»Wenn die Erkenntnis ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen. Die Eule der Minerva beginnt erst in der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.« — G. W. F. Hegel
Johanna W. Stahlmann
Ein pessimistisches Wort. Ein Abgesang auf eine bereits abgelaufene Entwicklung. Ein Lob der retrospektiven Erkenntnis, die nichts verändern will. Nun: die »Eule«, die für den Elster-Verlag fliegt, möchte optimistisch klingen, sie malt ein helleres Grau und scheint sich einzubilden, sie flöge in der Morgendämmerung, sie sage etwas Neues, etwas Originelles, etwas, das der gesellschaftlichen Entwicklung voraus ist. Bisher drei Monographien über Moral, Treue und Mut sind erschienen, um »eine >minima moralia< für ein richtiges Leben hier und erste elastische Normen für eine künftige Moral probeweise« (Editorial) aufzustellen.
Ein wackeres Häuflein deutscher und französischer Autoren, darunter bekannte Namen vom Philosophen Virilio bis zur Filmerin Dörrie, quält sich unter der Federführung des Herausgebers Ruthard Stäblein mit dem Wohl und Wehe, dem Für und Wider von Moral und Tugend herum, eine Renaissance oder Verwirklichung, ein Ins-Recht-Setzen oder eine konstruktive Kritik derselben versuchend. Ein breites Spektrum wird geboten: vom Körperkult der 80er Jahre bis zu den Vorstellungen von Tapferkeit in der Antike, vom großkalibrigen Moralismus eines Botho Strauß (»Ist jeder nur ein Zwischenmensch?«) bis zu den dünnbrettbohrenden Verrechtlichungsphantasien eines Uwe Wesel (»Die Natur mit Rechten ausstatten«). Dieses Spektrum ist so weit, daß einerseits die Lektüre stets spannend bleibt, man sich andererseits aber fragt, ob die Zusammenstellung nicht etwas gezwungen und willkürlich ist.
Beim ersten Lesen jedenfalls drängt sich der Eindruck der Beliebigkeit auf: von dieser Tugend eines, von jener Tugend ein anderes, da ein bißchen mehr Moral, dort ein bißchen weniger, mit der verinnerlichten Verkäuferinnenfrage: »Derf’s a Breckerl mehr sei?« Die Meinungen sind ach so ungemein vielschichtig und offen – man ist ja nicht mehr ideologisch, man wählt aus, was man braucht. Ganz wie der moderne Konsument: »Mal kauft er dies, mal kauft er das, je nach Sachlage und persönlichem Geschmack« (Marktforscher Czsallies). »Ich leb’ mein Leben ganz spontan, wenn ich kann, ich bin so frei, Nescafe ist dabei.« Man ist frei und undogmatisch, man lehnt natürlich jeglichen »kategorischen Imperativ« ab, die Moral soll flexibel und angepaßt sein. Der Anti-Dogmatismus, wie er vor allem von Stäblein (in den Editorials), Schmid (Über Montaigne) und Rüb (»Der kategorische Relativ«) in Anlehnung an Foucaults Spätwerk zelebriert wird, hat allerdings ein krudes Dogma zur Voraussetzung: es kann und darf nicht mehr um fundamentale gesellschaftliche Veränderung gehen, sondern nur um eine Verfeinerung der individuellen Moral, um den Schutz des Menschen, der »schlecht und korrumpierbar, fast ein Tier ist« (Stäblein), vor sich selbst.
Ist damit nicht Moral als äußerlicher Zwang entlarvt? Mitnichten! Die schlechte Welt und ihr Pendant, das Bild des tugendhaften Menschen, sind vorausgesetzt, unhinterfragbar in alle Ewigkeit.
