24.12.2003 

Finale des Rechts

Hypothesen über das Absterben eines abendländischen Formprinzips

Franz Schandl

I.

Der Kapitalismus gibt heute ein Tempo vor, dem seine Formprinzipien nicht mehr gewachsen sind. Sie sind für diese Geschwindigkeiten nicht geschaffen. Produktivkraftentwicklung und Gesellschaftsformation kollidieren, ja sie kollabieren, sehen wir uns nur die weltweiten Zusammenbruchsökonomien in Afrika, Lateinamerika oder Osteuropa an. Nicht die Universalisierung von Demokratie und Recht steht an, sondern deren Einschränkung. Das Siegende verliert an Boden, erweist sich immer mehr als das Sinkende. Der auch in den Zentren des demokratischen Kapitals grassierende Rechtspopulismus, das Abstürzen der traditionellen demokratischen Kräfte ins Nichts (gegenwärtig Italien, morgen Frankreich, übermorgen woanders) zeigt deutlich die Ermüdungserscheinungen der westlichen Demokratien und ihren bürgerlichen Formprinzipien.

II.

Das Recht (in Form von Gesetzgebung wie Gesetzesanwendung) kann mit diesem Tempo der gesellschaftlichen Entwicklung nicht mehr schritthalten. Es ist nicht nur gestaltungsunfähig (das war es im Prinzip immer), sondern auch zunehmend verwaltungsunfähig. Folgte es bisher im Windschatten, so ist es nun auf andere Entfernungen gebracht worden, wird regelrecht abgehängt. So sehr sich seine Träger in Politik, Bürokratie und Wissenschaft auch anstrengen, es wird nicht mehr Anschluß finden können. Brauchbare Gesetze – d.h. solche, die relativ unproblematisch einen gesellschaftlichen Konsens festschreiben und verordnen können, auf dessen Basis sich die Gesellschaftsmitglieder zu vertragen haben – sind kaum mehr mach- und durchsetzbar. Gesetze wirken immer öfters schon zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens antiquiert, unbrauchbar und novellierungsbedürftig. Große Würfe können nur mißlingen; aber kleine Schritte bringen ebensowenig.

III.

Der Kapitalismus braucht, wie Max Weber betonte, „ein Recht, das sich ähnlich berechnen läßt wie eine Maschine.“1 Dies ist immer weniger zu gewährleisten. Das Scheitern von Gesetzen ist oft geradezu vorprogrammiert, einfach nicht verhinderbar. Advokatenpitzeleien prägen die heutige juristische Diskussion. Ein staunendes Publikum steht vor einer Materie, die nicht einmal mehr von den Dolmetschern des Rechts in ihrer Komplexität durchschaut werden kann. Nicht Rechtssicherheit ist die Folge, sondern Rechtszufälligkeit. Gesetze haben immer mehr Schwierigkeiten, zur Geltung gebracht werden zu können. Das, was gültig ist, gilt nicht unbedingt. Das Recht verliert den Charakter der Garantie, und somit sich selbst. Sätze wie „Durch die zweiwertige Codierung des Rechtssystem wird die Sicherheit erzeugt, daß man, wenn man im Recht ist, im Recht ist und nicht im Unrecht“2, müssen heute als blauäugige Ignoranz abgetan werden.

IV.

Der Grundsatz „Maxima caritas lex“ ist hinfällig geworden. Was sowohl dem Bürgertum und der Arbeiterbewegung gemeinsames Bekenntnis (trotz aller Differenzen) war, wagt heute niemand mehr aufrichtig zu behaupten. Mehr Recht schafft nicht mehr Rechte. Aber weniger Recht auch nicht. Juristische Lösungen dieses Dilemmas sind nicht in Sicht. Diese Krise des Rechts ist keine nur ihre Disziplin betreffende, d.h. eine innere Krise, sie ist gesellschaftliches Phänomen. Sie kann somit auch nicht mit den Instrumentarien des Rechts gelöst werden. Der Rechtsstaat zerbricht nicht an irgendwelchen äußeren Feinden, sondern an seiner Logik. Auf das Recht können wir uns nicht mehr verlassen, es verläßt uns vielmehr.

V.

Recht ist also nicht nur klassenmäßig verzerrt, sondern befindet sich substantiell im Prozeß der Zersetzung. Der Slogan vom „Gleichen Recht für alle“ ist nicht bloß sozial beschränkt, sondern zusehends strukturell unmöglich. Nicht absichtliche Willkür dominiert – wer heute etwa „Klassenjustiz“ schreit oder die Bürokratie verdammt, begreift wirklich nur mehr untergeordnete Momente -, sondern gänzliches Nicht-mehr-Hantieren-können. Das Recht insgesamt steht zur Disposition.

