Moishe Postone entwickelt in seinem Buch »Time, labor, and social domination« die Kritische Theorie über ihre Grenzen hinaus.
Von Norbert Trenkle
Moishe Postone ist hierzulande vor allem durch seinen Aufsatz »Nationalsozialismus und Antisemitismus« bekannt geworden, der die wertkritische Debatte über den Antisemitismus der letzten zehn Jahre entscheidend beeinflusst hat. Weit weniger bekannt ist bisher noch Postones grundlegendes theoretisches Werk zur Reinterpretation der Marxschen Theorie »Time, labor, and social domination«, das bereits 1993 in den USA erschien (Postone ist Dozent an der University of Chicago). Das liegt sicher vor allem daran, dass bisher das Buch noch nicht in Deutsch vorliegt. Im Herbst soll jetzt die seit langem angekündigte Übersetzung des ça-ira-Verlags erscheinen.
Möglicherweise stand einer vermehrten Rezeption und öffentlichen Debatte des Buches in seiner englischen Originalversion aber auch entgegen, dass es eine zu den dominanten gesellschaftstheoretischen bzw. -kritischen Diskursen quer liegende Position entwickelt. Weder fährt es auf dem Ticket demokratisch-marktwirtschaftlicher Affirmation wie der Postmodernismus einerseits und der Zivilgesellschaftsdiskurs andererseits, noch handelt es sich um einen verdünnten Aufguss altbekannter marxistischer Scheingewissheiten. Vielmehr formuliert Postone in seiner Auseinandersetzung mit der Marxschen Theorie wesentliche Elemente einer fundamentalen Kapitalismuskritik, die sich grundsätzlich vom traditionellen Marxismus unterscheidet.
Dieser blieb nämlich, wie ausführlich im ersten Teil des Buches gezeigt wird, stets in den Basis-Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft befangen, die er doch dem eigenen Anspruch nach überwinden wollte. Den Begriff »traditioneller Marxismus« bezieht Postone dabei nicht »auf eine spezifische historische Strömung oder Tendenz im Marxismus, sondern grundsätzlich auf alle theoretischen Ansätze, die den Kapitalismus vom Standpunkt der Arbeit analysieren und wesentlich in den Kategorien von Klassenverhältnissen beschreiben, als eine Gesellschaft, die durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln und eine marktregulierte Ökonomie strukturiert ist« (S. 7; Übersetzung N.T.). Bei allen sonstigen Unterschieden und Akzentsetzungen trifft diese Charakterisierung auf alle marxistischen Ansätze mit nur wenigen und bloß partiellen Ausnahmen zu. Dagegen interpretiert Postone die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie wesentlich als eine Kritik von Wert und Ware und, damit untrennbar verbunden, von Arbeit als dem strukturierenden und basalen Moment kapitalistischer Vergesellschaftung.
Der traditionelle Marxismus dagegen kam, wie Postone ausführt, im Grunde genommen nie über eine Kritik der Distributions- oder Verteilungsverhältnisse im Kapitalismus (also über eine Kritik des freien Marktes) hinaus, gegen die er den als transhistorisch und als emanzipatorisch (miss)verstandenen Standpunkt der Arbeit ausspielte. Insofern kann er im historischen Rückblick auch viel eher als eine spezifische Theorie bürgerlicher Produktionsverhältnisse denn als deren Kritik entziffert werden. Diese Feststellung mag zunächst irritieren, denn unzählige marxistische Theoretiker haben sich gegen jede »Zirkulationsfixiertheit« verwahrt und scheinbar das Haupt-Augenmerk der Kritik auf den Produktionsprozess gerichtet. Doch das trifft nur insofern zu, als stets die Abpressung des Mehrwerts, also die Ausbeutung der Lohnarbeiterschaft, im Zentrum stand. Dass die Arbeit jedoch die Grundlage der Gesellschaft bilden soll, wurde als unaufhebbares ontologisches Faktum vorausgesetzt, obwohl dies doch, worauf Postone völlig zu Recht immer wieder insistiert, einzig und allein ein historisches Spezifikum des Kapitalismus ist. In diesem Sinne ging es dem traditionellen Marxismus auch nie um die Befreiung von der Arbeit, sondern um die Fiktion einer Befreiung der Arbeit von der kapitalistischen Ausbeutung.
