahren

11. Der Konkurs der Selbstverwaltungswirtschaft Titojugoslawien ohne Tito

12. Ein Ausbruchsversuch in die Marktwirtschaft die kurze Ära des Ante Markovic

13. Die Ausschlachtung einer Modernisierungsruine die Renaissance des großserbischen Nationalismus

14. Abschied auf slowenisch – das Reformdesaster und der Vormarsch der separatistischen Nationalismen

15. Der Showdown der Teilrepubliken

16. Kriegswirtschaft ohne nationalökonomische Grundlage

17. Vom ideellen Gesamtkapitalisten zum reellen Gesamtkriminellen – Metamorphosen des jugoslawischen Staatsapparates

18. Zur Logik poststaatlicher Kriegsführung

19. Operettenstaaten mit blutigem Angesicht

20. Balkankrieg und One World

Vorbemerkung

Es ist gerade einmal ein halbes Jahrzehnt her, daß sich die Anhänger von westlicher Demokratie und Marktwirtschaft ohne eigenes Zutun an das Ziel all ihrer historischen Wünsche versetzt glaubten. Mit dem Zusammenbruch des maroden Realsozialismus schien sich 1989 quasi über Nacht der ganze Planet den glorreichen Errungenschaften der westlichen pluralistischen Gesellschaft zu öffnen. Der amerikanische Pseudo-Hegel Fukujama brachte die damals grassierende Euphorie auf den Punkt, als er eilfertig das liberale »Ende der Geschichte« proklamierte.

Mittlerweile ist diese Endsieglaune allerdings verraucht, ja in ihr Gegenteil umgekippt. Angesichts der realen Entwicklung im nachsozialistischen Osteuropa hat sich Ernüchterung breitgemacht. Statt der prognostizierten »blühenden Landschaften« prägen Industriebrachen und Elendsquartiere das Bild sämtlicher »Transformationsstaaten«. Der vielbeschworene Aufschwung Ost will sich nicht einmal in der reichlich mit D-Mark gesponserten Ex-DDR einstellen und erweist sich in den übrigen Ländern des ehemaligen Ostblocks erst recht als Fata Morgana. Nichts hat die Sektlaune der jubilierenden öffentlichen Meinung aber so nachhaltig zerstört wie der Vormarsch neonationalistischer Strömungen in den Ländern des ehemaligen Warschauer Pakts und der Ausbruch von gewöhnlich als »ethnisch« apostrophierten bewaffneten Konflikten in den aus der Sowjetunion und Tito-Jugoslawien hervorgegangenen staatlichen Gebilden.

Ortsnamen wie Sarajevo und Vukovar gemahnen unmißverständlich daran, daß selbst in der unmittelbaren Nachbarschaft der europäischen Kernländer aus der Hoffnung auf Veränderung von 1989 ein Fluch geworden ist. Die neonationalistische Welle und insbesondere die Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien haben den Traum von einer schönen neuen demokratisch-marktwirtschaftlichen Welt ad absurdum geführt. Der neue Nationalismus markiert aber nicht nur das Scheitern der westlichen Heilsbringer, er dient ihnen gleichzeitig als Alibi und hat für ihr apologetisches Selbstverständnis eine entlastende Funktion. Die Segnungen von pluralistischer Demokratie und sozialer Marktwirtschaft haben sich auf dem Balkan und in den Tiefen des zerbrochenen Sowjetreiches zwar nicht durchgesetzt, ihre angeblich so aufgeklärten Liebhaber können sich jedoch wenigstens der Unbeflecktheit der eigenen Lehre versichern, indem sie sich angesichts der blutigen neonationalistischen Wirren empört und verständnislos zeigen. Wie sich einst die Anhänger des Arbeiterbewegungmarxismus durch die stalinistische Terrorpraxis und die Schrecken der realsozialistischen Entwicklungsdiktaturen nicht in ihrem Bekenntnis zu den »verratenen« sozialistischen Idealen erschüttern ließen, ebenso nehmen die Apologeten der Moderne den Vormarsch von Mafiaherrschaft und das Wuchern von Zerfallsnationalismen in den frisch der »freien Welt« erschlossenen Gebieten keinesfalls zum Anlaß, ihr Credo zu hinterfragen. All diese Phänomene haben in ihren Augen mit den »humanen« Prinzipien der bunten westlichen Warenwelt ex definitione nichts zu tun. Sie werden als ein rein äußerliches Verhängnis wahrgenommen. Es ist, so scheint es, der Einbruch einer wesensfremden und anachronistischen Kraft, der den aus der ehemaligen Sowjetunion und Ex-Jugoslawien hervorgegangenen Staaten den Weg ins westliche Wohlstandsarkadien versperrt.

