Zur Sub- und inneren Kolonialgeschichte der Arbeitsgesellschaft
»Denn das Leben und die Zeit des Menschen sind nicht von Natur aus Arbeit, sie sind Lust, Unstetigkeit, Fest, Ruhe, Bedürfnisse, Zufälle, Begierden, Gewalttätigkeiten, Räubereien etc. Und diese ganze explosive, augenblickhafte und diskontinuierliche Energie muß das Kapital in kontinuierliche und fortlaufend auf dem Markt angebotene Arbeitskraft transformieren.« — Michel Foucault
Götz Eisenberg
»Mensch sein heißt Kämpfer, Arbeiter sein; köstlich wird unser Leben erst dann, wenn es Mühe und Arbeit gewesen ist«, heißt es in Emil Kraeplins Schrift »Zur Hygiene der Arbeit«, die 1896 erschien. 1883 schrieb August Bebel in »Die Frau und der Sozialismus«, einem der meistgelesenen Bücher der deutschen Arbeiterbewegung: »Der Sozialismus stimmt mit der Bibel darin überein, wenn diese sagt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen«, und Sartre stieß Ende der vierziger Jahre in Warschau auf Plakate, auf denen »Die Tuberkulose hemmt die Produktion« stand. »Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: der Hang zur Freude nennt sich bereits Bedürfnis der Erholung und fängt an, sich vor sich selber zu schämen«, stellt Friedrich Nietzsche in »Die fröhliche Wissenschaft« fest und erinnert daran, daß diese nahezu einhellige Wertschätzung der Arbeit neueren Datums und anderen Kulturen durchaus fremd ist.
Sie ist, genauer gesagt, bürgerlicher Herkunft. Mit dem Bürgertum steigt eine Klasse zur Herrschaft auf, die sich über Arbeit definiert und sich durch eine um Leistung zentrierte, methodische Lebensführung von der Aristokratie abgrenzt. Der soziale Narzißmus des Bürgertums beruft sich darauf, sauberer, anständiger, gebildeter und vor allem nützlicher, weniger korrupt und ausschweifend zu sein als der parasitäre und schmarotzende Adel. Sein Aufstieg ist mit einem enormen Zuwachs an Triebkontrolle, Selbstbeherrschung und kalkulierender Voraussicht verbunden. Die zwischen den Extremen schwanken den Affektlagen werden auf eine mittlere Linie gedämpft. Man hält an sich, nimmt sich zusammen und bemüht sich um Distinktion. Die aufsteigenden bürgerlichen Schichten praktizieren die Tugenden der Sparsamkeit, Askese und der Arbeitsamkeit nicht nur, weil Protestantismus oder Utilitarismus es ihnen nahelegen. Der Bürger beschneidet seine Bedürfnisse und unterwirft sich der »innerweltlichen Askese« (Weber), weil die Konkurrenz ihn bei Strafe des Untergangs zwingt, zu investieren und die Gewinne nicht unproduktiv zu verschwenden. Der Teil des Profits, der dem Konsum entzogen und reinvestiert wird, entspricht dem »verfemten Teil« (Bataille) des Bürgers.
Die Selbstdisziplin, die sich das Bürgertum auferlegt, schlägt um in und vollendet sich als Fremddisziplinierung. Aus der Härte gegen sich selbst leitet man das Recht, ja beinahe die Pflicht ab, unnachgiebig gegen die unproduktiven und lasterhaften Unterschichten vorzugehen: Die Unterschichten sind im Bürger anwesend in Gestalt seines Körpers und seiner Begierden. Denn die ihre Gelüste befriedigenden und faulenzenden Unterschichten verkörpern das, was der Bürger so mühsam und verbissen in sich niederhält. Der Puritaner und Arbeitsfanatiker Thomas Carlyle hat diesen Zusammenhang gesehen und den arbeitenden Menschen zu einem regelrechten Kreuzzug gegen den »Erzfeind Selbstsucht und Müßiggang« aufgerufen: »Was unmethodisch und wüste ist, wirst Du methodisch und urbar machen. Überall, wo Du Unordnung findest, da ist Dein ewiger Feind. Greif ihn rasch an und bezwinge ihn; mach Ordnung daraus, die nicht dem Chaos, sondern der Intelligenz, der Gottheit und Dir untertan ist. … Arbeit ist die Mission des Menschen auf dieser Erde. Es kämpft sich ein Tag herauf, es wird ein Tag kommen, an dem der, welcher keine Arbeit hat, es nicht für geraten halten wird, sich in unserem Bereich des Sonnensystems zu zeigen, sondern sich anderwärts umsehen mag, ob irgendwo ein fauler Planet sei. … Nicht >Waffen und der Mann<, >Das Werkzeug und der Mann< sollte heute unser Epos heißen. Was ist unser Werkzeug … anderes als Waffen, mit welchen wir die Unvernunft drinnen oder draußen bekämpfen … «
Der »faule Planet« wurde später in Auschwitz eingerichtet und trug über dem Eingangstor die Inschrift: »Arbeit macht frei«. Arbeit ist Krieg von Anfang an, ein Vernichtungsfeldzug gegen das »Unkraut« drinnen und draußen.