Schon der erste Schlag, zu dem man mächtig ausholt, geht ins Leere. Man geriert sich als kritischer Geist, der einen angeblich herrschenden Trend anprangert, in dem moralisches Denken verpönt sei und Vorstellungen von einer idealen Gesellschaft gehegt würden – ohne zu bemerken, daß man als blinde Eule der Minerva den objektiven Trend nicht kritisiert, sondern unkritisch in ihm aufgeht. Im modischen Bewußtsein ist ja gerade nicht die individuelle, sondern die auf allgemeine Interessen bezogene Moral verpönt. Der Zerfall der gesellschaftlichen Zusammenhänge produziert ein wachsendes Desinteresse an den allgemeinen Angelegenheiten und einen Rückzug auf die individuelle Reflektiertheit und Tugendhaftigkeit, die »Pflege von Charakter und Körper« (Stäblein), deren Elemente sich jeder Einzelne auf dem Jahrmarkt der Tugenden auswählen kann. Die Einzelnen versuchen in einem sich auflösenden gesellschaftlichen Zusammenhang ihre persönliche Identität, ihr Selbst zu retten, indem sie das Allgemeine als Sphäre des Bösen ausklammern und in sich selbst nach dem Wahren und Guten suchen.
Diese »Technologien des Selbst«, von Foucault euphemistisch unter den Begriff »Ästhetik der Existenz« gefaßt und am Beispiel der Spätantike untersucht, haben tatsächlich (vielleicht ohne daß er es bemerkte) längst eine enorme gesellschaftliche Verbreitung gefunden; nicht nur bei den ehemaligen Sozialkritikern, die sich nun beim Opernhören und Joggen selbstkritisch verwirklichen, sondern auch beim Proleten, der nicht mehr wählt und streikt, sondern daheim gärtnert und Bauernschränke bemalt. Diese Art der Selbstverwirklichung mag lächerlich anmuten, und doch entspricht sie Foucaults Anspruch an das Leben, »etwas zu werden, was man am Anfang nicht war« (Technologien des Selbst/ S. 15). Mit diesem Leersatz wird die Scheinflexibilität modernen Daseins nur nachträglich ausgesprochen – nichts Neues wird hier antizipiert. Der späte Foucault wollte den Menschen zeigen, »daß sie weit freier sind, als sie meinen; daß sie Dinge als wahr und evident akzeptieren, die zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte hervorgebracht worden sind …« (ebenda S.16) und hierin folgen ihm Schmid, Rüb und Stäblein mit ihrer situativen Ethik: die Welt wird akzeptiert, wie sie ist, als Rahmen, innerhalb dessen sich die Einzelnen verwirklichen dürfen. Die Abiturientin, die Friseuse wurde – sie wollte kreativ sein, die anschließend begann, Sozialpädagogik zu studieren – Arbeit »am Menschen« war immer noch ihr Ziel, und schließlich als Bedienung in einer schicken Bar zu sich selbst fand – sie wird sich niemals bei Herrn Foucault für die Entdeckung dieser Freiheiten bedanken können, weil sie seine Ethik nie kennenlernen wird und ihrer überhaupt nicht bedarf. Die Objektivität zwingt sie zum Frei-Sein.
Die Freiheit solcher Art setzt die Sehnsucht nach festen Wahrheiten aus sich selbst. Der grausame Entscheidungszwang, den die Willensillusion zeitigt, muß jede Tradition, jeden Dogmatismus und jedes moralische Prinzip als Erleichterung auffassen. Nicht zuletzt deshalb erlebt die totgesagte Moral eine schattenhafte Wiedergeburt.
Foucault selbst ist allerdings viel zu sehr ein Verfechter der Freiheit, um die Schaffung neuer / alter Eigentlichkeiten akzeptieren zu können. Der oben zitierte Satz nimmt denn auch eine überraschende Wendung: man müsse den Menschen zeigen, »daß man diese sogenannte Evidenz kritisieren und zerstören kann«. Was dies bedeuten soll, ist freilich nicht weiter ausgeführt, erscheint wie ein Bonmot in einem völlig anders ausgerichteten Kontext. Dennoch wird deutlich, daß es Foucault nicht um die moralische Zurichtung der Individuen geht. Seine »Wiederentdeckung« der subjektiven Freiheit ist nicht so unkritisch gedacht, wie die Jubelperser der neuen Individualmoral sie übernehmen.
Indem Stäblein, Schmid und Rüb Foucault um eine seiner entscheidenden Prämissen verkürzen, die sich gegen den »Gedanken universeller Notwendigkeiten im menschlichen Dasein« richtet, verkehren sie seine historisch-kritische Fragestellung ungewollt in ein positives Konzept erneuerter Moral. Sie liegen damit nicht nur im Trend eines die Gesellschaftskritik ausklammernden Individualbewußtseins, sondern gehören zugleich zu den verzweifelten letzten Versuchen konservativer Moralrenaissance.