Das Thema Jugoslawien war in den letzten Jahren Anlaß zu lebhaften und kontrovers geführten Debatten. Wenn man von den verschwörungstheoretischen Fieberphantasien linksradikaler Provenienz einmal absieht Die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Realsozialismus im allgemeinen und der jugoslawischen Entwicklung im besonderen wäre dazu angetan, auch das alte linksradikale Selbstverständnis in Frage stellen. Vor dieser Zumutung drücken sich die letzten aufrechten »Antiimperialisten« und »Klassenkämpfer« auf ihre Weise. So oft sich linksradikale Autoren zum Jugoslawienkonflikt äußern, bleiben dieses Land und seine innere Entwicklung konsequent ausgeblendet. Gegenstand ist allein der Westen und seine Jugoslawienpolitik. Im besten Fall kann eine solche ideologiekritische Orientierung einige Fingerzeige liefern, wie fragwürdig doch die herrschenden Wahrnehmungsmuster sind und wie sie zustande kommen. In dem von Klaus Bittermann herausgegebenen Bändchen »Serbien muß sterbien« sind einige Beiträge in diesem Sinne durchaus lesenswert (etwa die Aufsätze »Meutenjournalismus« von Peter Brock und der Artikel »Das potemkinsche Sarajevo« von Zeljko Vukovic ). Im Normalfall endet diese Art von Kritik jedoch in einem »negativen Nationalismus«, der die auf Deutschland und Österreich bezogenen »antiimperialistischen« Sterotypen der großserbischen Propaganda für bare Münze nimmt.>, trafen sich die Einschätzungen jedoch in einem Punkt. Sie liefen allesamt auf einen Selbstfreispruch der Vertreter der westlichen Moderne hinaus. Auch wenn eine andere Krisenbewältigungsstrategie gefordert bzw. die Insuffizienz der bisherigen Maßnahmen beklagt wird und die Kommentatoren sich endlos darüber streiten können, ob die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens zu früh oder zu spät kam, auch wenn angesichts der Ereignisse in Bosnien die ominöse »demokratische Weltgemeinschaft« an ihrer eigenen Handlungsfähigkeit verzweifelt: das westliche Bezugssystem als solches ist all diesen selbstkritischen Anwandlungen enthoben. Die jugoslawische Misere ist das eine, die westlichen Errungenschaften, die nur endlich als Heilmittel konsequent angewendet werden müßten, gelten als das ganz andere.

