31.12.1999 

Der Mensch als Unternehmer seiner Arbeitskraft

Bildungsdiskussion zwischen Leistungswahn, Standortkonkurrenz und Individualisierung

Karl-Heinz Wedel

Dienstleister im Standortwettbewerb

An welchen Rädchen der gesellschaftlichen Maschinerie muß gedreht werden, damit die fleißigen und leistungswilligen »Unternehmer ihrer Arbeitskraft« herauskommen, wie sie sich die bayerisch-sächsische Zukunftskommission wünscht? Natürlich nicht zuletzt an den Rädchen des Bildungssektors. Denn schließlich müssen die potentiellen Arbeitssubjekte ja mit den erforderlichen Qualifikationen und, wichtiger noch, mit den notwendigen Erfolgsphantasien ausgestattet sein, wenn sie sich in Zukunft »selbst bewirtschaften« und »managen« sollen. Alle »Bildungsreformen« der letzten Jahre liefen im Kern darauf hinaus, und weder die Studierenden noch die pädagogischen Funktionsträger hatten daran ernsthaft etwas auszusetzen. Im Gegenteil. Unter den als unabänderlich hingenommenen Bedingungen globalisierter kapitalistischer Konkurrenz, struktureller Massenarbeitslosigkeit, zunehmender sozial-ökonomischer Verelendung und im Zeichen gekürzter Bildungsetats ist die tatsächliche oder behauptete Verwertbarkeit von Wissen längst zum einzig anerkannten Legitimationsargument geworden.

Nicht das Entwickeln von persönlichen Neigungen und Interessensschwerpunkten, nicht die Möglichkeit, sich reflexiv mit selbstgesetzten Themen eingehend auseinanderzusetzen, sondern die bedingungslose Herrschaft des abstrakten betriebswirtschaftlichen Nutzendenkens prägt spätestens seit Ende der Achtziger den Horizont der Bildungsdiskussion. Die leisen Stimmchen des linken Veteranentums mit ihrem ewigen Sermon von Chancengleichheit in der »Informationsgesellschaft«, also der Forderung nach gleichen Bedingungen an den Startblöcken des Arbeitsmarktes, sind im Getöse der neoliberalen Krisenverdrängung und -verwaltung kaum noch vernehmbar. Der Streit um pädagogische Inhalte und bildungstheoretische Konzepte in der fundamentalen Krise der Arbeitsgesellschaft ist davon bestimmt, daß es unmöglich ist, diese noch irgendwie emanzipatorisch zu besetzen.

Deutlich zeigte dies der Studierendenstreik von 1997/98, in dem letztlich nichts anderes gefordert wurde als bessere persönliche Bedingungen in der Vorbereitung auf die Schlacht im Konkurrenzuniversum der modernen Arbeitssubjekte. Zwar hat schon die 68er-Bewegung diese Konsequenz enthalten und im übrigen ein gut Teil dazu beigetragen, das flexibilisierte Konkurrenzindividuum des voll durchgesetzten Kapitalismus herauszubilden, aber das hatte noch einen gewissen Widerstandsreflex gegen die Zumutungen der durchrationalisierten Waren- und Arbeitsgesellschaft. Von diesem überschießenden Moment ist bei der Studierendengeneration der 90er Jahre nichts mehr übriggeblieben. Analog zu den Arbeiterdemonstrationen für die eigene Verwertung (»Wir sind das Kapital«) nahm auch hier paradoxerweise die Unterwerfung die Form des Protests an, ein Protest, der sich nicht etwa gegen die Zurichtung für den deregulierten Arbeitsmarkt richtete, sondern im Gegenteil eine adäquate Zurichtung einklagte. Genau die können aber die Massenuniversitäten nicht mehr bieten. Forderungen nach mehr »Kreativität«, »Teamfähigkeit«, »Kommunikationskompetenz« usw. brechen sich an den erstarrten Strukturen und den schrumpfenden Etats, und die vielbeschworenen Schlüsselqualifikationen sind an den Hochschulen einfach nicht zu erwerben.