Das Umschlagen der Selbstdisziplin in Fremddisziplinierung verflocht sich mit dem Zwang, die Imperative der neuen bürgerlichen Produktionsweise durchzusetzen, und gab dem epochalen Projekt der inneren Kolonialisierung seine grausame Dynamik und Durchschlagskraft.
Der industrielle Kapitalismus braucht die Menschen als variables Kapital, als lebendiges Arbeitsvermögen. Es steckt nur zunächst in untauglichen Körpern und ist in traditionelle Lebensformen und Gewohnheiten eingebunden. Der deshalb eingeleitete Feldzug gegen die plebejischen Unterschichten ist, wie Marx schrieb, »in die Annalen der Menschheit eingeschrieben mit Zügen von Blut und Feuer«.
Es begann im 16. und 17. Jahrhundert damit, daß man gegen die Massen von Bettlern vorging, die der Zerfall der ständisch-feudalen Ordnung hervorgebracht hatte. Die traditionelle mittelalterliche Fürsorgesittlichkeit und Caritas geriet in Verruf: Die Leichtigkeit, mit der man ein Almosen erlangen könne, verleite zum Müßiggang und demoralisiere die Menschen. Man erließ Verordnungen gegen das Betteln und die Landstreicherei. Wer bei einer Razzia aufgegriffen wurde, wurde ausgepeitscht, kahl geschoren und über die Grenze abgeschoben. Im Wiederholungsfall drohten Brandmarkung (das Einbrennen eines Buchstabens in die Schulter), Folter, Verkauf auf die Galeere, Verstümmelung oder Hinrichtung. Hans-Ulrich Wehler schreibt in seiner »Deutschen Gesellschaftsgeschichte: »In dem kleinen bayrischen Rentamt Burghausen, das alles andere als ein zentraler Ort und kein Mittelpunkt des Gaunerunwesens war, wurden allein in der Spanne zwischen 1748 und 1776 1100 solcher Personen hingerichtet« (Wehler 1987, S. 176). Unterm Absolutismus ergänzte man diese Ausschlußmaßnahmen um Internierungspraktiken. Seit dem 17. Jahrhundert richtete man auch in Deutschland Zucht- und Arbeitshäuser ein, in die man die Vagantenbevölkerung einsperrte, um sie zur Arbeit anzuhalten und moralisch aufzurüsten. Während man spinnen, Holz raspeln oder Körbe flechten mußte, bekam man aus der Bibel oder frommen Traktaten vorgelesen. Die merkantilistische Wirtschaftspolitik des Absolutismus sah in einer fleißigen Arbeitsbevölkerung die beste Garantie für die Mehrung des nationalen Wohlstands und die Sicherung und Erweiterung der Einnahmequellen des Monarchen. Also brachte man die Manufaktur ins Zucht- und Arbeitshaus oder vermietete die Insassen an deren Leiter. Weil die Faulheit und der Müßiggang zur Sünde und zur absoluten Form der Revolte geworden waren, zwang man die Menschen mit aller Gewalt zur Arbeit. Im Amsterdamer Arbeitshaus sperrte man hartnäckige Faulenzer in einen Raum, der langsam voll Wasser lief. Der Inhaftierte konnte sich dann entscheiden: Entweder er ertrank, oder er begann kontinuierlich zu pumpen, das heißt zu arbeiten. Weitere Strafen waren: Kostschmälerung, Arrest, Fesselung, körperliche Züchtigungen mit Rute, Stock, Tauende oder Peitsche.
