Du bist in der Krise. Dein Problem heißt Marktwirtschaft.
Emanzipation und Frieden
Das Ansehen der Marktwirtschaft als der angeblich besten aller denkbaren Welten ist arg lädiert. Auch in den vermeintlich entwickelten Ländern beschert sie Millionen Menschen Perspektivlosigkeit, Sozialabbau und Arbeitslosigkeit. Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist mit anderen Krisen des globalen Kapitalismus verwoben: Energie-, Umwelt-, Klima-, Hungerkrise und staatlicher Zerfall in großen Teilen der Welt. Widerstand gegen die Zumutungen der Weltmarktkrise ist dringend notwendig. Aber man sollte auch ihre Ursachen verstehen.
Wenn schon Krise, dann wenigstens keine falsche Krisenanalyse. „Wir bezahlen eure Krise nicht!“ ist z.B. ein dummer Spruch. Als ob ein paar Menschen („ihr“) die Krise gemacht hätten. Viele glauben: „Es gibt eine vernünftige Wirtschaft mit moderaten Gewinnvorstellungen, aber ein paar gierige Manager und Spekulanten stürzen uns ins Unglück, weil sie den Hals nicht voll genug kriegen.“ Wenn es so einfach wäre, könnte man die Krise leicht in den Griff kriegen: Ein paar scharfe Gesetze erlassen und den einen oder anderen Manager in den Knast stecken. Solch billige Rezepte werden ja tatsächlich angepriesen. Aber die Erklärung der Krise mit „Gier“ ist ungefähr genauso intelligent wie die Erklärung der Arbeitslosigkeit mit „Faulheit“. Faulheit und Gier müssten urplötzlich um sich gegriffen haben, schließlich gab es ja mal viel weniger Arbeitslose und keine Krise. Viele – auch Linke – überbieten sich zusammen mit Politikern und Medien darin, den Ackermännern, Schaefflers&Co die Schuld in die Schuhe zu schieben. Wer an Bösewichter glaubt, stellt die Systemfrage nicht. Und umgekehrt.
Wer oder was ist Schuld? Der Kapitalismus lebt von der Illusion ewigen Wachstums. Andernfalls jammern Unternehmerverbände, Gewerkschaften, Politiker und Kommentatoren. Denn dann geht es an Profite, Arbeitsplätze und Steuereinnahmen – an die Grundlagen von Wirtschaft und Staat. Kapital strebt nicht einfach nach Profit, sondern nach Maximalprofit: es muss möglichst viel in Rationalisierung und Ausweitung der Produktion reinvestieren, um im tödlichen Konkurrenzkampf zu überleben. Profit lässt sich nur aus der Verwertung menschlicher Arbeitskraft ziehen, denn nur diese ist in der Lage, mehr Wert zu produzieren, als sie selber hat. Wer vom Verkauf seiner Arbeitskraft leben will, muss einen Nutzen für den Kreislauf aus ewigem Wachstum und Maximalprofit abwerfen. Andernfalls ist er nicht „verwertbar“, sprich überflüssig. Doch Mikroelektronik und allgemeine Computerisierung erfordern immer weniger Menschen, um immer größere und immer billiger produzierte Warenberge anzuhäufen. Es gibt also immer weniger „verwertbare“, entlohnungsberechtigte und profitable Menschen. Folglich flieht das Kapital zunehmend in die Finanzsphäre, wo die Spekulation auf zukünftige Profite das Hamsterrad aus Maximalprofit und ewigem Wachstum noch einmal weiterdreht. Der Kapitalismus bringt jede Menge gierige Leute hervor – oben wie unten. Einige davon sitzen an der Quelle und machen ihren persönlichen Deal. Aber mit ihrer irrwitzigen Finanzakrobatik tun Manager und Börsianer letztendlich genau das, was die Marktwirtschaft verlangt: höchst mögliche Profite für ein unendliches Wachstum herausschlagen. Geht die Kreditwürdigkeit an einer Stelle flöten, fällt das ganze Kartenhaus in sich zusammen. Das erleben wir gerade. Das eigentliche Problem ist also die kapitalistische Wirtschaft selbst mit ihren Grundlagen.