»Time, labor, and social domination« steht in der Tradition der Kritischen Theorie. Aber weder macht Postone die Habermassche »kommunikative« Wendung und die Entschärfung der Kritischen Theorie zu einer demokratisch-staatstragenden Ideologie mit (der Kritik an Habermas ist ein eigenes Kapitel gewidmet); noch betreibt er Kritische Theorie als sterile Erbverwaltung eines Fundus scheinbar feststehender Einsichten, die nur noch ideologiekritisch angewendet werden müssen. Vielmehr verortet er die Kritische Theorie selbst historisch im Kontext des traditionellen Marxismus. Er zeigt, dass insbesondere Friedrich Pollock und Max Horkheimer sich nie von den Grundvoraussetzungen des Marxismus wirklich lösen konnten und dass gerade dies ein wesentlicher innertheoretischer Grund für die pessimistische Wendung der Kritischen Theorie seit den 1940er Jahren war. Da der wachsende Eingriff des Staates in die Ökonomie im Nationalsozialismus, im Stalinismus und im New Deal als eine Sistierung des behaupteten Widerspruchs zwischen Produktions- und Distributionsverhältnissen interpretiert wurde, schien nun auch jede Möglichkeit gesellschaftlicher Emanzipation ausgelöscht. So verweist gerade die Kritische Theorie in ihrem Charakter als eine Art Grenzfall des traditionellen Marxismus (in dem sie natürlich nie ganz aufging) auch auf dessen Grenzen.
Dass es Postone gelingt, diese Grenzen zu überwinden, ist auch ein Resultat seiner Auseinandersetzung mit den kapitallogischen und werttheoretischen Debatten in der BRD der siebziger Jahre, an denen er während seines langjährigen Studienaufenthalts in Frankfurt beteiligt war. In den Grundzügen war das Buch bereits in den achtziger Jahren fertig, auch wenn es dann erst mit einiger Verzögerung in den USA erschien, wo es übrigens viel Anerkennung fand. Es bleibt zu hoffen, dass es nun auch, gewissermaßen als Re-Import, die wertkritische Debatte im deutschsprachigen Raum voranbringt.
Im Folgenden geben wir einen leicht gekürzten Auszug aus dem zweiten Kapitel »Voraussetzungen des traditionellen Marxismus« wieder.
Von Moishe Postone
Vom bloßen Arbeiter zum vollständigen Menschen
Der traditionelle Marxismus arbeitete an der Befreiung der kapitalistischen Arbeit statt an ihrer Abschaffung.
Der traditionelle Marxismus bezog sich stets positiv auf den Standpunkt der »Arbeit«. Damit unterscheidet er sich grundlegend von der reifen Marxschen Kritik der politischen Ökonomie. Zwar konstituiert und determiniert laut Marx die Arbeit tatsächlich die Gesellschaft – aber nur im Kapitalismus. Sie wirkt auf Grund ihres spezifischen historischen Charakters bestimmend und nicht einfach als eine Tätigkeit, die den Stoffwechselprozess von Mensch und Natur vermittelt. Mit dem, was Theoretiker wie Hilferding der »Arbeit« zuschreiben, hypostasieren sie die Besonderheiten der Arbeit im Kapitalismus zu etwas Überhistorischem. Insoweit die Marxsche Analyse dieser Besonderheit zu zeigen vermag, dass die Arbeit zwar als transhistorische, ontologische Grundlage der Gesellschaft erscheint, in Wirklichkeit aber historisch bestimmt ist, enthält sie auch eine Kritik einer derartigen, für den traditionellen Marxismus charakteristischen Ontologisierung gesellschaftlicher Verhältnisse.
Aus der Marxschen Analyse des spezifischen Charakters von Arbeit im Kapitalismus ergibt sich außerdem ein der Kritik vom Standpunkt der »Arbeit« diametral entgegengesetzter Zugang zum Verhältnis von gesellschaftlicher Form und gesellschaftlichem Inhalt im Kapitalismus. Die traditionelle Auffassung von »Arbeit« legt eine Vorstellung von der Mystifizierung gesellschaftlicher Verhältnisse nahe, die zwischen dem gesellschaftlichen »Inhalt« und seinen mystifizierten Formen keine innere Beziehung kennt. In der Marxschen Analyse jedoch stehen die Formen der Mystifizierung (das, was er »Fetisch« nannte) genau in einem solchen engen Verhältnis zu ihrem »Inhalt« – sie werden als notwendige Erscheinungsformen eines »Wesens« behandelt, das sie sowohl ausdrücken als auch verschleiern. (1) Gesellschaftliche Verhältnisse erscheinen laut Marx »als das, was sie sind, d.h. (…) als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.« (2) In anderen Worten: Die in den Kategorien Ware und Wert ausgedrückten quasi-sachlichen, unpersönlichen gesellschaftlichen Formen verschleiern nicht einfach die »realen« gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus (das heißt die Klassenverhältnisse), wie der traditionelle Marxismus vermeinte; vielmehr sind die in diesen Kategorien ausgedrückten abstrakten Strukturen diese »realen« gesellschaftlichen Verhältnisse.