Mit physischer Gewalt zwang man die Menschen, ihre schädlichen Neigungen aufzugeben und Arbeit als Lebensinhalt zu akzeptieren (vgl. Marzahn o. J.; Geremek 1988; Foucault 1969; Rühle 1971; Sachsse/Tennstedt, 1986). Der Sozialdisziplinierung waren nicht nur die Insassen der Zucht- und Arbeitshäuser unterworfen, sondern tendenziell die ganze Bevölkerung, sofern deren Lebensweise und Arbeitsrhythmus quer lagen zu den Anforderungen der kapitalistischen Produktion. Diese benötigt die Menschen als Lohnarbeiter, deren Arbeitskraft der Unternehmer kauft, um sie möglichst produktiv zu nutzen. Kapital ist Herrschaft der toten Arbeit über die lebendige. Kommando über Zeit, Muskel, Hirn und Bewegung von Menschen, die als variables Kapital in seinen Verwertungsprozeß eingehen, wobei die Höhe der Profitrate davon abhängt, wie intensiv die vom Kapital gekaufte Arbeitszeit genutzt wird und wie geschickt man die lebendige Arbeit mit der Maschinerie kombiniert, die ihr den Rhythmus diktiert.
Die Imperative und Verhaltenszumutungen der Lohnarbeit, unabhängig von biologischen und klimatischen Rhythmen Tag für Tag dieselben monotonen Handgriffe zu wiederholen, pünktlich in der Fabrik zu erscheinen und sie nicht vor Feierabend zu verlassen, waren den vorindustriellen Menschen fremd. Ihr Leben folgte einem anderen Rhythmus und kannte die strikte Trennung von Arbeit und Leben noch nicht. Solange man überwiegend für den eigenen Bedarf produzierte, also Gebrauchswerte herstellte, herrschte ein aufgabenorientierter Arbeitsrhythmus und eine entsprechende Zeiteinteilung. Kontakt- und Geselligkeitsbedürfnisse mischten sich in die Arbeitsvollzüge ein und unterbrachen sie, der Arbeitstag verkürzte oder verlängerte sich je nach der zu erledigenden Aufgabe, zahllose Feste und Feiertage lockerten das Arbeitsjahr auf und sorgten für periodische Enthemmungen und Entregelung. Solange die Menschen für den Eigenbedarf produzierten, konnten sie ihren Arbeitsrhythmus weitgehend selbst bestimmen, und es herrschte »ein Wechsel von höchster Arbeitsintensität und Müßiggang« (E. P Tompson). Ein und derselbe Mensch ging im Laufe eines Tages ganz verschiedenen Tätigkeiten nach, deren Gesamtheit er wahrscheinlich trotz aller punktueller Mühsal und Plage nicht einmal als »Arbeit« empfand: Es war einfach seine Lebensweise.
Solange die menschlichen Tätigkeiten noch nicht der ökonomischen Rationalität unterliegen, schreibt Gorz, »fallen sie mit Zeit, Bewegung und Rhythmus des Lebens zusammen« (Gorz 1989, S. 156). Die Gebrauchswertproduktion kennt die Kategorie des »Genug«. Mehr zu produzieren, als man zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse benötigt, gilt als sinnlos und darüber hinaus als unmoralisch. Produktion und Tausch, wo er, wie im städtischen Zunfthandwerk, bereits vorkam, waren eingebunden in tradierte Vorstellungen vom richtigen Leben.
Aus der Perspektive des industriellen Kapitals waren das alles Borniertheiten, die es zu sprengen, von denen es sich im Namen schrankenloser Akkumulation zu emanzipieren galt. Während der ganzen Frühphase der Industrialisierung rissen die Klagen von Unternehmern über den »traditionalistischen Schlendrian«, über die Unbeständigkeit und die müßiggängerischen Neigungen der Menschen nicht ab. »Der Müßiggang ist in der Stadt wie auf dem flachen Lande so groß«, heißt es in einem Schreiben an den französischen Finanzminister Colbert, »daß es keine Kleinigkeit sein wird, die Leute zu geregelter Arbeit zu bewegen« (zitiert nach Rühle 1971, S. 59f.). Auch wenn man sie endlich in das Joch der Manufaktur oder Fabrik eingespannt hatte, konnte man keineswegs sicher sein, daß sie dort auch blieben und täglich wiederkamen. »In der Phase der ursprünglichen Akkumulation«, schreibt Hans-Jürgen Krahl, »kam es durchaus vor, daß Lohnarbeiter zu arbeiten aufhörten, wenn sie ausreichend verdient hatten, und den Rest des Tages oder der Woche versoffen, verspielten oder verhurten« (Krahl 1971, S. 76).