An diesem ebenso gängigen wie grobschlächtigen Argumentationsmuster fällt vor allem eins auf. Der Kollaps des jugoslawischen Staatswesens und der Zusammenprall der neuen Spaltungsnationalismen werden rigoros aus dem historischen Kontext herausgelöst, in dem sie stehen. Die postjugoslawische Katastrophe erscheint als ein Ereignis, das mit unserer angeblich so aufgeklärten Epoche nicht das Geringste zu tun hat. Man könnte den Eindruck gewinnen, als fänden die Ereignisse in Jugoslawien auf einem anderen Planeten statt, nicht aber mitten in Europa am Ende des 20. Jahrhunderts. Mit einer fast schon entwaffnenden Offenheit verkündet etwa Theo Sommer, Chefpastor und Sonntagsredner der liberalen Öffentlichkeit, den in die Verurteilung der nationalistischen Scheußlichkeiten hineingenommenen Selbstfreispruch. Unter dem Titel »Der Firnis der Zivilisation ist dünn« trauert der »Zeit«-Herausgeber in seinem Leitartikel zum Jahreswechsel 1992/93 den hoffnungsfrohen demokratischen Perspektiven von 1989 nach und raunt dann dunkel: »Sarajevo hat uns zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert daran erinnert, daß das Böse eine allgegenwärtige Möglichkeit ist«. Damit aber nicht genug. Nachdem er die »jugoslawische Tragödie« aus Raum und Zeit hinausschwadroniert und damit nebenbei sämtliche Handelnden letztlich exkulpiert hat, wird er doch noch pseudokonkret und belehrt uns über die angeblichen historischen Hintergründe der jugoslawischen Katastrophe: »Im früheren Jugoslawien..entlud sich der lange unterdrückte Haß der verschiedenen Stämme in einer Explosion von atavistischer Macht…Der Kollaps des Kommunismus hat manche dunkle Seite des menschlichen Wesens wieder freigelegt, die besser verschüttet geblieben wäre«.

Der vulgärfreudianische Kulturpessimismus erreicht gerade einmal das Niveau von Stammtischreflexionen. Dennoch ist dieser intellektuelle black-out durchaus typisch dafür, wie die Bürgerkriegsereignisse auf dem Balkan und in anderen Weltregionen hierzulande verarbeitet und zugeordnet werden. Zum einen hat es derzeit Konjunktur, an die Stelle spezifischer historischer Erklärungen die Beschwörung anthropologischer Konstanten zu setzen. Es scheint mittlerweile näher zu liegen, einer ominösen, dem Menschen angeblich eingeborene »Angst vor dem Fremden« Unter diesem Titel veröffentlichte die »Zeit« im Sommer 1993 eine auf ihre Weise durchaus aufschlußreiche »Serie über die Anthropologie des Fremdenhasses«.> nachzuspüren und im Extremfall die Pogrome am Ende des 20. Jahrhunderts mit dem frühkindlichen »Fremdeln« kurzzuschließen, als von Geschichtswissenschaftlern, Ökonomen und Politologen eine Erklärung für diese Entwicklungen zu erwarten. Zum anderen, und das ist nicht weniger charakteristisch, liegt Theo Sommer mit seinem Rückbezug auf die »Stammesgeschichte« Jugoslawiens voll im Trend. Wie beim Leitartikler der »Zeit«, so ist in den mittlerweile zahllosen Publikationen zum Jugoslawien-Konflikt notorisch von dessen historischen Wurzeln die Rede. Dieser Rückgriff auf die Vergangenheit bedeutet aber so gut wie nie, daß die Autoren gewillt wären, dem historischen Vermittlungszusammenhang systematisch nachzuspüren, der von der titojugoslawischen Staatsbildung zum Zerfall Jugoslawiens führte. Der Hinweis auf die Vorgeschichte gerät vielmehr zur Fortsetzung des Anthropologisierens mit anderen Mitteln. Selten kommt der Rekurs über die Weisheit hinaus, daß die »Balkanvölker« auch früher schon blutige Auseinandersetzungen geführt haben. Man begnügt sich damit, im gegenwärtigen Bürgerkrieg die Wiederaufnahme einer unseligen Tradition zu sehen, die die Kommunisten vorübergehend sistiert hatten.