VI.

Das Recht kann somit auch nicht mehr volksnäher werden, sondern advokatisiert sich zusehends, wird Geheimwissenschaft esoterischer Rechtsgelehrter, Rechtsanwender, Rechtsvertreter und Rechtsverdreher. Vorschläge zur Reform, seien sie von Journaille oder Bürokratie, Wissenschaft oder Politik, sind allesamt wenig wert. Das Recht wird von einem normativen Wegweiser zum Irrgarten, ja Dschungel widersprüchlichster Vorgaben und Ansprüche, die allzeit in den verschiedensten Gesetzen und Verordnungen kunterbunt ihren Ausdruck finden. Die Anomien des Rechts sind schlichtweg unvermeidbar.

VII.

Gerade der exponentielle Anstieg der Normproduktion, läßt auf ein wildes Finale des Rechts schließen. Obwohl es zusetzt, läßt es aus. In blinder Steigerung alles Dagewesenen wird noch einmal reguliert und dereguliert, wird die fade Auseinandersetzung, ob mehr Staat oder mehr Markt angebracht ist, wieder aufgelegt und je nach Konjunkturlage entschieden. Das Spiel zwischen Regulierung und Deregulierung wirkt zusehends ausgereizt. An der Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung ändert das jedenfalls gar nichts, dafür waren Recht und Politik selbst in ihren besten Zeiten nicht fähig. Regulierung ist, wie das Wort ja nahe legt, niemals als gesellschaftliche Planung mißzuverstehen.

VIII.

„Recht in seiner Unmittelbarkeit ist Eigentum“3, schreibt Hegel. Doch eben dieses löst sich mit fortschreitendem Kapitalismus auf. Und zwar in vielfältigster Weise: sei es als negative Sozialisierung der gesellschaftlichen Folgen der Produktion, sei es als Vergesellschaftung der Individuen durch Geld und Tausch, sei es durch fortwährende Monopolbildung, sei es durch die Kurzlebigkeit der Waren, sei es durch die Nichtdurchsetzbarkeit des Tauschwerts in Bereichen der Mikroelektronik etc. Eigentum konstituiert sich durch das gleichzeitig Verfügende wie Ausschließende. Beides wird immer unmöglicher und sinnloser. Was wir erleben ist eine Sozialisierung ohne Sozialismus. Kein Gesetz kann hier annähernd die alten Rechten wiederherstellen.

IX.

Normalität und Legalität fallen immer weiter auseinander, immer weniger gelingt es, Deckungsgleichheiten herzustellen. Die Wirklichkeit weicht nicht nur wie das Sein vom Sollen ab, sondern tendiert zur Gänze über dieses hinaus. Sein und Sollen haben im bürgerlichen Rechtsstaat bisher ein Leben von tatsächlicher Differenz, aber auch von idealistisch-fiktiver Identität geführt. Sie gehörten untrennbar zusammen. Auch wenn sie sich in ihren Ausformungen nicht immer entsprechen konnten, wurden sie durch das Recht – der sie verbindenden Kategorie – regelmäßig zur Kongruenz gebracht. Gerade diese klassische Durchsetzungsfähigkeit des Rechts ist heute brüchig geworden.

X.

Das Sein repelliert vom Sollen, ohne daß durch das Recht die notwendige Attraktion mehr stattfinden kann. Das Recht hat immer weniger Kraft, das sie konstituierende Attrahieren zu bewerkstelligen. Die einstmals engen Bande zwischen Sein und Sollen reißen, das Sein oder besser eigentlich: die Wirklichkeit „will“ ein anderes Sollen, daher blamiert sich das Recht auch laufend bei der gegenwärtigen Herstellung von Identitäten, wo und weil diese sich doch ebenfalls verflüchtigen.

XI.

Frägt sich nur, wer oder was das Recht ablöst. Mit dem konstatierten Auslaufen der abendländischen Formprinzipien ist ja noch nichts gewonnen, im Gegenteil, ohne positive Alternativen ist etwa die Aufhebung des Rechts nur identisch mit seiner blanken Beseitigung, mit der Rechtlosigkeit. So gesehen würde sich eine zivilisatorische Errungenschaft nicht aufhebend in etwas Neues transformieren, sondern sich auf ihren Kern reduzieren. Und die purste Form des Rechts ist immer noch die Gewalt. An diesem einen Ende stehen somit eher sizilianische, kolumbianische oder russische, kurzum barbarischere Zustände als vorher. Was dort Recht ist, bestimmen mafiotische Organisationsformen der gesellschaftlichen Kommunikation.

XII.