Nur wegen ihrer blinden Fixierung auf die kapitalistischen Kriterien und Funktionsmechanismen erhielten die »ganz normalen jungen Leute« von allen Seiten Beifall und Zustimmung. Von Hundt und Co. über die Professorenschaft und die Massenmedien bis zu den Politikern jeder Couleur findet eben das bürgerliche Bewußtsein nichts sympathischer und anerkennenswerter als die bedingungslose Unterwerfung unter die Systemgesetze der »zweiten Natur«. Um so besser, wenn diejeni gen, die sich erst noch auf ihre Verwertung vorbereiten, diese Unterwerfung schon offensiv praktizieren und jede Wissens und Kompetenzaneignung nur noch unter dem Aspekt der spä teren Markttauglichkeit beurteilen. Dieser grauenhaft banale Tatbestand darf aber nicht als solcher ausgesprochen werden, sondern geht als blinde Voraussetzung in die aktuelle »Bildungsdiskussion« ein und wird, wenn auch mit immer hohle ren Phrasen, doch noch irgendwie schönzureden versucht. »In einer Zeit, in der Maschinen und Computer uns immer mehr die anspruchslosen Arbeiten abnehmen, wird für das Unternehmen der Zukunft Persönlichkeitsbildung, Phantasie, Kreativität, geistige Beweglichkeit und Einfühlungsvermögen im mer wichtiger. Künstlerische Bildung wird dabei eine immer bedeutendere Rolle spielen« (Die Deutsche Schule, im folgen den DDS, H.9/10/ 1998, S. 12). In dieser Manier versucht ein Kunsterzieher die wohl zweifelhafte betriebswirtschaftliche Nützlichkeit seines Faches glaubhaft zu machen. Denn im um fassenden Verwertbarkeitswettbewerb besteht eben nur, wer sei nen Teil zur »Standortsicherung« Deutschlands auf dem Weltmarkt beiträgt oder dies zumindest simulieren kann.

Der Slogan »Bildungspolitik ist Standortpolitik« im letztjährigen Uni-Streik drückt diesen vorauseilenden Gehorsam der angehenden Humankapitalträger treffend aus, die sich ausgerechnet vom damaligen deutschen Bundespräsidenten Herzog inspirieren ließen. »Roman, hier ruckt’s« war das Motto nicht nur der Darmstädter Studierenden. »Herzogs Grundsatzrede zur Bildungsreform hängt an Stellwänden, Zitate daraus wehen auf Bannern am Darmstädter Schloß. …>Wissen ist heute die wichtigste Ressource in unserem rohstoffarmen Land<« (Die Zeit, 49/97, S. 2). Sich pragmatisch und unverkrampft als Ressource für die Verwertung benützen zu lassen, das ist wohl die letzte Mission der ach so unideologischen und vielversprechenden Studierendengeneration. Wie die ohnehin nicht mehr bewußt reflektierten gesellschaftlichen »Naturgegebenheiten«, Arbeit, Ware, Geld, Konkurrenzindividualität usw., so setzt sie auch den High-Tech-Verwertungsstandort immer schon vor aus; ganz nach der Devise des Bundesbeauftragten für Hochschulmarketing(!) Huber: »Die deutschen Hochschulen fit machen für den internationalen Markt« (Die Zeit, 7/99, S. 72). Auch vorgeblich kritische Stimmen gegen den Stopp des Bildungsabbaus argumentierten konsequenterweise mit dem Standortfaktor, ganz einfach, weil sie den kapitalistischen Bezugsrahmen nicht in Frage stellen wollen: »Wenn Standort-Politik irgendeinen guten (!) Sinn haben soll, dann muss sie die Infrastruktur der Gesellschaft stärken, an erster Stelle das Bildungswesen« (E. Spoo in DDS H.7/8 1998, S. 12). Die immer wieder eingeklagte Chancengleichheit gilt allerdings nur für den nationalen Bezugsrahmen; das Niederkonkurrieren der Weltmarktgegner wird billigend in Kauf genommen. Wie allumfassend der Standortfetischismus mittlerweile geworden ist, macht beispielsweise auch dieser GEW-Kommentar deutlich: »Von >Globalisierung< und vom >Standort Deutschland< war vor sechs Jahren noch nicht die Rede. Inzwischen hat sich diese Rechtfertigungsideologie für die Haltung >Jeder-ist-sich-selbst der-nächste< erfolgreich durchgesetzt. Welche Gewerkschaft in Deutschland sieht nicht ihre allererste Aufgabe darin, unseren Standort gegen den Rest der Welt zu verteidigen. Wenn wir nicht aufpassen, nehmen uns die >anderen< die Arbeitsplätze weg« (DDS H.9/10/1998, S. 33).