Marx wirft der politischen Ökonomie vor, die innere, notwendige Beziehung zwischen gesellschaftlicher Form und Inhalt nicht gesehen zu haben: »Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich also Arbeit in Wert und das Maß der Arbeit durch ihre Zeitdauer in der Wertgröße des Arbeitsprodukts darstellt.« (3) Seine Analyse der Besonderheit des geschichtlich bestimmten Inhalts – also der kapitalistischen Arbeit – bildet den Ausgangspunkt für seine Antwort auf diese Frage. Es liegt im Charakter der Arbeit im Kapitalismus, dass sie die Form des Werts (der seinerseits in weiteren Formen erscheint) annehmen muss.
Die innere Beziehung zwischen gesellschaftlicher Form und gesellschaftlichem Inhalt in der Marxschen Kritik verweist darauf, dass es ein Widerspruch wäre, sich die Überwindung des Kapitalismus – seine reale Demystifikation – in einer Weise vorzustellen, die nicht auch die Transformation des notwendigerweise in mystifizierter Form erscheinenden »Inhalts« einschließt. Insofern ist die Aufhebung des Werts und der mit ihm verbundenen abstrakten gesellschaftlichen Verhältnisse nicht von der Aufhebung der Wert produzierenden Arbeit zu trennen. Bei dem in der Marxschen Analyse erfassten »Wesen« handelt es sich nicht um das der menschlichen Gesellschaft, sondern um das »Wesen« des Kapitalismus. Es muss durch die Überwindung dieser Gesellschaft abgeschafft und nicht erst noch verwirklicht werden. Wenn dagegen, wie im traditionellen Marxismus, kapitalistische Arbeit als »Arbeit« hypostasiert wird, erscheint die Aufhebung des Kapitalismus als Befreiung des »Inhalts« des Werts von seiner mystifizierten Form, was dann erlauben soll, diesen »Inhalt« (die »Arbeit«) bewusst zum Prinzip der Ökonomie zu erheben. Doch das ist nichts anderes als ein etwas raffinierterer Ausdruck für die abstrakte Entgegensetzung von der Planung als dem Prinzip des Sozialismus und dem Markt als dem Prinzip des Kapitalismus, einer Entgegensetzung, die ich weiter oben [bezieht sich auf sein Buch; die Red.] eingehender kritisiert habe. Denn in ihr wird weder angesprochen, was geplant werden soll, noch der Grad, in dem die Planung wahrhaft bewusst und frei von den Imperativen struktureller Herrschaft ist. Die einseitige Kritik der Distributionsweise und die transhistorische gesellschaftliche Ontologisierung der Arbeit hängen eng zusammen.
Mit seiner Kritik am historisch spezifischen Charakter der kapitalistischen Arbeit transformierte Marx die auf der Arbeitstheorie des Werts aufgebaute Gesellschaftskritik von einer »positiven« zu einer »negativen« Kritik. Die Kapitalismuskritik, die den Ausgangspunkt der klassischen politischen Ökonomie – die transhistorische, undifferenzierte Auffassung von »Arbeit« – beibehält, um daraus die strukturelle Existenz von Ausbeutung zu beweisen, ist dagegen ihrem Begriff nach eine »positive« Kritik. Diese Kritik bestehender gesellschaftlicher Bedingungen (Ausbeutung) und Strukturen (Markt und Privateigentum) geht von dem aus, was bereits existiert (»Arbeit« in der Form industrieller Produktion). Insofern verweist sie am Ende auf eine bloß andere Variante der existierenden kapitalistischen Gesellschaftsformation. Die Marxsche Kritik der Arbeit im Kapitalismus liefert dagegen die Grundlage für eine »negative« Kritik – eine, die das Bestehende auf der Grundlage dessen kritisiert, was sein könnte – und damit auf die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft verweist. In diesem Sinn (und nur in diesem, nicht soziologisch reduzierten Sinn) ist der Unterschied zwischen den beiden Formen von Gesellschaftskritik als der zwischen einer »bürgerlichen« Gesellschaftskritik auf der einen und einer Kritik der bürgerlichen Gesellschaft auf der anderen Seite zu verstehen.
