31.12.1986 

Leserbrief zu Krise des Tauschwerts

[Vorbemerkung: Die Seitentrennung bezieht sich auf die Original-Ausgabe]

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Anmerkungen zu Robert Kurz: “Die Krise des Tauschwerts” – eine konstruktive Polemik (s. MK Nr. 1)

Ich hab’ die Sach’ schon lang heraus. Das Astralfeuer des Sonnenzirkels ist in der goldenen Zahl des Orions von dem Sternbild des Planetensystems in das Universum der Parallaxe mittels des Fixstern-Quadranten in die Ellipse der Ekliptik geraten; folglich muß durch die Diagonale der Approximation der perpendikulären Zirkeln der nächste Komet mit der Welt zusammenstoßen. Die Berechnung ist so klar wie Schuhwix. Freilich hat nicht jeder die Wissenschaft so im klein’ Finger als wie ich; aber auch der minder Gebildete kann alle Tag’ Sachen genug bemerken, welche deutlich beweisen, daß die Welt nimmer lang steht. (J.N. Nestroy)

Das objektive Heraustreten der gesellschaftlichen Produktion aus den Grenzen der fiktiven “Wertgegenständlichkeit” muß sich früher oder später auch an der erscheinenden Oberfläche mit voller Wucht bemerkbar machen. … Das Kapital, das die “miserable Grundlage” (Marx) des Reichtums als Ausbeutung lebendiger Arbeit als Wesenskern hat und diese Grundlage gleichzeitig durch seine eigene Bewegung auflöst, wird und muß mit aller Gewalt versuchen, den “Wert als Wert” zu erhalten, d.h. die leer werdende, ihres gesellschaftlichen Inhalts beraubte Form als allgemeine Verkehrsform weiterlaufen zu lassen. Das muß katastrophale gesellschaftliche Kollisionen zur Folge haben. (R. Kurz)

Der Artikel “Die Krise des Tauschwerts” befaßt sich ausführlich mit der in stofflicher Hinsicht produktiven, wertmäßig “aber” unproduktiven technologischen Arbeit. Ihm liegt eine Auffassung über das Wesen des Werts zugrunde, die hier auf ihre Korrektheit zu prüfen ist.

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Die im Aufsatz angesprochenen Beziehungen von Wert und Stoff zur kapitalistischen Krise werden im Anhang in einem etwas allgemeineren Rahmen behandelt. Die Kurz’schen Prophezeiungen stehen in der Tradition der marxistischen Krisentheorie, die die gleichen Fehler aufweist: Verabsolutierung des Werts und Vermengung von wertmäßigen und stofflichen Aspekten. Die Dualität beider Sphären wird zwar stets beteuert, in den kühnen Berechnungen aber einfach unterschlagen. Hierfür hat der Meister selbst ein trauriges Beispiel geliefert, als er der Nachwelt das Theorem der fallenden Profitrate (die einmal ganz schön hoch gewesen sein muß) hinterließ.

R. Kurz charakterisiert die naturwissenschaftliche Arbeit zutreffend als nicht-wertbildend. Im Zug des wissenschaftlichen Fortschritts fällt die in einem Warenquantum enthaltene Privatarbeit zugunsten der technologischen Arbeit, die abgetrennt vom konkreten Produktionsprozeß geleistet wird und in viele verschiedene Produkte eingeht ohne diesen Wert zuzusetzen.

Der Verfasser führt aus (S. 36ff.), wie sich die Kräfte der Konkurrenz als Triebfeder zur Anwendung der Naturwissenschaft geltend machen: Die Aussicht auf Extramehrwert spornt die Kapitalisten zur Rationalisierung, zur Reduktion lebendiger Arbeit an. Notwendige Folge dieser Entwicklung ist ein Absinken der gesellschaftlichen (Mehr-)Wertmasse.

Welche Bedeutung hat diese Tendenz für das Kapital?

“Abstrakt betrachtet, d.h. jedes Einzelkapital für sich genommen, würde sich … die absurde gegenläufige Bewegung des relativen Mehrwerts darstellen, d.h. pro Arbeiter wird mehr Wert angeeignet, während gleichzeitig die absolute Masse des geschöpften Neuwerts sich vermindert, weil insgesamt weniger lebendige Produktionsarbeit angewendet worden ist.”

Käme der Wertmasse wirklich irgendeine Bedeutung zu, würde das Kapital sich durch die Produktion des relativen Mehrwerts tatsächlich das eigene Grab schaufeln. Die Größe des Werts ist für die kapitalistische Ökonomie notwendigerweise unwesentlich. Zum Beweis dieser Behauptung muß ich etwas ausholen.