Diesem Vorverständnis entsprechend konzentriert sich der Blick zurück vorzugsweise auf die Zeit vor 1945 Nicht nur bei den offenen Apologeten der bürgerlichen Gesellschaft wird der Verweis auf die Vergangenheit Jugoslawiens zum Deutungsmuster für die Gegenwart und ersetzt alle analytischen Bemühungen. Gleiches gilt auch für die scheinradikale Linke. Auf die Weltkriegskonstellation fixiert, kann sie in der postjugoslawischen Katastrophe immer nur die Kräfte am Werk sehen, die zwischen 1941 und 1945 Jugoslawien heimgesucht haben. Was von linksradikaler Seite zum Thema Jugoslawien präsentiert wird, läßt sich zu einem guten Teil nur mehr in klinischen Kategorien fassen. Peter Priskil etwa, der Herausgeber der deutschen Übersetzung von Arnold Shermans »Perfidy in the Balkans« hat sich schlicht und einfach in einem lupenreinen Wahnsystem verfangen, wenn er im Vorwort fabuliert: »Anfang 1992 konnten wir uns durch Augenschein davon überzeugen, daß die deutsche Regierung mit massiver Militärhilfe zielstrebig auf dem Weg fortschritt, den Hitler im Verbund mit dem Vatikan eingeschlagen hatte: die Ausrottung der orthodoxen Serben unter Zuhilfenahme katholisch-faschistischer Marionetten und moslemischer Milizen, die den Balkan von 1941 bis 1945 in ein Schlachthaus verwandelten.« (»Die Zerschlagung Jugoslawiens«, Freiburg 1994, S. XI.) Eine solche Aussage verrät nichts über die jugoslawische Wirklichkeit, aber sehr viel über den Geisteszustand eines Teils der bundesdeutschen Restlinken. Mit demonstrativer Hysterie und fadenscheinigen Verschwörungsphantasien muß sich die linksradikale Kritik darüber hinwegtäuschen, daß sie nur in dem gleichen Bezugssystem denken kann, in dem sich die Apologeten der westlichen Moderne bewegen.>. In kaum einem »Hintergrundartikelchen« über die jugoslawische Katastrophe fehlt eine mehr oder minder detaillierte Darstellung der nationalen Konflikte im Vorkriegsjugoslawien und der Hinweis auf den mit bestialischen Mitteln geführten innerjugoslawischen Bürgerkrieg während des Zweiter Weltkriegs. Die Binnengeschichte Titojugoslawiens (insbesondere der letzten beiden Jahrzehnte) bleibt dagegen konsequent außen vor. Die Nachkriegsära verliert ihre Konturen und taucht nur mehr als vorübergehende Unterbrechung der balkanischen Lust an der Selbstzerfleischung auf. Dieser Ausblendzwang macht sich nicht nur in den populären Veröffentlichungen zum Thema bemerkbar, er schlägt auch in den neueren Publikationen der Fachwissenschaftler durch. Natürlich wird niemand, der auch nur einigermaßen mit der Geschichte Südosteuropas vertraut ist, sich Sommers aberwitziges Archaisieren zu eigen machen und zusammen mit den nationalistischen Ideologen eine gerade Linie von der Schlacht auf dem Amselfeld im Jahr 1389 bis zur Gegenwart ziehen. Selbstverständlich ist nach wie vor unter seriösen Historikern unstrittig, daß die Balkanbewohner in ihrer sogenannten »ethnischen« Gemengelage bis tief ins 19. und teilweise sogar bis ins 20. Jahrhundert hinein friedlich nebeneinander herlebten, und erst die aus dem Westen importierte Idee der Nation sowie der Vormarsch von Marktproduktion und moderner Staatlichkeit diesen pränationalen Zustand zerstörten; man darf wohl ebenfalls voraussetzen, daß die Fachwissenschaftler sich über die für die Herausbildung eines modernen homogenen Staatswesens dysfunktionalen Züge Vorkriegsjugoslawiens weitgehend einig sind.