Die moderne Ideologie stellt sich der Welt nicht mehr kritisch gegenüber: Moral, freier Wille, Demokratie, abgegrenzte Subjektivität – die Grundillusionen der Warenproduktion sind blinde Voraussetzung und werden damit zu »universellen Notwendigkeiten menschlichen Daseins«. Man fragt nicht mehr nach dem »Warum?«, sondern nur noch nach dem »Wie?«, nach der Nutzanwendung. Was im Kantschen kategorischen Imperativ noch als Erkenntnis vorhanden ist, die Tatsache, daß eine abstrakte Moral einem seinem Wesen nach unmoralischen Lebensprozeß als äußerliches (apriorisches) Prinzip gegenübergestellt ist, daß also hier hehre Ideale wandeln und dort die »Lupusse« der Warenproduktion miteinander konkurrieren, dieser prozessierende Widerspruch und seine Erkenntnis werden zu einem Brei verrührt, in dem der Geldinteressenmensch als solcher moralisch und tugendhaft werden soll, ohne in Frage gestellt zu werden. Die Unvereinbarkeit des abstrakten Sollens mit dem kruden Alltagsleben, die Leerstelle, die zurück bleibt, wenn man die Ansprüche der kapitalistischen Gesellschaft mit ihrer Realität vergleicht, soll übertüncht werden mittels einer buntscheckigen Palette individueller Tugenden.
Der »kategorische Relativ« soll eine Ethik konstituieren, »die nicht auf universalistischen Prinzipien beruht, sondern gleichsam elastisch und situationsethisch auf die sich wandelnden historischen Bedingungen eingeht« (Rüb) – eine flexible Ethik für den freien Markt. Die Konsumenten sollen sich permanent selbst an den Ohren ziehen und von sich einfordern, was als allgemeine Moral längst verfallen ist. Ein jeder Einzelne ist nun sein eigener Polizist, sein eigener Geistlicher, sein eigener Gott und Staat, er muß sich ständig selbst bestrafen, an sein Gewissen appellieren, sich gnadenlos zwischen Gut und Böse entscheiden, ohne dabei an allgemeine Kriterien sich halten zu können, weil jene nicht mehr existieren, weil er für sich selbst die wahren Tugenden zu finden hat, deren Wahrheit er auch noch begründen können muß. Was kommt bei dieser Dauerüberforderung heraus? Im besten Falle die selbstkritische Erkenntnis, daß jene scheinbar ganz dem Einzelnen eigenen Moralien selbst wieder nur als abstrakt-allgemeine Prinzipien sich entpuppen, der Mikrokosmos des eigenen Innern die selben Widersprüche enthält, die man beim Abstoßen der allgemeinen Interessen überwunden zu haben meinte. Zu soviel Selbstkritik aber kommt es nicht.
Die Autoren wissen, daß die beständige Selbstprüfung eine Überforderung ist; es ist ihren Ansprüchen inhärent, daß nicht jeder an ihrer Verwirklichung teilhaben kann. Die Moral für den Alltag ist nicht verallgemeinerbar. Die von Foucault untersuchten Stoiker werden zum Modell: auf der einen Seite steht die Masse derer, die in den schmutzigen Prozeß hineintauchen müssen und in ihm aufgehen (»fast noch Tiere«), auf der anderen Seite stehen moralisch integere, mit der »Sorge um sich selbst« (Foucault) beschäftigte Intellektuelle, die sich wacker raushalten. Die scheinbar verallgemeinerbare Ethik ist nur die Etikette eines Szene-Ghettos von Damen und Herren, die ihre Hände in Unschuld waschen wollen, indem sie zeigen, wie selbstkritisch und wie anders sie sind. Dieses naive Sich-für-besser-Halten der moralisierenden Ideologen, die mit kulturpessimistischem Habitus die »Anderen« als Idioten, Tiere oder Angepaßte von sich abstoßen, ist nichts den Essayisten eigenes. Je mehr die modernen Menschen an gesicherter Identität verlieren, desto aggressiver müssen sie ihre jeweilige Charaktermaske als Eigentlichkeit rechtfertigen, seien sie nun schaffender Arbeiter, der weitgehend standardisierte Handgriffe tun muß und dennoch stolz die Brust schwellt, oder kritischer Theoretiker, der seine Einsamkeit und Angst als Abscheu vor der schlechten Welt darstellt.