Der traditionelle Marxismus begreift gesellschaftliche Herrschaft wesentlich als Klassenherrschaft. Die Aufhebung des Werts erscheint als die Abschaffung einer vermittelten, unbewussten Form von Verteilung, an deren Stelle eine bewusst und rational regulierte Vergesellschaftung treten soll. Und die Aufhebung des Mehrwerts wird als Abschaffung des Privateigentums und der Ausbeutung – nämlich der Aneignung des allein von der Arbeit produzierten gesellschaftlichen Mehrprodukts durch eine unproduktive Klasse – konzipiert: die produktive Arbeiterklasse soll sich also die Ergebnisse ihrer kollektiven Arbeit wieder aneignen. (4) Im Sozialismus würde die Arbeit demnach offen zum regulierenden Prinzip des gesellschaftlichen Lebens aufsteigen, womit die Grundlage für die Verwirklichung einer rationalen und gerechten, auf allgemeinen Prinzipien gegründeten Gesellschaft geschaffen wäre.
Eine derartige Kritik ist ihrem Wesen nach mit der früh-bürgerlichen Kritik der Landaristokratie und der vorangegangenen Gesellschaftsformen identisch. Es handelt sich um eine normative Kritik an unproduktiven gesellschaftlichen Gruppierungen vom Standpunkt derjenigen Gruppen aus, die »wahrhaft« produktiv seien: sie macht »Produktivität« zum Kriterium gesellschaftlicher Norm. Weil sie voraussetzt, die Gesellschaft als Ganzes sei durch die Arbeit konstituiert, identifiziert sie darüber hinaus die Arbeit (und damit die arbeitenden Klassen) mit den allgemeinen Interessen der Gesellschaft und betrachtet die Interessen der Kapitalistenklasse als partikulare, die diesen allgemeinen Interessen entgegengesetzt seien. Der theoretische Angriff auf eine als Klassengesellschaft charakterisierte Ordnung, in der unproduktive Gruppen eine bedeutende oder beherrschende Rolle spielen, steht für eine Kritik des Besonderen im Namen des Allgemeinen. Letztlich dient die Arbeit, weil sie in dieser Sicht die Beziehung zwischen Menschheit und Natur konstituiert, als Bezugspunkt, von dem aus die gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen Menschen beurteilt werden können: Verhältnisse, die mit der Arbeit in Harmonie stehen und ihre grundlegende Bedeutung reflektieren, gelten als gesellschaftlich »natürlich«. Deshalb nimmt Gesellschaftskritik, indem sie den Standpunkt der »Arbeit« bezieht, einen quasi-natürlichen Blickwinkel ein: den einer sozialen Ontologie. Im Namen der »wahren« Natur der Gesellschaft wird das Künstliche kritisiert. Damit liefert die Kategorie »Arbeit« dem traditionellen Marxismus einen im Namen von Gerechtigkeit, Vernunft, Universalität und Natur argumentierenden normativen Standpunkt.
Der Standpunkt der »Arbeit« impliziert auch eine historische Kritik. Diese Kritik verdammt nicht einfach nur die existierenden Verhältnisse, sondern versucht zu zeigen, dass sie zunehmend anachronistisch werden und dass mit der Entwicklung des Kapitalismus auch die Verwirklichung der guten Gesellschaft möglich wird. Das historische Entwicklungsniveau der Produktion dient als Maßstab, um die relative Angemessenheit der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu beurteilen, die als bestimmte Form der Distributionsweise interpretiert werden. Die industrielle Produktion gerät nicht zum Gegenstand der historischen Kritik, sondern wird als »fortschrittliche« gesellschaftliche Dimension aufgefasst, die – im Kapitalismus zunehmend von Privateigentum und Markt »gefesselt« – der sozialistischen Gesellschaft als Grundlage dienen wird. (5) Der Widerspruch des Kapitalismus erscheint als einer zwischen »Arbeit« und Distributionsweise, der sich in den Kategorien Wert und Mehrwert ausdrückt. In diesem Interpretationsraster führt die kapitalistische Entwicklung zu einem wachsenden Anachronismus von Markt und Privateigentum – diese entsprechen immer weniger den Bedingungen der industriellen Produktion – und ermöglicht so ihre eigene Abschaffung. Sozialismus besteht demnach in der Etablierung einer der industriellen Produktion angemessenen Distributionsweise – öffentliche Planung in Abwesenheit von Privateigentum.