Je weiter wir uns an die Gegenwart annähern, desto einsilbiger und unschärfer werden jedoch ihre Verlautbarungen. Sobald es um den Zusammenbruch Jugoslawiens geht, verflüchtigt sich auch bei ihnen jeder analytische Anspruch, und an seine Stelle tritt pure Deskription, die nur selten über eine Ereignischronologie hinausgeht. Die gesellschaftliche, soziale und ökonomische Entwicklung geht im Aufzählen der tagespolitischen Wechselfälle unter. Im Extremfall geht die historisch unterfütterte Annäherung an die postjugoslawische Katastrophe schlicht ins sukzessiven Verstummen über Die Zurückhaltung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler hat auch noch einen anderen, unmittelbar-praktischen Grund, nämlich die schwierige Materiallage. Gerade bei der Einschätzung der neueren Entwicklung können sie sich nur sehr bedingt auf ihr übliches Instrumentarium verlassen. Die Bürgerkriegswirren entziehen den Fortgang der ökonomischen und sozialen Entwicklung weitgehend der volkswirtschaftlich-statistischen Erfassung. Die harte Krisenwirklichkeit, die plünderungsökonomische Realität, übersetzte sich nach dem Zusammenbruch der zuständigen Institutionen nicht länger in abrufbare, allzeit zugängliche und verifizierbare Daten. Das bereitete natürlich auch mir bei meiner Arbeit enorme Probleme. Die Darstellung der Entwicklung nach 1991 stützt sich denn auch ausschließlich auf journalistische Arbeiten. Soweit sich darin überhaupt quantifizierende Aussagen über traditionelle volkswirtschaftliche Größen wie Inflation, Arbeitslosigkeit, Einkommen, Kapitalströme usw. finden, sind sie mit erheblichen Fehlerquellen behaftet. Für Zahlen, die die staatliche und sonstige Mafia- und Raubwirtschaft betreffen, gilt das quasi naturgemäß. Auch wenn bei der Betrachtung realsozialistischer Statistiken schon immer mit einem beträchtlichen Phantasiekoeffizienten, zu rechnen war, stellt dies eine qualitativ neuartige Situation dar. Ich habe daher bei meiner Untersuchung der jugoslawischen Bürgerkriegsökonomie hauptsächlich versucht, die Logik der Sache zu entwickeln und mich ansonsten im wesentlichen darauf beschränkt, aus der Extrapolation der Ausgangsbedingungen gewisse Rückschlüsse auf den Fortgang der Zerfallsprozesse zu ziehen. Nach den Kriterien akademischer Methodologie ist ein solches Vorgehen sicher fragwürdig, allerdings ist ein anderes bei der gegenwärtigen Materiallage gar nicht möglich.>. Ein Musterbeispiel dafür liefert Holm Sundhausen, einer der renommiertesten Jugoslawien-Experten im deutschsprachigen Raum, mit seinem 1993 erschienen Bändchen »Experiment Jugoslawien« Holm Sundhaussen, »Experiment Jugoslawien«, Mannheim, 1993.>. Von einer Schrift, die mit dem Untertitel »von der Staatsgründung zum Staatsverfall« für sich wirbt, erwartet der Leser in erster Linie Auskunft über die neuere Entwicklung, die zum Auseinanderbrechen des Staatswesens führte. Der Autor aber läßt sich ausführlich und kenntnisreich über die Entwicklung Vorkriegsjugoslawiens und insbesondere über die verwickelte Geschichte des jugoslawischen Bruderkriegs im Zweiten Weltkrieg aus, um dann immer einsilbiger zu werden. Die politische Geschichte Nachkriegsjugoslawiens absolviert er im Schnelldurchgang und legt dabei bezeichnender Weise den Schwerpunkt auf die 50er und frühen 60er Jahre; die Entwicklung nach Titos Tod behandelt er nur mehr pro forma. Die Zeit von 1980 bis heute ist ihm knapp 5 Seiten und einige allgemeine Phrasen wert.