Elite und Selbstunternehmertum

Diese Beschwörung des gemeinsamen Standortinteresses bricht sich freilich an den verschärften Anforderungen der Marktkonkurrenz, denen sich auch die Universitäten nicht entziehen können: Studiengebühren sollen den Durchsatz erhöhen und zusammen mit Stellenkürzungen die Kosten mindern, der Wettbewerb zwischen den Unis und die Elitebildung sollen die Leistung und den Output steigern. »Unser eigentliches Ziel ist es, unsere Uni zu einem fortschrittlichen Dienstleister zu machen« (Sixt, Pressesprecher der Uni Mannheim, ebd.). Daß solche hochfliegenden Konzepte, die schwerfälligen Bürokratietanker in flexible Dienstleistungsschnellboote umzubauen, letztlich scheitern müssen, ist zwar absehbar (man besichtige nur einmal die »Einkaufsparadiese« der modernen Postschalterstuben). Dennoch bestimmen sie zunehmend die Atmosphäre an den Universitäten. War in den 70er und 80er Jahren das studentische Denken über die berufliche Zukunft angesichts schlechter Karrierechancen eher von positiv besetzter Unbestimmheit geprägt, so hat sich mittlerweile, je prekärer die Arbeitsplatzperspektiven wurden, eine Haltung des Mitmachens um jeden Preis durchgesetzt. Wesentlich dafür ist, neben dem kaum noch in Frage gestellten Elitedenken, ein ungeheurer Selbständigkeits- und Selbstverantwortungsfetischismus. Ist der Weg zu einer gesicherten Berufskarriere verbaut, fabulieren sich die dynamischen Jungakademiker mit »innovativen« und »vielversprechenden« Geschäftsideen eben ihr erzwungenes Elendsunternehmertum als Aufbruch zur neuen Dienstleistungsgesellschaft zurecht. Soziale Polarisierung, Selektion und Elitebildung können jetzt offen mit »Sachzwang« gerechtfertigt werden, wie die medialen Kommentatoren des Uni-Streiks anerkennend vermerkten: »Wir hatten es also mit einem wahrhaft staatsbürgerlichen Begehren zu tun. Dem Drängen nach einer besseren Ausbildung der zukünftigen Akademiker dieses Landes … Wir müssen uns heute eingestehen, dass eine tatsächliche Chancengleichheit in der Bundesrepublik nicht zu verwirklichen ist. Das ehrenwerte Ziel, allen Ausbildungswilligen vergleichbare Bedingungen für den Erwerb von Bildung und Ausbildung zu bieten, muss gegen das lebenswichtige Ziel abgewogen werden, unserem Gemeinwesen eine gutausgebildete und einsatzfähige Elite zur Verfügung zu stellen« (Die Zeit, 16/ 98,S. 15).

Dem Gott dieses Gemeinwesens, der Arbeit, muß eben bedingungslos geopfert werden. Und da in Zeiten der High-Tech-Verwertung immer weniger Arbeitsmonaden in den produktiven Kernsektoren des Weltmarkts nötig sind, muß die stattfindende Selektion und die damit einhergehende soziale Hierarchisierung schöngeredet werden. Das liest sich dann so: »Wenn wir uns als Bildungsziel darauf verständigen können, junge Menschen auf ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung vorzubereiten, reicht dafür kein >Laissez-faire<, sondern wir müssen schon auch deutlich machen, dass Freiheit anstrengend ist, weil eben jeder die Ergebnisse seiner Freiheit zunächst selbst verantworten muss. Kurz: Wir brauchen eine neue Kultur der Selbständigkeit und Verantwortung!« (Roman Herzog, Aufbruch in der Bildungspolitik, in Rutz (Hg.) 1997, S. 19). Hierin liegt die eigentliche Aufgabe der angestrebten »Bildungs«offensive. Es geht nicht nur darum, das High-Tech-Humankapital besser auf seine Verwertung vorzubereiten, vor allem soll die auf sich selbst zurückgeworfene und isolierte Existenzweise der Arbeits- und Marktindividuen positiv umgedeutet werden. Sie sollen anspruchslos jede Zumutung des Krisenkapitalismus hinnehmen und das Versagen ausschließlich bei sich selbst suchen. Dieser Anstrengung, die Krise zu individualisieren, gelten eine Vielzahl von Konzepten für den Bildungssektor. So schreibt etwa die Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen: »Zwar wird auch in absehbarer Zeit die Mehrheit der Erwerbsbevölkerung ganz oder teilweise abhängig beschäftigt sein. Doch darf das Leitbild des Arbeitnehmers nicht im bisherigen Umfang bewusstseinsprägend bleiben. Vielmehr ist das Leitbild der Zukunft der Mensch als Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinsvorsorge. Um sich diesem Leitbild zu nähern, muss der Staat die von ihm gesetzten Rahmenbedingungen so umgestalten, dass individuelle Initiative und Verantwortung geweckt und gefördert werden…. Von diesen Menschen gibt es – wie nicht zuletzt die Beschäftigungsprobleme und die Krise der Sozialsysteme zeigen – zu wenige. Ein wesentlicher Grund hierfür ist, dass die Ausbildung in Schulen, Hochschulen und selbst Betrieben nicht hinlänglich von einer unternehmerischen Kultur geprägt wird. Unternehmerische Begabungen werden – wenn überhaupt – eher zufällig gepflegt und gefördert. Deshalb müssen künftig bei Schülern, Auszubildenden und Studenten gezielt Eigenschaften wie Selbständigkeit, Verantwortungsbewußtsein, Eigeninitiative und Leistungsbereitschaft entwickelt werden« (zitiert nach DDS H.11/12 1998, S. 5).