Der Tauschwert erscheint im Tauschakt als Proportion zweier Warenquanta. Die offensichtliche Vergleichbarkeit offensichtlich unvergleichbarer Gebrauchswerte läßt auf die Existenz eines “gemeinsamen Dritten”, des Werts, schließen, der die Tauschwertrelationen determiniert. Über die absolute Größe des Werts ist damit noch nichts ausgesagt. Rein empirisch läßt er sich nur bis auf einen konstanten Faktor bestimmen:

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“Stiegen oder fielen die Werte aller Waren gleichzeitig und in derselben Proportion, so würden ihre relativen Werte unverändert bleiben.” (K I [= Karl Marx. Kapital, Bd 1, in: MEW Bd 23. Berlin, Dietz], S. 69).

Durch die Rückführung des Werts auf die gemeinsame Substanz der abstrakten Arbeit gelingt Marx eine absolute Quantifizierung. Wie man leicht bestätigt, hätte er aber ebenso gut das Siebzehnfache der in einer Ware enthaltenen Arbeitszeit als deren Wert definieren können. Die Lücke des “unbestimmten Faktors” kann also auch durch eine theoretische Analyse nicht geschlossen werden. Die Warenbesitzer erliegen also nicht etwa einer Täuschung, wenn sie (wie gleich gezeigt wird) sich nicht vom Wert sondern nur von den Tauschwerten leiten lassen.

Ein Beispiel möge dies verdeutlichen: Auf dem Devisenmarkt interessiert von keiner der dort gehandelten n Währungen deren Wert; die Geldhändler orientieren sich ausschließlich an den n-1 Wechselkursen.

An dieser Stelle kommt erfahrungsgemäß der Einwand, die Argumentation bleibe in der Zirkulationssphäre stecken:

“Der absolute Wert der Ware ist dem Kapitalisten, der sie produziert, an und für sich gleichgültig. Ihn interessiert nur der in ihr steckende und im Verkauf realisierbare Mehrwert.” (K I, S. 338).

Prüfen wir, was es mit der angeblichen Realisation des Werts auf sich hat. Ein Kapitalist möge den ihm durch die Ausbeutung zugefallenen Mehrwert “realisieren” wollen. Da er ihn nicht aus dem Mehrprodukt herausfiltern kann, muß diese “Realisation” über den Tausch erfolgen. Selbst wenn es ihm gelingt, das Mehrprodukt zu verkaufen, also gegen die Geldware einzutauschen, hat er damit keineswegs den Mehrwert realisiert; er hat nur erreicht, daß sich das Mehrprodukt in einer anderen Ware (hier: der Geldware) darstellt. Die eingetauschte Ware hat nämlich Wert, ist aber (genauer: eben deswegen) nicht Wert. Da es die körperlose “Realisation des Werts” nicht gibt, verhält sich der Kapitalist de facto wie der Spekulant am Devisenmarkt; auch für ihn ist nur der Tauschwert (bzw. der Preis), nicht aber der Wert maßgebend. Den Kapitalisten interessiert also weder der Mehrwert noch allein das ihn enthaltende Mehrprodukt sondern dessen Äquivalent: Der Profit, das in Geld verwandelte Mehrprodukt, das einzige Maß für das Gelingen der Ausbeutung. Gleichwohl steht die Erzielung des Mehrprodukts den objektiven kapitalistischen Interessen immer noch näher als die Produktion des Mehrwerts. Jenes muß nur die Geldgestalt annehmen, während jener nirgends erscheinen kann (Bestes Beispiel ist der Produzent der Geldware, dessen Profit mit dem Mehrprodukt zusammenfällt; der Mehrwert ist ihm ziemlich gleichgültig.)

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Der Verfall des Werts einschließlich des Mehrwerts birgt für die Kapitalisten keine Gefahr; er ist nicht einmal “absurd”. Ob er sich auch lohnt, hängt von der Auswirkung auf die Profitrate ab.

Robert Kurz registriert die Unmöglichkeit, den Wertverfall durch eine (quantitative oder qualitative) Ausdehnung der Produktion zu kompensieren:

“In diesem Fall führt die stofflich-technologisch vermittelte ‘Steigerung der Rate des Mehrwerts’ tatsächlich zum Fall der ‘erzeugten Masse des Mehrwerts und daher der Rate des Profits’, d.h. …”.

Die Notwendigkeit einer “Kompensation” wurde bereits widerlegt. Interessant ist jedoch die Frage, in welcher Weise die Verwissenschaftlichung der Produktion die Profitrate beeinflußt. Sie wird im zweiten Abschnitt des Anhangs beantwortet. Als Nebenprodukt fällt dabei eine zweite, von der obigen Argumentation völlig unabhängige Widerlegung der “Kompensations-Notwendigkeit” ab. In enger Anlehnung an den Kurz’schen Aufsatz hat Marx in den “Grundrissen” das “Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate” formuliert; er geht von einer “enormen Entwicklung der scientific powers” aus. Grund genug also, dieses Theorem im vierten Abschnitt des Anhangs zu widerlegen.