Wie es zum nationalsozialistischen Wahn kam. Weltwirtschaftkrise 1929. Millionen Arbeitslose. Sozialabbau, Elend, Hunger, Erniedrigung. Die Menschen fragten sich: Warum? Wer ist daran schuld? Verständnis für die Zusammenhänge der kapitalistischen Wirtschaft war dünn gesät. Den meisten reichte der Augenschein: es gab Arme, die immer ärmer wurden und Reiche, die immer reicher wurden. Die einen litten unter den Turbulenzen der Krise, die anderen schienen sie zu „beherrschen“. Die antisemitische Wahnvorstellung vom „guten schaffenden und schlechten raffenden Kapital“ und den Juden als „gierigen Bösewichtern“ griff rasch um sich. Kaum mehr als ein Jahrzehnt lag zwischen dem Ausbruch der Krise und der „Endlösung der Judenfrage“. Die deutsche „Volksgemeinschaft“ phantasierte sich ihre „Erlösung“ im Menschheitsverbrechen der Judenvernichtung. Heute scheinen solche Zustände weit weg. Aber wenn einem Beifall geklatscht wird, weil er Börsianern, die sich aus dem Fenster stürzen, hinterhersingt: “Meinetwegen solln sie springen…Wünsche glückliches Gelingen“, so zeigt das: Wo geglaubt wird, dass „schlechte Menschen“ am eigenen Unglück schuld sind, ist es nie weit bis zum Vernichtungswunsch (Konstantin Wecker, “Wenn die Börsianer tanzen”). Und auch der Antisemitismus ist quicklebendig. Schon wieder glaubt jeder dritte Europäer, Juden hätten „zuviel Macht in Wirtschaft und Finanzwelt“ http://diepresse.com/home/panorama/religion/451692/index.do. Wehret den Anfängen.
Wie groß ist der Schwenk der Politik wirklich? Wie kann es sein, dass diejenigen, die noch vor kurzem jeden Gedanken an Regulierung der Finanzmärkte und Verstaatlichungen weit von sich wiesen, fast im Handumdrehen darauf abfahren? Sind Obama, Brown, Merkel, Sarkozy und Berlusconi über Nacht bei attac eingetreten? Warum muss Lafontaine im Bundestag irritiert feststellen: „unsere Vorschläge werden so schnell akzeptiert, dass wir gar nicht mehr nachkommen“? Sind Politiker und Wirtschaftsexperten unter Schockeinwirkung zur Vernunft gekommen? Oder sind die vermeintlichen Alternativen von attac, Linkspartei etc. am Ende gar nicht so alternativ? Markieren Marktradikalismus und Staatsfixierung womöglich nur die Pendelausschläge eines Systems, das sich – egal was es auch tut – immer tiefer in seine Krise verstrickt?
Von der Verstaatlichung der Krise zum Staatsbankrott. Ist Opel „systemrelevant“? Darüber streiten Experten. Unstrittig ist: HartzIV-EmpfängerInnen sind es nicht. Banken sind es auf jeden Fall. Folglich bekommen die einen alles und die andern gucken in die Röhre. Der Staat springt als „letzte Instanz“ ein, um die Wachstums- und Maximalprofitmaschine am Laufen zu halten. Viele, besonders Linke, hoffen auf Rettung durch Verstaatlichungen. Zu unrecht. Denn auch die Staaten sind bereits von der Krise infiziert: sie verschulden sich mit all den Rettungsund Konjunkturpaketen zwangsläufig noch mehr und fangen an, Geld zu drucken und die Inflationsgefahr anzuheizen. Letztendlich wird nichts anderes als die Krise selbst verstaatlicht. Das nächste Platzen der Kreditblasen ist vorprogrammiert und am Horizont winkt das Gespenst des Staatsbankrotts. Abgesehen von den negativen Erfahrungen mit dem Staatssozialismus: Verstaatlichungen sind auch aus deswegen keine wirkliche Alternative.