Dies ist das höchst offizielle neoliberale Leitbild, mit dem die fundamentale Krise des warenproduzierenden Systems auf das individuelle Versagen der Subjekte zurückgeführt und damit zum Verschwinden gebracht werden soll.

»>Qualifikation< macht den Arbeiter zu seinem eigenen Unternehmer, der Ausrichtung und Ausmaß seiner Qualifikation meistbietend verkaufen kann. Er belohnt freilich, adäquat zu den allgemeinen Erfolgsbedingungen des Marktes, Risiko, Mobilität, Wechselfreudigkeit und schnelle Anpassung« (Rank 1995, S. 205).

Verantwortlich für die Absatzprobleme der Ware Arbeitskraft soll nicht etwa die ins Unermeßliche gesteigerte Produktivität sein, sondern eine unterentwickelte »unternehmerische Haltung« der Arbeitssubjekte. Wer scheitert, ist also selber schuld, ganz nach dem Muster, mit dem schon der Zusammenbruch einer ganzen Weltregion, der staatssozialistischen Abteilung der Arbeitsgesellschaft, und das Scheitern der dortigen ökonomischen Reformen »erklärt« wurde. Freilich muß dieses Muster, so sehr es auch dem gesunden Menschenverstand entsprechen mag, gerade in der Ausbildungsphase als notwendige Orientierung für den späteren Verwertungswettbewerb ausreichend vermittelt werden. So werden etwa die Studierenden der Universität Oldenburg mit den Worten begrüßt, sie hätten neben dem Privileg des Studiums »auch das Recht auf Scheitern, das Recht, erfolglos zu sein … erworben, und es ist kein geringes Privileg, damit von Anfang an umgehen zu können« (Daxner 1996, S. 283). Bei den Angesprochenen stoßen solche Unverschämtheiten nicht etwa auf Widerstand, sondern sie fühlen sich allenfalls in dem bestätigt, was sie als objektiv gegeben hinzunehmen sich schon angewöhnt haben: »Da erlerntes Wissen schnell wieder veraltet und sich dieser Trend in Zukunft vermutlich noch verstärken wird, gewinnt die Fähigkeit, sich selbständig Kenntnisse anzueignen, mehr und mehr an Bedeutung. Eine Umstrukturierung der Verwaltung reicht also nicht aus, um besser auf die Berufswelt vorzubereiten. In den Schulen muss die Vermittlung von Selbständigkeit und Verantwortungsgefühl an erster Stelle stehen. Wenn man sich auf dieses Ziel der Persönlichkeitsbildung konzentriert, ist einiges aus den Lehrplänen zu streichen« (Schüler eines Deutsch-Leistungskurses, 12. Klasse, nach Rutz 1997, S. 274).

Das Subjekt als Planungsbüro der »Risiken«

Die Vorstellung, das (Arbeits)-Schicksal immer nur selbst in der Hand zu haben, stellt nicht bloß den gemeinsamen Nenner von Bildungs»reformern« und Studierenden dar. Dem gesunden bürgerlichen Menschenverstand insgesamt erscheint die rein individuelle Verantwortlichkeit für das Gelingen oder Versagen des Selbstunternehmertums als Phantasma der persönlichen Autonomie. Dieses durchaus als Verblendung zu charakterisierende »Bewußtsein«, das die Illusion gebiert, jeder könne sich am eigenen Schopf in eine erfolgreiche Berufswelt ziehen, verweist allerdings auf eine durchgängige gesellschaftliche Struktur.