Nun wäre gegen eine kritische Selbstverwirklichung, die nicht »auf die große Utopie«, den »Sankt-Nimmerleinstag« (Stäblein) wartet, nichts einzuwenden, fände sie eben nicht unter der Prämisse einer dogmatischen Ausblendung von Gesellschaftskritik statt. In der Praxis ist dieses Streben nach einer »ästhetischen« und reflektiert-selbstkritischen Existenz durchaus ein Potential, das sich an der Enge eines vom Geld bestimmten Lebens stoßen muß und radikalisieren kann. Wer in einer Welt der Kosten-Nutzen-Logik und des Arbeitsfetischs auch nur versucht, halbwegs gesund zu leben, ein klein wenig Geschmack zu entfalten oder sich »etwas Zeit zu nehmen«, um nur ganz einfache »moralische« Ansprüche an sich selbst zu nennen, wird schnell an die Mauern von Geld und Zweckrationalität prallen, wird mit verseuchten Lebensmitteln, den Scheußlichkeiten der Wegwerfproduktion und dem Zwang, Geld zu verdienen, konfrontiert. Die daraus resultierende Unzufriedenheit findet als solche aber schwerlich einen Ausweg. Im Fetisch individueller Verantwortlichkeiten befangen, weisen die Einzelnen die Schuld anderen Einzelnen zu, weil es innerhalb ihrer individualmoralischen Denkform nicht begreiflich ist, warum ein »Falsches« herauskommen kann, wo alle das »Richtige« wollen. Auf dieser Ebene wird der »Widerstand« immer nur dumpfe Unzufriedenheit, Unlebbarkeit bleiben und entweder in Querulantentum oder zwanghaftem »Positive Thinking« münden. Die unbewußte Inkompatibilität der individuellen Selbstverwirklichung mit der Welt des Geldes bleibt ein unauflösbarer Konflikt.
Die Radikalisierung und Kritik dieser bloß potentiellen Widerstandsmomente, eben das Hinausweisen über individuelle Moralität und abstrakte Prinzipien, ist der entscheidende Schritt und von Intellektuellen, die sich nicht nur selbst beweinen, theoretisch zu leisten. Gerade wenn man auf Adornos »Minima moralia« anspielt, was freilich nur so nebenher geschieht, muß man auch deren zentralen Vermittlungsanspruch zwischen Allgemeinem und Einzelnem beim Wort nehmen, sein Apodiktum, daß es »kein richtiges Leben im Falschen« geben könne, mit kritischen Potenzen in den modernen Lebensformen vermitteln. Adorno sah freilich, was er für unverdinglichte Restbestände hielt – die aus der Vergangenheit verbliebenen Momente »wirklicher« Subjektivität und »wirklichen« Lebens – dahindämmern und konnte keinen Ausweg nach vorne finden. Solche Auswege zu suchen ist ein löbliches Unterfangen, allerdings nicht, indem man die Adornoschen Warnschilder wegräumt und das Sumpfloch zum Wanderweg erklärt. Es gilt nicht, falsches Sein für richtig zu erklären, sondern der gesellschaftlichen Abstraktion unbewußt Inkompatibles und Affirmatives in den »Überlebensstrategien« der Einzelnen zu jener Allgemeinheit kritisch ins Verhältnis zu setzen. Dieses »unbewußt Inkompatible«, welches nicht in der Geldlogik aufgeht, muß sich zugleich jener anpassen, nicht nur, um sich in dieser Welt als Eigentlichkeit zu beweisen, sondern weil es unhinterfragbar im Raster der überkommenen Strukturen denkt und handelt. Auf der Ebene des halbbewußten Handelns erreichte Zweckfreiheit muß immer wieder sich verkaufen, darstellen, beweisen. Die überschießenden Momente sind damit allerdings nicht aufgehoben. Unsere Friseuse aus dem obigen Beispiel ist mit Arbeitsethos und Geld längst nicht mehr zu befriedigen; lebendiger Bezug und qualitativer Anspruch stehen im Vordergrund. Dennoch muß sie ihre Wünsche beständig in die Form individueller Besonderheit kleiden, sich damit als Subjekt beweisen. Hat sie den Platz einmal gefunden, an dem psychologische und pekuniäre Gratifikation »stimmen«, muß sie bis zu einem gewissen Grad im Alltagsprozeß aufgehen. Ihre unbefriedigten Ansprüche überleben jedoch als Momente der Distanz zu sich selbst und zum Prozeß. Bewußt ist sie sich dessen nur, indem sie sich für besser als die Anderen oder ihre Lage für schlechter als die der Anderen hält. Ein kritisches Unwohlsein bleibt zurück, welches sich nicht als Gesellschaftskritik formulieren kann, sondern nur als individualmoralische Kritik an jenen Anderen.