Emanzipation gründet demnach auf »Arbeit« – sie wird in einer Gesellschaftsformation verwirklicht, in der die »Arbeit« ihren unmittelbar gesellschaftlichen Charakter realisiert und offen als das wesentliche gesellschaftliche Element zu Tage tritt. Diese Vorstellung von Emanzipation ist natürlich untrennbar mit einem Verständnis von der sozialistischen Revolution als dem »Zu-Sich-Selber-Kommen« des Proletariats verbunden: das produktive Element der Gesellschaft, die Arbeiterklasse, verwirklicht sich im Sozialismus als die universelle Klasse.
Die Kritik einer Dimension der existierenden Gesellschaftsformation vom Standpunkt einer anderen ihrer Dimensionen – das heißt die Kritik der Distributionsweise vom Standpunkt der industriellen Produktion aus – hat schwere Mängel und weitreichende Konsequenzen.
Statt über die kapitalistische Gesellschaftsformation hinauszuweisen, hypostasiert und projiziert die traditionelle Positivkritik vom Standpunkt der »Arbeit« die geschichtlich für den Kapitalismus spezifischen Formen von Reichtum und Arbeit auf die gesamte Geschichte und auf alle Gesellschaften. Eine derartige Projektion verdeckt das Besondere einer Gesellschaft, in der die Arbeit eine einzigartig konstituierende Rolle spielt, und verschleiert zugleich den Charakter einer möglichen Überwindung dieser Gesellschaft.
Die kritische Analyse der Formbestimmungen der modernen Gesellschaft öffnet einen gänzlich anderen Zugang zur normativen Dimension von Kritik als eine Kritik an Klassenausbeutung und -herrschaft. Dass eine auf »Arbeit« gegründete Kritik Spezifika des Kapitalismus für überhistorisch erklärt, macht es auf einer anderen Ebene zugleich notwendig, auch Begriffe wie Vernunft, Universalität und Gerechtigkeit neu zu durchdenken.
Innerhalb der positiven Kapitalismuskritik gelten diese Ideen (die historisch die Ideale der bürgerlichen Revolution ausdrückten) als nicht-kapitalistische Momente der modernen Gesellschaft: Die Partikularinteressen der herrschenden Kapitalistenklasse haben in der kapitalistischen Gesellschaft ihre Verwirklichung verhindert, aber sie würden im Sozialismus vermutlich Wirklichkeit werden. Im zweiten Teil dieser Arbeit werde ich demgegenüber näher ausführen, dass Ideale wie Vernunft, Universalität und Gerechtigkeit, wie sie sowohl von der traditionellen marxistischen als auch der früheren bürgerlichen Gesellschaftskritik verstanden werden, keineswegs ein nicht-kapitalistisches Moment der modernen Gesellschaft repräsentieren. Sie sind vielmehr im Kontext der spezifischen, über die »Arbeit« hergestellten, gesellschaftlichen Konstitution des Kapitalismus zu verstehen. Tatsächlich ist der für die traditionelle Kritik charakteristische Gegensatz zwischen abstrakter Universalität und konkreter Partikularität keiner zwischen Idealen, die über den Kapitalismus und dessen gesellschaftliche Realität hinausweisen, vielmehr handelt es sich bei ihm um einen Grundzug dieser Gesellschaft.
Derartige mit der für den Kapitalismus charakteristischen gesellschaftlichen Konstitution zusammenhängende normative Begriffe sind keineswegs als bloße Täuschungen, die die Interessen der Kapitalistenklasse verschleiern, zu verstehen. Genauso wenig wird hier behauptet, der Kluft zwischen den Idealen und der kapitalistischen Realität komme überhaupt keinerlei Bedeutung für die Emanzipation zu; aber diese Kluft und die mit ihr verbundene Form der Emanzipation bleibt innerhalb der Grenzen des Kapitalismus.
Zur Debatte steht also das Niveau, auf dem die Kritik sich auf den Kapitalismus einlässt – ob der Kapitalismus als eine Form von Vergesellschaftung oder bloß als eine Form von Klassenherrschaft verstanden wird und ob gesellschaftliche Werte und Begriffe in den Kategorien einer Theorie gesellschaftlicher Konstitution statt in funktionalistischen (oder idealistischen) Kategorien behandelt werden. Sowohl die Vorstellung, dass diese normativen Begriffe ein nicht-kapitalistisches Moment der modernen Gesellschaft repräsentierten, als auch die Idee, sie seien bloße Täuschungen, entspringt nämlich einem gemeinsamen auf Klassenausbeutung und -herrschaft innerhalb der modernen Gesellschaft fixierten Kapitalismusverständnis. Die Theorie gesellschaftlicher Konstitution bildet die Grundlage der negativen Kritik, die ich skizzieren werde. Sie versucht, die Bedingung der Möglichkeit theoretischer und praktischer Kritik nicht im Bruch zwischen Ideal und Realität der modernen kapitalistischen Gesellschaft zu verorten, sondern im widersprüchlichen Charakter der sie konstituierenden Form gesellschaftlicher Vermittlung.