Die Menschen werden immer schon als einzelne und getrennt vom gesellschaftlichen Ganzen in die kapitalistische Welt »geworfen«. Diese abgetrennte Existenz, fern davon ein »Naturzustand« zu sein, hat ihre Ursache allein in der paradoxen Form der gesellschaftlichen Vermittlung zwischen den Individuen. Der gesellschaftliche Zusammenhang wird im warenproduzierenden System der Moderne über Verausgabung von Arbeitskraft in betriebswirtschaftlichen Prozessen der Kapitalverwertung hergestellt. Auch wenn die einzelnen dabei über die gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung auf der stofflichen Ebene in höchstem Maße miteinander verknüpft sind, bricht sich dies doch an der abstrakt-privaten Form der Verrnittlung. Denn die Kapitalverwertung und also auch die Verausgabung von Arbeitskraft vollziehen sich immer in Form der Privatheit. Das Verrückte ist, daß sowohl die Produktionseinheiten als auch die Individuen in einem historisch einmaligen Maße vergesellschaftet (und das heißt: vollkommen aufeinander angewiesen) sind, sie aber gleichzeitig isoliert voneinander und von ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang existieren, der sich als fremde und bedrohliche Macht hinter ihrem Rükken nach den Funktionsgesetzen der Verwertung und der Marktkonkurrenz herstellt. Der Liberalismus hat dieses verrückte gesellschaftliche Verhältnis (das Kant mit dem treffenden Begriff der »ungeselligen Geselligkeit« belegt) schon zu Beginn der Modernisierung naturalisiert, indem er es auf den angeblich anthropologisch verankerten Wolfscharakter der menschlichen Konkurrenzbestie zurückführte. Der neoliberalen Ideologie vom Selbstunternehmertum wächst gerade aus dieser »stillen« Voraussetzung und scheinbaren »Natur«-Gegebenheit ihre Plausibilität und »Reform«kraft zur angeblichen Lösung der gesellschaftlichen Krise zu. Solange nämlich die gesellschafliche Vermittlung keine direkte, auf bewußter Kommunikation beruhende ist, solange die Güter von Einzelproduzenten als Waren für einen anonymen Markt hergestellt werden, solange erscheint dem Bewußtsein in seiner Unmittelbarkeit die isolierte Daseinsweise der Individuen als gänzlich naturwüchsiger Zustand.

Dieser Zustand produziert allerdings auch eine fundamentale Verunsicherung (wie es das Diktum »homo homini lupus« im Grunde schon ausdrückt), weil die vereinzelten einzelnen ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang als einer fremden subjektlosen Macht ausgeliefert sind. In der Geschichte des bürgerlichen Bewußtseins hat sich gerade diese Tatsache immer wieder als Bedürfnis nach Klärung und Transzendenz ausgedrückt. In der philosophischen Reflexion über das Verhältnis von Subjekt und Objekt beispielsweise läßt sich die theoretische Verarbeitung der gesellschaftlichen Dualität von isoliertem Individuum und fremder, bedrohlicher Außenwelt detailliert nachvollziehen. »Der Unsicherheit und Unfreiheit der äusseren Welt steht die Gewissheit und Freiheit des Denkens als einzige noch verbleibende Machtbasis des Individuums gegenüber« (Marcuse 1936, S. 6). Die nur als entfremdet erlebbare äußere Macht der kapitalistischen Selbstläufigkeit und der bedrohlichen Objektwelt findet also ihre Entsprechung im Rückzug der Subjekte in sich selbst. Nur hier ist scheinbare Sicherheit vor der Übermacht der Außenwelt zu finden. Schon bei Descartes war die Selbstvergewisserung und Selbstbegründung des Subjekts in seinem Denken von angstvollen Zweifeln gegenüber der fremd wirkenden Welt des Außen begleitet, in der sogar der »allgütige Gott« zur Quelle der Unsicherheit und Täuschung wird. »Ich will glauben, Himmel, Luft, Erde, Farben, Gestalten, Töne und alle Außendinge seien nichts als das täuschend Spiel von Träumen, durch die er (Gott) meiner Leichtgläubigkeit Fallen stellt« (Descartes 1996, S. 39ff).

Die Herausbildung der Warengesellschaft zum selbstläufigen Fetischsystem, das den Individuen als objektiver Zwang gegenübertritt, verwies diese also von Beginn an auf sich selbst und nur auf sich selbst. Zugleich schuf die Trennung und Abstraktion vom Gesellschaftsganzen das Bedürfnis nach Einbindung und Unterordnung unter Kollektividentitäten (Nation, Klasse, Volk, Ethnie, Geschlechter etc.), die sich allerdings im Laufe der historischen Entwicklung immer weiter ausdifferenzierten und zersetzten. Denn zum Wesen des Kapitalverhältnisses gehört, daß es die Menschen nicht in ein festes Kristall von ewigen Bestimmungen einschließt. Da es gerade in Zeiten der ökonomischen und sozialen Krise stetige Unrast und Umwälzung produziert, reißt es auch die Individuen beständig aus bestehenden sozialen Verhältnissen heraus. In der »Emanzipations«-Bewegung der Arbeiter beispielsweise waren die isolierten Einzelarbeitssubjekte noch aufgehoben in der Gesamtidentität der Arbeiterklasse. Spätestens seit der Gegensatz von Arbeit und Kapital seine überschießenden emanzipatorischen Momente verloren hat und die Arbeit überhaupt obsolet wird, ist diese Identität prekär geworden.