Die individuelle Reflektiertheit und Moralität erweist sich als ein Zwieschlächtiges: einerseits ist jedes Innehalten und Nachdenken, jedes Sich-Wundern bereits »unbewußte Kritik« des zwanghaften Dauerprogresses der Warenproduktion und -verwertung; indem ich mich frage, warum Dies oder jenes jetzt mit mir geschieht oder ich es selbst tue, hebe ich ein Moment der abstrakten Geldzweckhaftigkeit auf. Konsequente Selbstkritik ist Gesellschaftskritik. Zugleich und andererseits ist aber jede Reflexion auch Rechtfertigung meines momentanen Zustandes. Indem ich mir nämlich eine Erklärung meines Verhaltens suchte, muß es mir nun auch als moralisch geprüft, als gerechtfertigt erscheinen. Würde ich dies nicht zustande bringen, büßte ich meine Handlungsfähigkeit ein. So führt jede individualmoralische Prüfung nur weiter im Kreislauf, solange der Kreislauf als Ganzes nicht bewußt aufgehoben wird. Alles Andere läuft auf Handlungsunfähigkeit oder die Selbstlüge, sich für besser und anders zu halten hinaus, auf eben jene Suggestion eines richtigen Lebens im Falschen, vor der sich Adorno so ängstigte.
Sein Diktum wiederum kann leicht zur Akzeptanz des privaten Seins führen, welches nicht so belastet werden solle, »als wäre es noch gesellschaftlich substantiell und individuell angemessen« (Minima Moralia / S. 41). Demgegenüber ist die moralische Kritik des Einzelnen, wie sie in der Buchreihe intendiert ist, ein prinzipieller Fortschritt. Man will den Pessimimus abwerfen, der die Gesellschaft als totalisiert betrachtet. Adornos Schreckensbild – »im Prinzip sind alle Objekte« – klingt gar zu grausam. Dabei bemerkt man nicht, daß die Freiheit »Evidenzen zu Akzeptieren« und dabei seine Freiheit zu beweisen, viel grausamer und unauflöslicher ist als der düsterste Kulturpessimismus, da sie Unmögliches verlangt: die Fähigkeit, sich erfolgreich »um sich selbst zu sorgen«. Diese Selbstsorge, die Foucault schon bei Sokrates aufspürt, ist eine Bürde für die Einzelnen. Auch sie ist längst Allgemeingut geworden im Gesundheits- und Schönheitskult, wie er in Europa und in den USA zelebriert wird – mit dem moralischen Slogan, daß alle erfolgreich sein könnten, wenn sie nur wollten.
Botho Strauß – der weinerliche Adornit – hat in seiner Rückwärtsgewandtheit noch Momente einer Kritik des modernen Lebens. Sein Scheinexeget Stäblein nimmt zwar die allgemeinen Ansprüche von den Schultern der Individuen, bestraft sie dafür jedoch mit der Sisyphosarbeit einer »individuellen Suche nach dem Sinn des Lebens«, der »Treue zu sich selbst«, dem grausamen Zwang zur Entscheidung, zum Erfolg, zur Sinngebung, zu all dem, was die moderne Gesellschaft von den Einzelnen in Permanenz verlangt, ihnen aber nicht zu geben in der Lage ist.
Die Widersprüche im Leben der Einzelnen sind als gesellschaftliche zu enttarnen, nicht ihnen selbst als ihre Schuld und Verantwortung zu überlassen. Ohne die Kritik der scheinbar losgelösten Individualität als solcher muß Reflexion aufs Einzelne zur Affirmation verkommen. Die moralisch perfekt reflektierten Einzelnen sind die konsequentesten Exekutoren einer zwangsindividualisierten Gesellschaft, »die Beliebten, die human jede Gemeinheit entschuldigen und unbestechlich jede nicht genormte Regung als sentimental verfemen« (Adorno).