Das Recht war eine der vielen Krücken, die die Menschheit im Prozeß der Menschwerdung gebrauchte. So gesehen ist das Recht einerseits Ausdruck zivilisatorischer Hochentwicklung, andererseits aber auch umgekehrt Inbegriff zivilisatorischen Mangels. In Ordnungen jenseits des Zwanges wird es kein Recht geben können. Subjektive Rechte braucht es nur dort zu geben, wo diese nicht als objektive Selbstverständlichkeiten erscheinen. „Ein ’Recht’ auf Leben, Nahrung, Wohnung usw. aber ist an sich absurd; es macht nur Sinn in einem gesellschaftlichen Bezugssystem, das seiner Tendenz nach all diese elementaren Grundlagen menschlicher Reproduktion eben gerade nicht selbstverständlich voraussetzt, sondern im Gegenteil ständig objektiv in Frage stellt.“4

XIII.

Wir steuern in die rechtsfreie Gesellschaft. Unsere Geschicklichkeiten treiben uns dorthin. Die gesellschaftlichen Träger laufen ihren Gesetzen davon. Das Recht spürt erstmals seinen beschränkten historischen Charakter, spürt erstmals sein dämmerndes Ende. Was dahinter kommt, und wie diese nachrechtlichen Ordnungsprinzipien aussehen könnten, ist augenblicklich freilich jenseits unseres Erkenntnishorizonts. Es ist mit der Begrifflichkeit von Staat und Demokratie, Recht und Gesetz jedenfalls nicht zu erfassen. Wir kennen heute noch keine positiven Termini, ja haben nicht einmal Hilfsbegriffe, es zu beschreiben und zu konkretisieren. Diese und jene werden sich erst herausschälen aus den gesellschaftlichen und sozialen Bewegungen. Gefragt ist jedenfalls nicht eine andere Gesetzlichkeit und ein anderes Recht, sondern Alternativen zu Recht und Gesetz. Diese werden nicht Unrecht, sondern Nachrecht sein.

XIV.

Die historische Groteske sei so formuliert: Wer das zivilisatorische Niveau, die Errungenschaften des Abendlands retten will – und hier gilt es im besten Sinne des Wortes gar manches zu bewahren – der muß sich auf die Überwindung der westlichen Formprinzipien einstellen. So wie früher geht es nicht mehr. Genau das ist der Punkt, den man begreifen muß, will man die „Beseitigung“ der Krise nicht der modernen Rechten von Berlusconi bis Haider überlassen. Diese hat instinktiv die Krise von Demokratie und Parlamentarismus, Sozial- und Rechtsstaat erkannt, will sie immer offener für diktatorische Konzepte ausnützen. Haiders Absage an die repräsentative Demokratie, sein Plädoyer für den Bügerrechtsstaat weisen in diese Richtung. Dumm sind aber jene, die dem in republikanischer Bescheidenheit nur defensiv begegnen, indem sie noch einmal die Prinzipien der bürgerlichen Demokratie hochhalten, ja hochjubeln. 1918 ist gelaufen, es ist kein zweites Mal gewinnbar. Die Gesellschaft schreit nach Neuem, und will sie nicht zwischenzeitlich bei ganz Altem landen, dann darf man sich nicht hinter den bürgerlich-demokratischen Werten vergraben. Diese gehen auf jeden Fall den Bach runter.

XV.

P.S.: Jede Jetztzeit versteht sich als Letztzeit. Anders nannte diesen ach so obligaten Anspruch auf Ewigkeit einmal treffend den „Platonismus der Idioten“.5 Über die Metaphysik des zünftigen Juristen schreibt er: „Letzten Endes ist dieser tief gekränkt durch die Tatsache, daß es Veränderungen in der Welt gibt, daß diese sich verändert. Er ist der Todfeind der Geschichte, er verabscheut die Zeit. Er verlangt von der Welt, daß sie so sei, wie sie war; und so bleibe, wie sie ist: also sistiert, damit sie der starren Geltung der Rechtsgesetze und der Geltung der durch diese sanktionierten „pacta servanda“ entspreche.“6

1 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (1922), Tübingen, 5. Aufl. 1972, S. 817.

2 Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen, 3. Aufl. 1990, S. 126.

3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), Werke 7, Frankfurt am Main 1986, S. 85.

4 Robert Kurz, Der Letzte macht das Licht aus. Zur Krise von Demokratie und Marktwirtschaft, Berlin 1993, S. 31.

5 Günther Anders, Die Augenbinde der Justitia. 5 philosophische Überlegungen anläßlich des Prozesses gegen Robert Jungk, Taz, 16.4.1988; bzw. FORVM, Heft 413/414, Mai/Juni 1988, S. 5.

6 Ebenda.