Den aus handwerklichen oder agrarischen Lebenszusammenhängen stammenden Menschen war die neue Arbeits- und Zeitdisziplin so zuwider, daß viele Fabrikanten sich außerstande sahen, Leute zu finden. Und wenn sie welche fanden, waren die Abwesenheitsquoten hoch; oft kündigten die Arbeiter nach wenigen Wochen bereits wieder oder verschwanden einfach. Die Unternehmer klagten über den nomadenhaften Wandertrieb der Arbeiter. »Einige Gruppen verweigerten sich der neuen Fabrikdisziplin en masse. Die Bauern der schottischen Highlands konnten nicht leicht dazu gebracht werden, den neuen Zeitrahmen zu akzeptieren. Ein Beobachter bemerkte: >Ein Highlander sitzt nie zufrieden am Webstuhl; es ist, als spannte man einen Hirsch vor den Pflug!<« (Rifkin 1988, S. 119). Die ersten Unternehmer verzweifelten daran, daß die Arbeiter keinerlei »Erwerbssinn« hatten und noch über einen Begriff vom »Genug« verfügten. Geld war, wie Freud bemerkte, nicht nur kein Kinderwunsch, es reizte auch den noch in Kategorien der moralischen Ökonomie denkenden Menschen nicht über ein gewisses Maß hinaus. Er dachte gar nicht daran, so Werner Sombart, »Geld und möglichst viel Geld zu verdienen. Er will nicht erwerben um des Erwerbens willen, sondern will gerade so viel erwerben, um davon in gewohnter Weise leben zu können. Er will nicht einmal immer besser leben. Hat er im Lohnverhältnis diesen Betrag erreicht, so denkt er nicht daran, weiter zu arbeiten, sondern er hört einfach zu arbeiten auf: das ist die Erfahrung, die alle Unternehmer, zu ihrem nicht geringen Leidwesen, bei der Beschäftigung unerzogener Arbeiter gemacht haben, die sie heute noch machen in allen Gegenden, in denen der Geist des Kapitalismus die Masse noch nicht erfaßt hat« (Sombart 1928, S. 426). Auch durch eine Erhöhung des Akkordlohns konnte man die Arbeiter nicht zu größerem Arbeitseifer anspornen. Die erste Arbeitergeneration hatte ziemlich starre Ansichten darüber, wann ein angemessener Lebensstandard erreicht war, und man zog ab einem bestimmten Punkt die Freizeit der Steigerung des Einkommens vor. Je höher der Lohn war, um so weniger mußte man leisten, um diesen Punkt zu erreichen (vgl. Landes 1973, S. 67; Weber 1969, S. 49f.).
Um dieser Form von Absentismus Herr zu werden, senkte man die Löhne auf ein absolutes Minimum, in der Hoffnung, daß das nackte Elend die Arbeiter in die Fabriken treiben würde. Damit nicht genug: In der Manufaktur oder Fabrik wachte ein strenges Fabrikreglement darüber, daß die Arbeiter auch wirklich arbeiteten und die vom Unternehmer gekaufte Zeit nicht reine Zeit war, sondern die einer produktiven Arbeitskraft. Man errichtete eine regelrechte »Diktatur der Pünktlichkeit« und eine »Mikrojustiz der Zeit« (Foucault). Zu spät Kommende wurden bestraft, es gab Geldbußen und Lohnabzüge für Bummelei und unerlaubtes Sichentfernen vom Arbeitsplatz, man führte die Fabriksirene ein, die Arbeitsbeginn, Pausen und Feierabend anzeigte. In englischen Industriestädten schrillte morgens um fünf Uhr eine Dampfpfeife, um die Leute aus dem Schlaf zu reißen. Mancherorts stellten die Unternehmer »Wachklopfer« an, die von Wohnung zu Wohnung gingen und mit Stangen an die Fenster der Arbeiterquartiere klopften. Einige dieser Wachklopfer zogen gar an Schnüren, die aus den Fenstern hingen und am Zeh des Arbeiters befestigt waren (vgl. Rifkin 1988, S. 120).