System failure. Wo keine Kaufkraft, da kein Absatz und keine Realisierung von Profit. Wo aber soll Kaufkraft herkommen, wenn immer mehr Leute „überflüssig“ werden, sprich – es eigentlich keinen „vernünftigen“ Grund mehr gibt, die Profitmasse durch ihre Löhne zu schmälern? Die gigantischen Bankenrettungspakete sind ebenso skandalös wie systemimmanent notwendig. Ohne sie würde die Grundlage der Gesellschaft innerhalb kürzester Frist und weltweit zusammenbrechen. Damit wäre niemand gedient. Wie lange sie aber den globalen Crash noch hinauszögern können, ist vollkommen offen. Die Banken sind schließlich das Herz eines Systems, das auf dem Glauben beruht, es müsse alles und jedes gegenseitig „in-Wert-gesetzt“ und getauscht werden: „Was gibst du mir, was geb’ ich dir?“. Wer keinen „Wert“ hat, erhält auch nichts dafür. Das ist so gesehen nur „gerecht“. Geld regiert nur auf den ersten Blick die Welt. Tatsächlich regiert jenes Wert- und Tauschprinzip, dessen Ausdrucksform das Geld ist. Wenn nun aber eine Phanstastilliarde nach der anderen ebenso schnell in der Hölle verschwindet wie sie die staatlichen Krisenbeschwörer aus dem Himmel herbeigezaubert haben, geht der Glaube ans Geld langsam aber sicher flöten. So verliert die Marktwirtschaft schon aus ganz praktischen Gründen den Boden unter den Füssen: der Kreditfluss versiegt (lat. creditum = das Geglaubte) und das Kreislaufsystem der kapitalistischen Maschine kollabiert. Die gegenwärtige Krise offenbart aber auch, dass auf Dauer keine Gesellschaft existieren kann, die auf dem Tausch- und Wertprinzip beruht. Im Mittelalter war es tabu, die Herrschaft der Kirche anzuzweifeln. Heute herrscht das Denkverbot, die Grundlagen des Systems von Markt, Staat, Arbeit, Kapital, Geld und Nation zu hinterfragen. Die fundamentale Krise der Marktwirtschaft stößt uns aber mit der Nase darauf.
Wer glaubt, es kann so weiter gehen, ist selber in der Krise. Möglichst schnell wieder weitermachen wie bisher? Wieder so viele Autos produzieren wie früher? Genauer gesagt: noch mehr, denn Wachstum muss ja sein? Wieder alle „vollbeschäftigt“ mit irgendwelchem Unsinn, Hauptsache, es lässt sich Geld damit verdienen? Immer noch glauben, dass es mit dem Arbeiten-müssen-um-Geld-zu-verdienen -weil-wir-sonst-nicht- leben-können ewig so weiter geht? In der irren Hoffnung, dass schon noch irgendwas für uns abfallen wird? Bis auch die großen Staaten am Ende sind? Vergesst es. Die Frage, wie man eigentlich das Leben organisiert, wenn das Geld nichts mehr wert ist und die Staaten sich auflösen, kann sich auch in unseren Breiten schnell stellen. Werden wir alle im Elend versinken oder können wir ein besseres Leben aufbauen?
In einer freien und menschlichen Gesellschaft würden sich nicht die einen totarbeiten und die andern totlangweilen. Mehr Freiheit und Solidarität, mehr Zeit zum Lachen, Lieben und guten Leben für alle wäre drin. Mehr Selbstentfaltung und Selbstorganisation ohne die Herrschaft des Wert- und Tauschprinzips wäre möglich. Vergessen wir Marktwirtschaft und Staatssozialismus. Schaffen wir etwas Besseres.
Zum Weiterlesen — Norbert Trenkle, Weltmarktbeben — Andreas Exner, Mythos Geld
— Finanzkapital AG verdi Bezirk Stuttgart, Mensch, denk weiter! „Heuschrecken“ sind keine Erklärung
(März 2009) – Als Flugblatt (pdf)