Der unwiderstehliche Drang, die neonationalistischen Exzesse und den Kollaps der jugoslawischen Gesellschaft zu entzeitlichen, ist ein genuines Produkt der postjugoslawischen Katastrophe. Er setzte sich auf breiter Front erst durch, als die innerjugoslawischen Konflikte zum offenen Bürgerkrieg eskalierten. Solange sich die Misere der jugoslawischen Arbeitsgesellschaft noch als die Misere eines überlebten sozialistischen Modells abhandeln ließ, hatten die Liebhaber von Demokratie und Marktwirtschaft keinerlei Problem damit, einen Zusammenhang zwischen der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung Titojugoslawiens und dem Aufkeimen des Nationalismus herzustellen. Die Wiederkehr national gefärbter Konflikte im Rahmen des Selbstverwaltungssozialismus galt dabei nur als weiterer Beleg für dessen Insuffizienz und die Überlegenheit der westlichen Version der Arbeitsgesellschaft. Diese Perspektive verflüchtigte sich Ende der 80er Jahre fast schlagartig. Während ausgerechnet die vom Westen gefeierten marktwirtschaftlichen Transformationsversuche, wie sie unter den Ministerpräsidenten Mikulic und Markovic ins Werk gesetzt wurden, den schwelenden regionalen Gegensätzen eine neue Qualität verliehen und das gesamtjugoslawische Staatswesen zur Implosion brachten, vergaßen die westlichen Beobachter mit einem Mal alle Zusammenhänge, die ihnen bis dahin geläufig waren.

Der Sieg des Spaltungsnationalismus wurde zum deus ex machina.

Die Grausamkeiten des Krieges befestigten das sekundäre Unverständnis. Weder auf der Mikro- noch auf der Makorebene darf der eigentlich ja naheliegende Verdacht anklingen, die jugoslawische Katastrophe könne in irgendeinem inneren Zusammenhang mit den vorangegangenen Modernisierungsversuchen stehen und a posteriori etwas über diese aussagen. Was die subjektive Seite angeht, so wird konsequent darüber hinweggesehen, daß die Männer, die in Bosnien oder anderswo ihre ehemaligen Nachbarn massakrieren und die Lebensgrundlagen jeder Gesellschaft zerstören, sich von den glorreichen freien und gleichen westlichen Konkurrenzsubjekten kaum unterscheiden. Die entsetzten Zuschauer wollen nicht wahrnehmen, daß der gleiche mühsam ansozialisierte psychische Apparat, der sie instand setzt, auf dem freien Markt als Manager ihrer Arbeitskraft zu reüssieren, unter gewissen Umständen bestens zu einer Karriere als Killer und Amokläufer befähigt.

Genausowenig, wie es nach dem Ebenbild der Moderne geschaffene Menschen sein dürfen, die die balkanischen Untaten vollbringen, darf aber der wildgewordene Ethnonationalismus insgesamt als ein von der Logik der Moderne selber gehecktes und durch den Kollaps nachholender Modernisierung freigesetztes Spaltprodukt erkannt werden. Auch wenn sie zeitlich koinzidieren: der fatale Endsieg von Marktwirtschaft und Demokratie und die Selbstvernichtung der jugoslawischen Gesellschaft müssen vollkommen verschiedenen historischen Zusammenhängen angehören. Der Versuch, die Verwandtschaft zwischen der Moderne und ihren ungeliebten ethnonationalistischen Kindern zu eskamotieren, läßt auch das verblichene Titojugoslawien ex post in einem neuen, recht freundlichen Licht erstrahlen. Der Selbstverwaltungssozialismus erscheint nicht als eine gesellschaftliche Formation, die in ihrem nachholenden Modernisierungsbemühen die nationalen Gegensätze immer wieder neu reproduziert hat, sondern als ein Intermezzo, das die schreckliche balkanische Neigung zur Selbstzerfleischung wenigstens eine Zeitlang sistieren konnte. Diese Anwandlung von Pietät mag überraschen, sie hat aber ihren guten Grund. Die Liebhaber von Demokratie und Marktwirtschaft gewähren der Asche des verblichenen sozialistischen Jugoslawien so generös Frieden, weil sie insgeheim schon ahnen, was eine kritische Aufarbeitung der jüngeren jugoslawischen Geschichte zutage fördern könnte und sie verleugnen müssen: Das Tor zur Marktwirtschaft, durch das Markovic und seine Reformer-Crew Jugoslawien ins demokratisch regulierte Waren-Arkadien führen wollte, war nur ein Wandgemälde, das einen unüberwindlichen Betonblock ziert. Die von den westlichen Demokraten vielbeklagte »Rückkehr des Nationalismus« hat nur eine Zukunft verbaut, die es nie gegeben hat. Wenn sich in Jugoslawien nationale Konflikte beharrlich wiederhergestellt haben, dann ist das weniger dem sozialistischen Vorzeichen geschuldet, unter dem die Moderne auf dem Balkan Einzug hielt, sondern vielmehr dem schließlich steckengebliebenen Vormarsch von Warenform und Staatlichkeit insgesamt. In Jugoslawien ist nicht nur die sozialistische Variante der Modernisierung gescheitert, sondern die Modernisierung überhaupt, und im nationalistischen Kampf geht es um nichts Atavistisches, sondern um etwas äußerst Zeitgemäßes, nämlich um die Ausschlachtung einer Modernisierungsruine.