Der normative Aspekt der traditionellen Kritik ist innerlich mit ihrer historischen Dimension verbunden. Die Vorstellung, die Ideale der modernen Gesellschaft repräsentierten ein nicht-kapitalistisches Moment dieser Gesellschaft, entspricht der Idee, es gebe einen strukturellen Widerspruch zwischen der auf dem Proletariat basierenden industriellen Produktionsweise – als einem nicht-kapitalistischen Moment der modernen Gesellschaft – und dem Markt sowie dem Privateigentum. Indem die »Arbeit« zum Ausgangspunkt genommen wird, verflüchtigt sich mit der historischen Spezifik von Arbeit im Kapitalismus auch die des kapitalistischen Reichtums. Es wird somit unterstellt, die gleiche Form des Reichtums, die sich im Kapitalismus eine Klasse von Privatbesitzern anverwandelt, würde im Sozialismus kollektiv angeeignet und bewusst reguliert werden.
Die Idee, der Modus der Reichtumsproduktion sei ihrem Wesen nach vom Kapitalismus unabhängig, schließt des Weiteren ein eindimensionales, lineares Verständnis von technischem Fortschritt ein – »Fortschritt der Arbeit« -, der seinerseits oft mit gesellschaftlichem Fortschritt gleichgesetzt wird. Dieses Verständnis unterscheidet sich erheblich von der Marxschen Position, die vom Kapital bestimmte industrielle Produktionsweise habe die Produktivkraft der Menschheit zwar beträchtlich gesteigert, jedoch in entfremdeter Form, weshalb sie auch die arbeitenden Individuen beherrscht und die Natur zerstört.
Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen von Kritik wird auch an der Art und Weise deutlich, wie sie die für den Kapitalismus charakteristische, grundlegende Form gesellschaftlicher Herrschaft bestimmen. Die Gesellschaftskritik vom Standpunkt der »Arbeit« versteht diese Form der Herrschaft wesentlich als Klassenherrschaft, die in der privaten Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel verwurzelt sei. Die Kritik der kapitalistischen Arbeit dagegen charakterisiert die grundlegende Herrschaftsform dieser Gesellschaft als einer abstrakten, unpersönlichen, strukturellen Form, die der historischen Dynamik des Kapitalismus zu Grunde liegt. Sie sieht diese abstrakte Herrschaftsform in den historisch spezifischen gesellschaftlichen Formen des Werts und der Wert produzierenden Arbeit begründet.
Diese Lesart der Marxschen Kapitalismustheorie bereitet den Boden für eine weit reichende Kritik abstrakter Herrschaft – der Beherrschung der Menschen durch ihre Arbeit. Sie liefert zugleich – und das hängt damit eng zusammen – den Ausgangspunkt für eine Konstitutionstheorie einer gesellschaftlichen Beziehungsform, der eine enorme Entwicklungsdynamik innewohnt. Im traditionellen Marxismus jedoch wird die Kritik verflacht und auf eine Kritik des Marktes und des Privateigentums reduziert sowie die den Kapitalismus charakterisierende Produktionsweise und Form der Arbeit in den Sozialismus projiziert.
Wie bereits bemerkt, treffen sich der traditionelle Marxismus und die frühe bürgerliche Kritik in ihrem Verständnis des geschichtlichen Fortschritts. Er wird paradoxerweise als eine Bewegung hin zum »natürlich« Menschlichen gefasst. Das ontologisch Menschliche (zum Beispiel: Vernunft, »Arbeit«) soll zu sich selbst kommen, indem es sich gegen die existierende Künstlichkeit durchsetzt. Somit trifft die Kritik, die Marx gegen einige Aspekte der Aufklärung im Allgemeinen und die klassische politische Ökonomie im Besonderen vorgebracht hat, auch die auf dem Prinzip der »Arbeit« gegründete Gesellschaftskritik: »Die Ökonomen verfahren auf eine sonderbare Art. Es gibt für sie nur zwei Arten von Institutionen, künstliche und natürliche. Die Institutionen des Feudalismus sind künstliche Institutionen, die der Bourgeoisie natürliche (…). Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr.« (6) Selbstverständlich ist das, was als natürliche Institution angesehen wird, für »die Ökonomen« nicht das gleiche wie für die traditionelle marxistische Theorie. Die Denkform aber bleibt dieselbe.