Harald J. (München)

Post scriptum der Redaktion:

Dem Leserbrief liegt noch ein 20 Seiten starker mathematischer Anhang bei. Aus Platzgründen, und weil er für Nichtmathematiker nur schwer nachvollziehbar ist, haben wir auf dessen Abdruck verzichtet. Leser(innen), die sich für dieses Papier näher interessieren, mögen sich an die Redaktionsadresse wenden. Sie bekommen dann eine Kopie zugeschickt.

Einige antikritische Anmerkungen:

Wenn unser Kritiker “erfahrungsgemäß den Einwand, die Argumentation bleibe in der Zirkulationssphäre stecken”, erwartet, so will ich ihn nicht enttäuschen und diesen Einwand ein bißchen präzisieren. Genau

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hier liegt wirklich die crux seines Ansatzes. Er nimmt Geld, und damit den Tauschwert überhaupt, nur in seiner Funktion als Zirkulationsmittel. Er geht von der Figur W-G-W (Ware-Geld-Ware) aus, in der das Geld nur als verschwindendes Moment auftaucht und der Inhalt der Bewegung im Händewechsel der Gebrauchswerte besteht. Für diese Bewegung hat er allerdings recht. Im bloßen Warenaustausch vermittels des Geldes ist der absolute Wert, der in den Waren steckt, wirklich völlig gleichgültig und es kommt alleine auf den relativen Wert dieser Waren zueinander an. Dies ist aber nicht mehr so, wenn wir die abstrakteste, für den Umschlag des Kapitals charakteristische Figur G-W-G'(Geld-Ware-mehr Geld) betrachten. Hier ist das Geld, der Tauschwert, nicht mehr bloß vermittelndes, an sich gleichgültiges und flüchtiges Moment, sondern er setzt sich als Selbstzweck. Die Bewegung erlischt hier nicht in der einzelnen Ware, sondern im inkarnierten Tauschwert, im Geld, findet sie ihren Ruhe- und Ausgangspunkt. Unser Kritiker hat Unrecht, wenn er die Unterscheidung der Kreisläufe W-G-W und G-W-G’verwischt, indem er den Unterschied zwischen Warenpöbel und dem Geld als der Königin der Warenwelt einebnet. Wenn er schreibt:

“Selbst wenn es ihm (dem Kapitalisten) gelingt, das Mehrprodukt zu verkaufen, gegen die Geldware einzutauschen, hat er damit keineswegs den Mehrwert realisiert; er hat nur erreicht, daß sich das Mehrprodukt in einer anderen Ware (hier: der Geldware) darstellt,”

so läßt er sich vom demokratischen Schein blenden, den die Warenwelt ausstrahlt, solange der Übergang von Geld und Ware und vor allem von Ware in Geld, flüssig bleibt. Spätestens in der Krise aber wird die privilegierte Stellung des Geldes handgreiflich und die Warendemokratie schlägt um in die brutale Diktatur des Geldes. Wenn die Kapitalisten auf ihren unabsetzbaren Warenbergen sitzen bleiben, wenn der konkrete Reichtum der Warenwelt um jeden Preis der unter kapitalistischen Bedingungen einzig möglichen Form gesellschaftlichen Reichtums, dem Geld, geopfert wird, wenn also Geld als Zahlungsmittel und nicht als Zirkulationsmittel erheischt ist, so zeigt sich, daß es im Kapitalverhältnis allein um den absoluten Wert als solchen gehen kann.

Wenn unser Kritiker meint:

“Die Größe des Werts ist für die kapitalistische Ökonomie notwendigerweise unwesentlich”,

so bringt er pointiert und gegen den Kern der Marx’schen Arbeitswertlehre gewandt, das Credo der nominalistischen Geldtheorie zum Ausdruck. Erst in einer ausführlichen theoretischen Auseinandersetzung mit dem

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inzwischen schon jahrzehntealten Streit zwischen nominalistischer und metallischer Geldtheorie, der sich quer durch alle politischen Lager zieht, wären die in dem Leserbrief angetippten Fragen in ihrer ganzen Tragweite auszuleuchten. Eine solche Arbeit wäre notwendig, um die im Artikel von R. Kurz “Krise des Tauschwerts” aufgeworfenen grundsätzlichen Fragestellungen weiter zu konkretisieren.

Ernst Lohoff für die Redaktion der “Marxistischen Kritik”