Die Krise der Arbeit und die damit verbundende Auflösung der relativ stabilen fordistischen Arbeitsverhältnisse führte denn auch in den letzten Jahrzehnten zu einer zunehmenden sozialen Desintegration. Erst auf diesem Boden der »reifen« Arbeitsgesellschaft kann das neoliberale Leitbild des Menschen als Unternehmers seiner Arbeitskraft in breitem Maßstab plausibel gemacht werden. Und das immer schon vorhandene Strukturmerkmal der Subjekte im Kapitalismus, die isolierte Monade, wird nun zum positiven Bezugspunkt der individuellen Selbstzurichtung. Was vor zwanzig oder dreißig Jahren noch als undenkbar oder als bloße Ideologie erschienen wäre, ist für die postmodernen Flexi-Subjekte heute schon fast in den Rang einer Selbstverständlichkeit aufgestiegen. In den Begrifflichkeiten eines Ulrich Beck werden diese Entwicklungen denn auch positiv als Individualisierungs- und Pluralisierungschancen umgedeutet. Doch die dabei immer schon als vom gesellschaftlichen Zusammenhang getrennt vorausgesetzten Subjekte, die angeblich so großartige Spielräume der »Gestaltbarkeit von Lebens- und Arbeitsformen« besitzen, sehen sich zunehmend mit der Kehrseite dieser Chancenfabuliererei konfrontiert, nämlich den zu »Risiken« der »neuen sozialen Unsicherheiten und Ungleichheiten« (Beck 1986, S. 225/226) verharmlosten Krisenfolgen. So gilt es denn nun, die Individuen für den Umgang mit diesen angeblich unvermeidlichen »Risiken« des Systems auszustaffieren. Kein Wunder also, daß die Sozialisationsabteilung Ausbildungswesen besser auf die verschärften Bedingungen im sozialen Konkurrenzkampf vorbereiten soll. »Will man aus den Paradoxien der Moderne … für das Bildungssystem eine konstruktive Perspektive ableiten, dann zunächst die, dass unser Bildungssystem in allen seinen Bereichen auf den kompetenten und verantwortlichen Umgang mit Unsicherheit (!) und Komplexität vorzubereiten hat. Offenbar hat die Mehrheit der Jugendlichen erkannt, dass – wie es Ulrich Beck ausdrückte – der einzelne bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung zu lernen habe, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro bezüglich seines eigenen Lebenslaufs, seiner Arbeitstätigkeit und Orientierung zu begreifen. Doch nur relativ wenige sind in der Lage, diese Einsicht ohne entsprechende Aus- und Weiterbildung auch tatsächlich umzusetzen« (Kutscha, Gew. Bildungspolitik, H. 5/6 1998, S. 7). Erst in der Zuspitzung der kapitalistischen Krise wird offenbar, was die ChancenBeckerei im Prinzip schon immer war: eine Krisen- und Bewältigungsstrategie für die »reflexiv« zu Ende gehende Moderne. Was in den 80er und frühen 90er Jahren mit ihrem kasinokapitalistischen Hintergrund und ihrer »Chancenorientierung« auf den Warenkonsum noch als etwas unangenehme und in Kauf zu nehmende Begleiterscheinung formuliert werden konnte, wird nun konsequent dem »Planungsbüro« Einzelsubjekt als natürlich nur individuell zu bewältigende »Unsicherheit(( und Herausforderung auferlegt. Das Obsoletwerden der abstrakten Arbeit, also des Fundaments der kapitalistischen Verwertung, und die daraus folgende gesellschaftliche Krise wird so zum persönlichen »Risiko« der vereinzelten einzelnen umdefiniert.

Arbeiten am Arbeitsvermögen

Bei der vermeintlichen »Lösung« der sozialökonomischen Krisenerscheinungen durch das Selbstunternehmertum werden die »Risiken« auf den ersten Blick gleichgeschlechtlich verteilt. Die Zumutungen richten sich also nicht nur an die männlichen Arbeitssubjekte, sondern die Frauen werden als »Unternehmerinnen ihrer Arbeitskraft« scheinbar gleichberechtigt behandelt. Scheinbar, weil deren gleichzeitige Verantwortlichkeit für die Tätigkeiten in der abgespaltenen privaten Sphäre dabei immer wie selbstverständlich vorausgesetzt ist. Insofern reproduziert auch die aktuelle Krisenverwaltungsstrategie die grundsätzliche patriarchale Strukturiertheit des Kapitalismus, die sich in der Abspaltung »weiblich« eingeschriebener Eigenschaften (Sinnlichkeit, Emotionalität, Fürsorglichkeit, Empathie etc.) vom »männlichen« Konkurrenzindividuum und der Delegierung entsprechender Zuständigkeiten (für Haushalt, Kindererziehung und -betreuung etc.) an die Frauen ausdrückt.