Diese Ausgangsthese bestimmt den Aufbau der vorliegenden Arbeit. Die Darstellung konzentriert sich im wesentlichen auf das »titoistische Experiment« und sein schließliches Scheitern. Dabei geht es mir vor allem darum, klarzulegen, wie sich unter dem Titoregime die allgemeine Modernisierungslogik durchsetzte und auf welche unüberwindlichen Grenzen die junge jugoslawische Arbeitsgesellschaft und ihr Staat auf ihrem Entwicklungspfad stießen. Die jugoslawische Vorkriegs- und Weltkriegsgeschichte streife ich dagegen nur am Rande. Sie kommt in den Betrachtungen nur insofern vor, als das »sozialistische Jugoslawien« natürlich nicht voraussetzungslos im luftleeren Raum entstand, sondern sich nur als eine spezifische Reaktionsbildung auf die beim Marsch in die Moderne in Südosteuropa gegebene besondere Ausgangsposition begreifen läßt.

Für den Hauptteil sind zwei Fragestellungen zentral. Zum einen untersuche ich, warum und wie der gesamtjugoslawische Modernisierungs- und Formierungsprozeß auf der Basis von Selbstverwaltungssozialismus und Einparteienherrschaft mit den für jede Waren- und Arbeitsgesellschaft charakteristischen Konkurrenzgegensätzen auch harte Konflikte zwischen den Teilrepubliken immer wieder neu erzeugte. Zum anderen widme ich mich der Frage, warum mit dem Konkurs der jugoslawischen Sozialismusvariante der jugoslawische Gesamtstaat untergehen und die Erneuerung Jugoslawiens auf einer post-sozialistischen Grundlage so jämmerlich mißlingen mußte. Ausgehend von der These, daß Titojugoslawien nicht nur das erste moderne Staatsgebilde in diesem Teil des Balkanraums gewesen ist, sondern auch keine anderen lebensfähigen Nationalstaaten an seine Stelle treten werden, widme ich mich im letzten Abschnitt der politischen Ökonomie des Bürgerkrieges. Ich versuche die Logik kenntlich zu machen, die der poststaatlichen Plünderungswirtschaft in den Nachfolgestaaten Ex-Jugoslawiens zugrundeliegt. Gerade dieser Problemkreis weist über die südosteuropäischen Verhältnisse hinaus und hat paradigmatische Bedeutung. Titojugoslawien hat, solange es existierte, nie den allgemeinen Modernisierungspfad verlassen. Die aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgegangenen Spaltprodukte wiederum nehmen nur auf ihre Weise das Schicksal vorweg, das auch anderen Weltregionen im Kollaps der Moderne droht.