In Deutschland erhielten die Fabrikherren und Manufakturbesitzer mitunter vom jeweiligen Landesherren die niedere Gerichtsbarkeit, womit die Arbeiter dem Gesinde auf einem Gutshof gleichgestellt waren. H.-U. Wehler berichtet, daß es in süddeutschen Betrieben eine Art »Schandsäule« gab, an die Arbeiter angekettet wurden, die gegen irgendwelche Regeln verstoßen hatten. Als wirkungsvollste Methode, die neue Zeitdisziplin und einen regelmäßigen Arbeitsrhythmus durchzusetzen, erwies sich schließlich die Einführung der Maschinerie, die dem Arbeiter das Tempo diktierte und alle lebensweltlichen Beimischungen aus dem Arbeitsprozeß herauspreßte.
Außerhalb der Fabrik führte man einen hartnäckigen Kampf gegen die Tradition des »blauen Montags«, an der die Arbeiter auch unter gewandelten Bedingungen zunächst festhielten, und gegen die große Zahl von Festen und Feiertagen, Kirchweihen und Jahrmärkten. Nach den Kriterien der ökonomischen Vernunft erschien das nicht nur als unerträgliche Vergeudung von Zeit und Geld, man fürchtete auch die alkoholischen Exzesse und die plebejische Widerspenstigkeit vieler dieser Feste, die Entladung, Enthemmung und die explosionsartige Verausgabung von Energien, die man gerade stauen und in kontinuierlich verausgabte Arbeitskraft transformieren wollte (vgl. Lafargue 1978, S. 23).
Auf Dauer konnte man sich allerdings auf Systeme und Einrichtungen des puren äußeren Zwangs nicht verlassen. Man mußte dafür sorgen, daß die Zwänge nach innen wanderten und sich dort als »innere Selbstzwangapparaturen« (Elias) festsetzten. Wie schafft man es, daß Menschen arbeiten wollen und sich das Produkt ihrer Arbeit wegnehmen lassen? Wie erzeugt man gefügige und nützliche Körper, wie akklimatisiert man die Menschen wirkungsvoll an die Regelmäßigkeit und die lineare Zeit des Kapitals?
A. Ure gelangte nach den Erfahrungen mit der ersten Arbeitergeneration zu dem Schluß, daß mit Arbeitern, die der Pubertät entwachsen seien und aus dem Handwerk oder der Landwirtschaft stammten, für industrielle Zwecke nichts anzufangen sei (vgl. Sombart 1928, S. 425f). William Temple machte 1770 den Vorschlag, arme Kinder bereits im Alter von vier Jahren in die Arbeitshäuser zu schicken, wo sie Fabrikarbeit leisten und Schulunterricht erhalten sollten. »Es ist sehr nützlich, daß sie auf irgendwelche Art ständig beschäftigt werden, wenigstens 12 Stunden am Tag, ob sie damit nun ihren Unterhalt verdienen oder nicht; denn wir hoffen, daß sich auf diese Weise die heranwachsende Generation so sehr an ständige Beschäftigung gewöhnen wird, daß sie diese zuletzt als angenehm und unterhaltend empfindet…« (zit. nach Thompson 1980, S. 53).
Es begann die grauenhafte Periode der Kinderarbeit. Kinder waren billig zu haben, anstelliger und leichter an den Rhythmus der Fabrikproduktion zu gewöhnen. Kinder ab fünf Jahren hatten bis zu 16 Stunden täglich in schlecht beleuchteten und belüfteten Räumen schwere Arbeiten zu verrichten. Parallel dazu begann man, Kinder in die Schule zu schicken. Und was lernten sie dort? In erster Linie Sekundärtugenden und Arbeitshaltungen. Der Rhythmus der schulischen Sozialisation entsprach dem der Produktion. Man unterteilte die Zeit in kleine Abschnitte, brachte den Kindern bei, auf Glockenzeichen zu reagieren, man zwang sie, pünktlich zu sein und stillzusitzen, man korrigierte ihre Körperhaltung und ihre Gesten, man disziplinierte ihr ganzes Verhalten und bestrafte jede noch so geringfügige Abweichung und Nachlässigkeit mit körperlichen Züchtigungen und Demütigungen. Man kolonialisierte die Köpfe, indem man sie mit funktionalem Wissen vollstopfte, und die Körper, indem man sie desexualisierte und zum Arbeitsinstrument herrichtete, und man verpaßte den Zöglingen eine Seele, die als innere Ergänzung des äußeren Zwangs wirkte.