Für die Frauen bedeutet diese Form der »Emanzipation«, daß sie Selbstunternehmertum und Privatsphäre unter einen Hut bekommen müssen. Wie weit diese Einstellung schon in das feminine Massenbewußtsein eingesickert ist, belegen die Veröffentlichungen der Zentralorgane des gesunden Hausfrauenverstandes: »Sie werden – ebenso wie die meisten Väter – vieles von der Entwicklung Ihrer Kinder nicht miterleben. Einfach weil Sie nicht immer zu Hause sind. Auch auf andere schmerzliche Erfahrungen müssen Sie sich einstellen: Spätestens wenn Ihr Sohn vom Sitzenbleiben bedroht ist oder Ihre Ehe kriselt, sind Sie und Ihr >egoistischer Karriere-Trip< in den Augen der anderen schuld daran« (Brigitte spezial 2/98, S. 74). Also: Die »Frauen von heute« sollen sich mit ihrer Zuständigkeit für Emotionalität und Restfamilienglück abfinden, nur daß sich zur traditionellen Rolle als mehr oder weniger liebevolle Hausfrau und Mutter nun eben noch die famose Chance gesellt, die eigene Arbeitskraft »selbstbestimmt« zu managen und zu gestalten.

Bei der Verwirklichung dieses Selbstunternehmerlnnentums spielt der Fort- und Weiterbildungsbereich eine wichtige Rolle, weshalb sich dessen Inhalte und Strukturen in den letzten Jahren dementsprechend ausgerichtet und verändert haben. Ein wesentlicher Aspekt ist auch hier die Individualisierung der Verantwortung. Sorgten im fordistischen Normalarbeitsverhältnis im allgemeinen die Unternehmen für die Fortbildung des »Humankapitals«, so fällt nun diese Anforderung an die einzelnen Subjekte zurück. Von der Verkäuferin über den Facharbeiter bis zum Spitzenmanager: Sie alle müssen als selbständige Arbeitsverausgabungseinheiten immer auf dem aktuellsten technologischen und sozialkommunikativen Wissensstand sein. Daß die Konkurrenz bekanntlich nicht schläft, ist dabei durchaus wörtlich zu nehmen: »Wer sich nach Feierabend und am Wochenende weiterbilden will, muss bereit sein, im Privatleben eine Weile zurückzustecken. Für Familie und Freunde bleibt nicht mehr soviel Zeit wie bisher, Müdigkeit, Motivationskrisen sind ständige Begleiter. Und: vor Prüfungen wird’s besonders hart. Doch die Anstrengung zahlt sich später meistens aus« (Brigitte, S. 50). Für das moderne Individualunternehmen haben sich die Maschinenlaufzeiten eben geändert. Konnten früher nach der Schicht die Maschinen runtergefahren werden, so müssen nun Zusatzaggregate wie Computerkurse, Sprachunterricht und BWL-Seminare angebaut werden. Entsprechend verengt sich auch das Angebot von Bildungseinrichtungen in diesem Bereich: »Die öffentlichen oder öffentlich geförderten Träger gehen … immer mehr dazu über, ihre Angebote nach dem Kriterium der Verwertbarkeit auf dem Markt zu konzipieren und ins Programm zu nehmen. Das sind v. a. solche, die den potentiellen TeilnehmerInnen entweder höhere Chancen der Vermarktung ihrer Arbeitskraft bieten (zur Zeit z. B. EDV-Kurse aller Art) oder dem psycho-hygienischen und körperlichen Wohlbefinden dienen (hierzu z. B. Kurse zu unterschiedlichen Meditationsformen, aber auch die beliebten Sprachkurse, um sich für die große Reise ins Ausland zu präparieren.)« (DDS, H. 7/8 1997, S. 4f.).