Die Gesellschaftskritik vom Standpunkt der »Arbeit« bleibt also insgesamt an die klassische politische Ökonomie gebunden, auch wenn sie sich von ihr in einigen Punkten unterscheidet. Wie diese findet sie in der Distributionssphäre den Fokus ihrer kritischen Überlegungen. Während die Marxsche Kritik in der Form der Arbeit (und somit in der Produktion) ihren Gegenstand findet, bleibt »Arbeit« für den traditionellen Marxismus unhinterfragt die transhistorische Quelle des Reichtums und die Grundlage der gesellschaftlichen Konstitution. Statt zu einer Kritik der politischen Ökonomie kommt er zu einer kritischen politischen Ökonomie. Was ihren Arbeitsbegriff anbelangt, verdient diese Kritik den Titel »ricardianischer Marxismus«. (7) Der traditionelle Marxismus ersetzt die Marxsche Kritik der Produktions- und Distributionsweise durch eine Kritik lediglich der letzteren, und die Marxsche Theorie der Selbstabschaffung des Proletariats durch eine Theorie der Selbstverwirklichung des Proletariats. Der Unterschied zwischen den beiden Formen der Kritik ist weit reichend: Was der Marxschen Analyse als das zentrale Objekt der Kapitalismuskritik gilt, wird dem traditionellen Marxismus zur gesellschaftlichen Grundlage von Freiheit.
Diese Verkehrung kann nicht mit einem Verweis auf die Exegese adäquat erklärt werden – etwa mit dem Vorwurf, die Marxschen Schriften seien in der marxistischen Tradition nicht korrekt interpretiert worden. Sie verlangt eine gesellschaftliche und geschichtliche Erklärung. Die hätte sich auf zwei Ebenen zu bewegen: Als erstes sollte sie versuchen, die Möglichkeit der traditionellen Kapitalismuskritik theoretisch zu begründen. Beispielsweise könnte sie dies tun, indem sie, der Marxschen Vorgehensweise folgend, nach der Art und Weise fragt, in der sich die gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus manifestieren. In dieser Arbeit werde ich einen Schritt in diese Richtung unternehmen. Ich werde zeigen, dass der historisch spezifische Charakter der Arbeit im Kapitalismus für Marx darin besteht, als transhistorische »Arbeit« zu erscheinen.
Ein weiterer Schritt – dem ich mich in dieser Arbeit nur annähern werde – hätte deutlich zu machen, wie die Distributionsverhältnisse zum exklusiven Fokus einer Gesellschaftskritik werden konnten. Man müsste die Implikationen entfalten, die im Verhältnis von erstem und drittem Band des Kapitals stecken. Die Marxsche Analyse der Kategorien Wert und Kapital im ersten Band bezieht sich auf die dem Kapitalismus zu Grunde liegenden gesellschaftlichen Beziehungen, auf seine fundamentalen Produktionsverhältnisse. Seine Analyse der Kategorien Produktionspreis und Profit im dritten Band zielt auf die Distributionsverhältnisse. Die Produktions- und Distributionsverhältnisse hängen miteinander zusammen, sind aber nicht identisch. Marx weist darauf hin, dass die Distributionsverhältnisse sich als Kategorien der unmittelbaren Alltagserfahrung darstellen, dass sie manifeste Formen der Produktionsverhältnisse sind, die diese Verhältnisse sowohl ausdrücken als auch verschleiern; und zwar auf eine Weise verschleiern, die dazu führen kann, dass erstere für letzteren gehalten werden. Wenn der Marxsche Begriff der Produktionsverhältnisse, wie im traditionellen Marxismus, nur in Bezug auf die Distributionsweise interpretiert wird, werden die manifesten Formen für das Ganze gehalten. Diese Art systematischer Fehldeutung, die in den bestimmten Erscheinungsformen der kapitalistischen Vergesellschaftung angelegt ist, hat Marx in seinen Ausführungen zum »Fetisch« auf den Begriff zu bringen versucht.