Die industrielle Rationalität mischte sich schließlich sogar in die Aufzucht und Pflege des Neugeborenen und des Kleinkindes ein. Normen der Distanz erhoben sich zwischen Mutter und Kind: Man ging nicht mehr hin, wenn das Baby schrie, man legte es weg, nahm es auf und ernährte es nach dem Rhythmus der Uhr und nicht nach dem der kindlichen Bedürfnisse, man dressierte es, seine Exkremente pünktlich auszuscheiden, und man sorgte dafür, daß es sich vor seinen Körperflüssigkeiten ekelte. Die heiligen Grundsätze der »schwarzen Pädagogik« (Rutschky), unter deren Anweisungsstrukturen Erziehung nun mehr und mehr geriet, lauten: Man beginne sofort nach der Geburt damit, den Eigensinn des Kindes zu brechen, die anarchischen Formen seiner Lust einzudämmen und den unreglementierten Trieb zu bändigen.
Klaus Theweleit hat darauf hingewiesen, daß auf diese Weise empfangene und erzogene Menschen »nicht zu Ende geboren« werden. Da, wo sich unter günstigeren Umständen ein Ich hätte entwickeln können, haben diese Menschen einen unter Schmerzen angeprügelten Körperpanzer, eine Art Berstschutz, der verhindert, daß sie fragmentieren und auseinanderbrechen. Das prekäre Ich des Nicht-zu-Ende-Geborenen bedarf der äußeren Stützung, eines Korsetts, das die Schwächen der Ich-Struktur kompensiert. Die landläufige Form dieses Korsetts ist die Arbeit, die zum wichtigsten Ich-Erhaltungsvorgang wird. Arbeit hält ihn bei der Stange und sichert ihm das reduzierte Überleben, und zwar nicht nur, weil sie seine materielle Reproduktion über den Lohn garantiert, sondern weil das Arbeiten sein Ich vor dem Fragmentieren und Zusammenbrechen bewahrt, vor dem Hereinbrechen verschlingender Symbiosen (vgl. Theweleit 1978, S. 244ff.).
Das Zusammenspiel all dieser Prozesse führt dazu, daß Arbeit schließlich zur zweiten Natur des Menschen wird. Die physische und manifeste Gewalt aus der Aufstiegsphase der kapitalistischen Produktionsweise kann sich in dem Maße zurückziehen, wie die Menschen sich selbst Zwang antun. Die Mauern, hinter die man sie einst sperrte, sind jetzt im Inneren aufgerichtet. Es ist ein weitverbreitetes Mißverständnis, diesen Zustand mit Freiheit zu verwechseln und aus der Tatsache, daß die Ketten abgeschafft sind, mit denen man ehemals die Galeerensträflinge an die Ruderbank fesselte, zu schließen, die Galeerensträflinge selbst seien abgeschafft worden.
Die Imperative der kapitalistischen Produktion und der ökonomischen Vernunft sind als eine Art trojanisches Pferd in die Menschen eingedrungen und haben den Status von Quasi-Instinkten und bedingten Reflexen angenommen. Lebensgeschichtlich frühe Rhythmisierungen der kindlichen Bedürfnisse, die Dressur der Körper und der Motorik lassen Arbeit zu einer ungreifbaren und zugleich prägnanten Determinierung werden. Als Folge dieses epochalen psychischen Umrüstungsprozesses bildet sich eine zweite innere Natur des Menschen heraus, ein Fundus von tief eingewurzelten Automatismen, (Wiederholungs-)Zwängen und Abwehrmechanismen. Die Rigidität und Zwanghaftigkeit des Arbeits- und Alltagsverhaltens resultiert also nicht oder nicht in erster Linie aus dem Einfluß eines moralischen Diskurses: Einem solchen Zugriff könnte der Mensch sich relativ leicht entziehen. Wenn das Überich wie ein Reflex funktionieren soll, benötigt es als Unterbau und Komplizen einen kolonialisierten Körper, der von sich aus gewisse gefährliche Impulse wie den Wunsch nach einem Mehr an Glück und Zeit zum Leben abwehrt.