Doch nicht nur für das aktuellste Know-how sind die einzelnen individuell verantwortlich. Angesichts der Krise der Arbeit und der damit verbundenen Perspektivlosigkeit, ihr Arbeitsvermögen überhaupt noch verkaufen zu können, fällt es auf sie selbst zurück, sich eine Nachfrage zu schaffen, also als »Unternehmer ihrer Arbeitskraft« oder als Kleinstunternehmer zu agieren: »… immer mehr der rund vier Millionen Beschäftigungslosen (versuchen) mit der eigenen Firma dem perspektivlosen Arbeitsmarkt zu entkommen versuchen« (Zeitpunkte 1/97, S. 30). Kein Wunder also, daß allerorten eine »neue Gründerzeit« (Existenzgründermessen, Gründungsoffensiven usw.) erfolgreich propagiert werden kann und daß die neoliberalen Krisenpragmatiker und marktwirtschaftlichen Chancenpropagandisten frohlocken. »Einen Arbeitsplatz zu fordern ist leicht. Schon schwieriger ist, ihn angemessen auszufüllen. Doch am schwierigsten ist, ihn zu schaffen. Die künftige unternehmerische Gesellschaft wird das massenhaft hautnah erfahren« (Kommission für Zukunftsfragen … 1997, S. 36). Endlich darf und kann der kapitalistische Mensch und »Unternehmer seiner Arbeitskraft« seine »Arbeits- und Lebensformen« selbstbestimmt gestalten – was dummerweise nichts anderes heißt, als sich dem zugespitzten Diktat der Marktkonkurrenz zu unterwerfen, unter der Maßgabe des Überflüssigwerdens dieser Arbeitskraft. Die vielen prekären Scheinselbständigen, Klitschen- und Elendsunternehmer erfahren es schon heute hautnah: »Wieckenberg (ehemaliger Banker und jetzt Wurstverkäufer, KW) selbst ist ein wenig blass um die Nase. Sein Tag beginnt um vier oder früher … Sechzig Stunden sind das Minimum in der Woche. Den 33jährigen ficht das nicht an, Jammern ist seine Sache nicht. >Wer etwas erreichen will<, sagt er, >muss auch etwas leisten<« (Zeitpunkte 1/97, S. 32).

Entscheidend ist zunächst gar nicht so sehr der wirtschaftliche Erfolg oder Mißerfolg der neoliberalen Krisenverwaltungsstrategie, sondern allein deren psychologische Wirkung und Verarbeitung durch die Individuen. Solange sie permanent damit beschäftigt sind, sich als »Unternehmer ihrer Arbeitskraft(( zu betätigen, werden sie kaum realisieren wollen, daß das System, auf das sie sich dabei beziehen, unwiderruflich zerbricht. So gelingt es der Warengesellschaft, wenigstens für eine Zeitlang, die bloße Form der wertförmigen Vermittlung zu wahren, obwohl deren Inhalt, die Arbeitssubstanz, obsolet wird und deshalb auch keine kohärente soziale Integration mehr gewährleisten kann. Anknüpfen kann sie dabei am subjektiv verinnerlichten, pathologischen Selbstzwang zur Arbeit. Die als vereinzelte einzelne konstituierten Individuen tauschen lieber ihre Normalarbeitsverhältnisse gegen eine prekäre Existenz als Selbstunternehmer, Kleinselbständige und Marktlückenmänner und -frauen ein, als die Kategorien und Imperative ihrer gesellschaftlichen »zweiten Natur« grundsätzlich in Frage zu stellen und sich mit den fundamentalen Ursachen der gesellschaftlichen Krise auseinanderzusetzen. Das System des Geldverdienenmüssens und des Arbeitszwangs wird damit nicht nur vorläufig weiter aufrechterhalten, mit dem Selbst- und Kleinstunternehmer betritt gerade am Ende der Arbeitsgesellschaft ein widerwärtiger Apologet und altbekannter Spießbürger die Bühne der Geschichte, um noch einmal das Loblied der Arbeit abzuleiern. Vom Bewußtsein, das diesen Typus auszeichnet, berichtet schon Max Weber in seinen Studien über die Durchsetzung der protestantischen Ethik in den puritanischen Sekten zu Beginn der Neuzeit. Genau diese dort analysierte rastlose Selbstverpflichtung gegenüber dem Gott der Arbeit ist es, die tragischerweise nun am Ende der kapitalistischen Moderne in säkularisierter Form eine Renaissance erlebt. Der Bildungsbereich ist dabei geradezu prädestiniert, die Individuen durch inneren oder äußeren Zwang in ständiger Bewegung zu halten, indem jedes Herausfallen als individuelles Versagen aufgrund angeblich mangelnder Qualifizierung und fehlenden Wissens erklärt wird. So können die einzelnen zwar nicht mehr mit ihrer Arbeitskraft arbeiten, doch ständig an ihr. Für Individuen, die sich dem Diktat der Warenform widersetzen und eine Perpektive jenseits von Arbeit, Ware, Geld und Kapital suchen, wäre es hingegen nur wichtig, etwas zu vermögen, ohne zu arbeiten.

Literatur

Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft, Frankfurt am Main Daxner, Michael (1996): Ist die Uni noch zu retten, Hamburg Descartes, Rene (1996): Philosophische Schriften, Hamburg Hank, Rainer (1995): Arbeit – Die Religion des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main

Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen (1997): Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland, Bonn Marcuse, Herbert (1936): Zum Begriff des Wesens, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang V, Heft 1

Rutz, Michael (Hg.) (1997): Aufbruch in der Bildungspolitik, München