Wenn so die Möglichkeit einer derartigen »kritischen politischen Ökonomie« aus den Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst erklärt worden ist (anstatt sie verwirrtem Denken zuzuschreiben), könnte man zweitens versuchen, die historischen Bedingungen für das Entstehen solcher Denkformen auszuleuchten. Dazu gehört zu analysieren, wie die Arbeiterbewegungen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in ihrem Kampf um Selbstkonstitution, um gesellschaftliche Anerkennung und um die Durchsetzung sozialer und politischer Veränderungen, Gesellschaftstheorie angeeignet und formuliert haben. Die oben skizzierte traditionelle Position zielt offensichtlich darauf, die Würde der Arbeit geltend zu machen und zur Verwirklichung einer Gesellschaft beizutragen, in der die wesenhafte Bedeutung der Arbeit materiell und moralisch anerkannt wird. Das ist insofern verständlich, als im Prozess der Formierung und Konsolidierung der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen die Frage ihrer Selbstabschaffung und der Abschaffung der Arbeit kaum ein zentrales Thema sein konnte. Die auf der Affirmation der »Arbeit« als der Quelle des gesellschaftlichen Reichtums basierende Vorstellung von der Selbstverwirklichung des Proletariats entsprach der Unmittelbarkeit dieses historischen Kontextes genauso wie die damit zusammenhängende Kritik des freien Marktes und des Privateigentums. Doch diese Vorstellung wurde als eine Bestimmung des Sozialismus in die Zukunft projiziert, obwohl sie viel eher ein entwickeltes Kapitalverhältnis als seine Abschaffung impliziert.
Für Marx ist die Abschaffung des Kapitals die notwendige Vorbedingung für die Würde der Arbeit, weil nur dann eine andere Struktur gesellschaftlicher Arbeit, ein anderes Verhältnis von Arbeit und Erholung und andere Formen individueller Arbeit gesellschaftlich allgemein werden können. Die traditionelle Position dagegen spricht einer fragmentierten und entfremdeten Arbeit Würde zu. Es mag so gewesen sein, dass dies für das Selbstwertgefühl der Arbeiter wichtig war und bei der Demokratisierung und Humanisierung kapitalistischer Industriegesellschaften eine entscheidende Rolle gespielt hat. Ironischerweise betreibt diese Position implizit aber die Verewigung solcherart Arbeit, indem sie die ihr innewohnende Form des Wachstums als für die menschliche Existenz notwendig hinstellt. Während Marx die historische Überwindung des »bloßen Arbeiters« als eine Vorbedingung für die Verwirklichung des vollständigen Menschen erachtete, läuft die traditionelle Position darauf hinaus, den vollständigen Menschen als diesen »bloßen Arbeiter« verwirklichen zu wollen.
Die in diesem Buch vorgelegte Interpretation versteht sich selbst als geschichtlich. Die Kapitalismuskritik, die auf einer Analyse der Besonderheit der Formen von Arbeit und Reichtum in dieser Gesellschaft basiert, sollte ihrerseits im Kontext der geschichtlichen Entwicklungen gesehen werden, in denen sich die Unzulänglichkeiten der traditionellen Interpretationen manifestiert haben. Meine Kritik des traditionellen Marxismus ist nicht einfach retrospektiv: um ihre eigene Geltung unter Beweis zu stellen, versucht sie, die Unzulänglichkeiten und Fallen des traditionellen Marxismus zu vermeiden und die traditionelle Interpretation der Kategorien in deren eigene kategoriale Interpretation einzubetten. Damit würde sie beginnen, ihre eigene gesellschaftliche Möglichkeit zu begründen.
Anmerkungen:
Der Textauszug entspricht, bis auf Kürzungen, den Seiten 62-71 des amerikanischen Originals von »Time, labor, and social domination«. Übersetzung und Textbearbeitung durch Norbert Trenkle und Ernst Lohoff auf Grundlage der vorläufigen Übersetzung des ç a-ira-Verlages. Die Fußnoten sind mit Ausnahme der Literaturverweise nicht wiedergegeben.
(1) Vgl. dazu Marx’ Analyse der relativen Wertform und der Äquivalentform in Das Kapital, Band 1 (MEW 23), S. 64 – 78.
(2) MEW 23, S. 87
(3) MEW 23, S. 95
(4) Vgl. in diesem Sinne etwa Maurice Dobb: Political Economy and Capitalism, London 1940, S. 76 – 78
(5) Vgl. etwa Karl Kautsky: Karl Marx’ oekonomische Lehren, Stuttgart 1906, S. 262 – 263
(6) MEW 23, S. 96 FN 33
(7) Für eine ausführliche Kritik dessen, was er »Links-Ricardianismus« nennt, vgl. Hans Georg Backhaus: Materialien zur Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie, in ders.: Dialektik der Wertform, Freiburg 1997 [zuerst 1974, 1975 und 1978].