Der Verzicht auf Gesellschaftskritik schlägt auf die Selbstverwirklichung zurück. Die Beiträge im Band über Treue etwa lesen sich als völlig unreflektierte Affirmation kapitalistischer Sexualmoral. Nicht nur, daß die heterosexuelle Monogamie als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird, auch immanent liest sich das Ganze, als hätte es die Kritik der bürgerlichen Moral in den 60er und 70er Jahren nicht gegeben. Wüßte man nicht, daß solch rigides Pochen auf Treue deren realen Verfall bereits voraussetzt, könnte es einen wahrlich grausen.
Schon Adorno kommt mit seinem Dämmerblick zu einer seltsam anmutenden Romantisierung der Familie und des privaten Lebens, erklärt die Mutterliebe zum letzten verbliebenen Hort der Utopie, die abgetrennte Zweisamkeit zum Ort der Freiheit, ohne dabei jedoch die Schrecken der Monogamie zu unterschlagen. Unsere Elster-Autoren erweisen sich als skrupelloser, sie haben das aktuelle Sein der Geschlechterverhältnisse gemäß ihrer selbstgestellten Aufgabe zur Morgendämmerung zu verklären. Man entblödet sich nicht, die Wiederkunft der ehelichen Treue dem Niedergang der postmodernen Beliebigkeit und einer neuen »Treue zu sich selbst« zuzuschreiben. Mit faszinierender Ignoranz bietet man alte Moralprinzipien als Beweise neuer Subjektivität an.
Die »Ästhetik der Existenz« als individuelle Kritik des Selbst ohne allgemeine Kritik entpuppt sich als Nicht-Kritik, denn das eigene Selbst wird gerade dann affirmiert, wenn es meint, sich aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang heraushalten zu können. Daß dabei Selbstkritik nur als Abstraktum nicht im Wortsinne gemeint ist, beweist Wolfgang Schmid in seinem Aufsatz über Montaigne: »Wohin läufst du in die Irre? Der Essay als Lebensgestaltung«. Er beschreibt Montaigne als modernen Individualisten, der sich zurückzieht und im Schreiben selbst verwirklicht, liest, was er mag, moralisch ist, wie er’s braucht, sich ganz so verhält wie die 1993er Modeautorin Donna Tartt oder auch der BWL-Student und die Modedesignerin von nebenan. Kritisch und toll an Montaigne sei, daß er nicht über das Denken an sich und das Allgemeine spreche, sondern nur von sich selbst, daß er dabei sich selbst reflektiere und kritisiere, und so eben die moderne Existenz als solche in Frage stelle. Schmid aber spricht nie von Schmid und dessen Selbstkritik, wie es der Logik seines Aufsatzes entspräche, sondern ausschließlich von seinem Helden. Man fühlt sich wie bei einem zweistündigen abgelesenen Vortrag über Spontaneität.
Gerade der selbstkritische Aspekt geht so verloren im Voyeurismus des modernen Filmkonsumenten, der immer seinen Helden an seiner Stelle handeln läßt. Der theoretische Schwachpunkt des Konzepts, das die »Selbstsorge« für subversiv gegenüber der allgemeinen Moral hält, liegt (übrigens schon bei Foucault selbst) in der fehlenden Erkenntnis der Widersprüchlichkeit des Prozesses, in dessen Verlauf privatisierte Selbstsorge und allgemeine Moral zum Gegensatzpaar werden und nicht mehr, wie in der klassischen Antike oder auch im Mittelalter, eins sind. So ist die private Selbstsorge ein notwendiger Gegenpol, um das gegenüber dem Einzelnen sorglose System der Warenproduktion aufrechtzuerhalten. Eine Kritik, die sich bloß abstrakt auf die Seite des Einzelnen stellt, affirmiert so die der Objektivität gegenübergestellte Subjektivität. Ihre Moralprinzipien können letztlich doch wieder nur die abstrakt-allgemeinen, über diese abstrakte Subjektivität herrschenden sein.
Einige Aufsätze in der Reihe sind davon allerdings teilweise auszunehmen. In den mehr oder weniger feministischen Beiträgen von Nitzschke, Singer und Drolshagen wird das moderne männliche Subjekt gerade in seiner absurden Selbstverwirklichungssucht zerlegt.