Am Anfang flohen die Menschen vor den Verhaltenszumutungen der Lohnarbeit und der Zeitdisziplin und zogen es mitunter vor, bettelnd durch die Lande zu ziehen. Auf dem Höhepunkt des gigantischen Dressur- und Umrüstungsprozesses waren Arbeiter von der psychischen Dekompensation und psychosomatischen Erkrankungen bedroht, wenn sie arbeitslos wurden. Wie die Studie von Marie Jahoda und anderen über »Die Arbeitslosen von Marienthal« aus den frühen 30er Jahren zeigt, wird Arbeitslosigkeit erlebt wie ein sozialer Tod. Seiner Identitätsprothesen und des Metronoms beraubt, das bislang den Rhythmus des Lebens vorgab, fallen die Arbeitslosen aus ihren Sicherheiten ins Nichts der Desorientierung, Verzweiflung und Resignation. Getrimmt auf extreme Zeitregulierung wissen sie mit dem plötzlichen Reichtum an freier Zeit nichts anzufangen und verhalten sich wie ein jahrelang im Käfig gehaltener Tiger, der, nachdem man ihm die Freiheit zurückgegeben hat, weiter seine Gitterstäbe abschreitet und sich nach seinem Käfig und seinen Sicherheiten zurücksehnt. In einer Gesellschaft, in der sich die Vergesellschaftung für die meisten Menschen über Lohnarbeit herstellt und Sozialisation im wesentlichen Arbeitshaltungen vermittelt, büßt, wer seine Arbeit verliert, eben mehr ein als nur seine Einkommensquelle: seinen Ort, seine soziale Existenz, seine Kontakte und Beziehungen, und er wird seines wichtigsten Ich-Erhaltungsmechanismus beraubt, der äußeren Stützen seines geschwächten Ichs. Das, was man den Pensionierungstod nennt, ist wohl der krasseste Ausdruck der Unterordnung des Lebens unter die entfremdete und entfremdende Arbeit.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts machte in den Metropolen des Kapitals kaum noch jemand der Arbeitsgesellschaft das Realitätsmonopol streitig. Psychiater wie Emil Kraepelin und Karl Wilmanns faßten Müßiggang und Landstreicherei jetzt in Termini einer medizinisch-psychiatrischen Pathologie: Wer nicht arbeiten will, sondern sich »gleichgültig mit den Händen in den Taschen herumdrückt, ist geistesgestört und ein Fall fürs Irrenhaus und eben nicht mehr in erster Linie für Gefängnis, Zucht- und Arbeitshaus« (vgl. Wilmanns 1906). Die Arbeiterbewegung hatte ihren anfänglichen Widerstand gegen die Verhaltenszumutungen der kapitalistischen Industrialisierung aufgegeben und versuchte, das Bürgertum gewissermaßen auf der Überich-Seite zu überholen. Der deutsche sozialdemokratische Arbeiter um 1900 herum war stolz auf seine anständige Lebensführung, achtete streng auf seine Reputation, erzog seine Kinder zur Wehrhaftigkeit und sah verächtlich auf Obdachlose, Faulenzer und Bummelanten herab, mit denen er nichts zu tun haben wollte. Diejenigen, die man so lange der Unzuverlässigkeit und der Faulenzerei geziehen hatte, hatten sich inzwischen das bürgerliche Wertsystem zu eigen gemacht und wendeten es gegen die Bourgeoisie, die aus der Sicht der Arbeiter zu einer Klasse der Schmarotzer und Couponabschneider verkommen war. Erst in der sozialistischen Gesellschaft würden die Werte der Arbeit und der Produktion zur vollen Entfaltung kommen. Dem organisierten Sozialdemokraten war der Kapitalismus nur noch zu unordentlich und anarchisch-ungeplant, und die Zukunftsgesellschaft stellte er sich als ein gigantisches Arbeitshaus mit Arbeitspflicht für jeden vor. Etwas von der Gewalt, die nötig war, um Menschen in Lohnarbeiter zu verwandeln, ist noch in der idiosynkratischen Wut des arbeitenden Menschen auf den spürbar, der es wirklich oder vermeintlich leichter hat, der nicht so hart arbeitet wie man selbst. So nimmt es eigentlich auch nicht wunder, daß die Kolonialpolitik des Kaiserreichs auf keinen nennenswerten Widerstand seitens der Arbeiterbewegung stieß und von August Bebel im Reichstag 1906 als »Kulturtat« grundsätzlich begrüßt wurde: »Kommen die Vertreter kultivierter und zivilisierter Völkerschaften … zu fremden Völkern als Befreier, als Freunde und Bildner, als Helfer in der Not, um ihnen die Errungenschaften der Kultur und Zivilisation zu überbringen, um sie zu Kulturmenschen zu erziehen, geschieht das in dieser edlen Absicht und in der richtigen Weise, dann sind wir Sozialdemokraten die ersten, die eine solche Kolonisation als große Kulturmission zu unterstützen bereit sind« (zit. nach: Die deutsche Arbeiterbewegung 1976, S. 344f.).
Weiter unten an der Basis wird man es weniger vornehm ausgedrückt und gedacht haben: »Wird Zeit, daß dem faulen Neger die Hammelbeine langgezogen werden. Warum soll’s denen besser gehen als uns?«
Das ursprünglich bürgerliche Ressentiment gegen die Faulheit schlug bei denen, gegen die es sich richtete, in das Hohelied des Schweißes und der harten Arbeit um, und noch der sozialistische Gegenentwurf hatte etwas von dem Ressentiment des Beschädigten, der gleiches Unrecht für alle fordert.
Literatur
Bataille, Georges (1975): Das theoretische Werk, Bd. 1, München
Bebel, August (1974): Die Frau und der Sozialismus, Berlin (DDR)
Carlyle, Thomas (o. J.): Arbeiten und nicht verzweifeln, Düsseldorf und Leipzig
Die Deutsche Arbeiterbewegung 1848-1919 in Augenzeugenberichten (1976), München
Elias, Norbert (1969): Über den Prozeß der Zivilisation, z. Bd., Bern
Foucault, Michel (1969): Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt/M.
Geremek, Bronislaw (1988): Geschichte der Armut, Zürich
Gorz, Andre (1989): Kritik der ökonomischen Vernunft, Berlin
Jahoda, Marie et al. (1975): Die Arbeitslosen von Marienthal, Frankfurt/M.
Krahl, Hans-Jürgen (1971): Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt/M.
Kraepelin, Emil (1896): Zur Hygiene der Arbeit, Jena
Lafargue, Paul (1978): Das Recht auf Faulheit, o. O.
Landes, David S. (1973): Der entfesselte Prometheus, Köln
Marx, Karl (1969): Das Kapital, Bd. 1, Berlin (DDR)
Marzahn, Christian (o. J.): Das Zucht- und Arbeitshaus, Bremen
Nietzsche, Friedrich (1982): Die fröhliche Wissenschaft, Frankfurt/M.
Nietzsche, Friedrich (1983): Morgenröte, Frankfurt/M.
Rifkin, Jeremy (1988): Uhrwerk Universum, München
Rühle, Otto (1971): Illustrierte Kultur- und Sittengeschichte des Proletariats, Bd. 1, Frankfurt/M.
Rutschky, Katharina (1977): Schwarze Pädagogik, Frankfurt/M.-BerlinWien
Sachsse, Christoph/ Tennstedt, Florian (1986): Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung, Frankfurt/M.
Sombart, Werner (1928): Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus, 1. Halbband, München/Leipzig
Theweleit, Klaus (1978): Männerphantasien, Bd. 2, Frankfurt/M.
Thompson, E. P (1980): Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, in: Plebejische Kultur und moralische Ökonomie, Frankfurt/M.Berlin-Wien
Weber, Max: Die protestantische Ethik, Bd. 1, München und Hamburg 1969
Wehler, Hans-Ulrich (1987): Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, München
Wilmanns, Karl (1906): Zur Psychopathologie des Landstreichers, Leipzig