Bernd Nitzschke zeigt nicht nur die Spaltung von privat und öffentlich, von weiblicher und männlicher Tugend, er dechiffriert die »schein autonomen Subjekte, die sich einbilden, unvertauschbar zu sein, … als Schnittpunkte eines den gesellschaftlichen Betrieb rastlos in Gang haltenden Tauschprinzips«. Die privatisierte »Weiblichkeit« entdeckt er als deren notwendiges Pendant.
Mona Singer stellt die Sehnsucht nach festen moralischen Normen in den Kontext einer Welt der Beliebigkeit, Ohnmacht und Komplexität – als notwendigen Halt für die Haltlosen. Jedes Ich existiert in Abhängigkeit, das bindungslose Ich ist eine »Illusion der männlichen Konzeption des Selbst«.
Auch hier muß freilich Morgendämmerung zelebriert werden. Daß sowohl Nitzschke als auch Singer ihre kritischen Ansätze schließlich ins »Verwirklichbare« umbiegen, zeigt, wie schwer es inzwischen geworden ist, eine gesellschaftliche Veränderung überhaupt nur zu denken.
Singer affirmiert die weibliche Moral der Gastfreundschaft, einer Zuwendung, die zugleich distanziert sei, als bessere Moral und wendet damit einen weiteren Trick an, den toten Hund zu reanimieren. Es wird suggeriert, die Moral müsse eine Renaissance erfahren, weil sie noch nicht wirklich verwirklicht sei. Totgesagte leben länger, indem man von ihnen behauptet, sie hätten ihre Aufgabe auf Erden noch nicht erfüllt. Die Moral und ihre Tugenden wandelten im Schattenreich dahin, um nunmehr von den Elsterautoren erweckt und ihrem wahren Ziele zugeführt zu werden. Die herrschende Moral ist kaputt, also muß man die individuell selbstkritische, die wirkliche Moral der Stoa wiedererwecken; die bedingungslose Treue hat sich als soldatische Tugend in aller Schrecklichkeit gezeigt, also bedarf es der Treue zu sich selbst, der Ehrlichkeit im eigenen Handeln; der Mut hat sich als archaisches Heldentum überlebt, also bedarf es des vernünftigen Alltagsmutes des kleinen Mannes von der Straße. Die Moralen und Tugenden werden so lange gemodelt, bis sie dem modernen aufgeklärten Bewußtsein entsprechen, bis sie in den Alltagstrott passen, bis sie allerdings auch kaum mehr erkennbar sind. So kehrt dann die gemodelte Moral immer wieder zu ihrer Idealität zurück, der Widerspruch zwischen Realität und Moral bleibt sich treu.
Im Band über die Treue findet sich denn auch zunächst die Kritik der überlieferten Vorstellungen von Treue. Die Nibelungentreue wolle man ja nun nicht, auch hätte der deutsche Fahneneid bedingungslose Treue zur Genüge denunziert. Im Beitrag von Buchheim über die Waffen-SS wird dann nachgewiesen, daß die getreuen Kameraden ja nicht wirklich treu waren. Auch die beliebig gewordenen Liebesverhältnisse führen nicht zu der Erkenntnis, daß Treue sich als obsolet erweist, wenn Chaos sie irrealisiert, sondern zu der bahnbrechenden Erkenntnis, daß eben die »Treue zu sich selbst« Voraussetzung der Treue zum Anderen sei.
Auch wenn in den Obertönen einzelner Beiträge anklingt, daß Treue Verhältnisse der Untreue voraussetzt, daß sie sich von der selbstverständlichen Treue zum lösbaren Versprechen, also zum Vertragsverhältnis (Winter) wandelt, wird dies nicht mit Konsequenz dargestellt, nicht im gesamten gesellschaftlichen Kontext betrachtet, wird nicht gezeigt, daß die feudale Tugend Treue mit Auflösung der unmittelbaren Abhängigkeitsverhältnisse vom formalen Vertragsrecht ersetzt wird und deshalb zu einem Ideal mutiert, daß sie, je weniger öffentliches und ökonomisches Handeln von Treue gekennzeichnet sind, desto mehr zur Privatsache einerseits, zum Ideal andererseits wird. Zerschellen dann auch noch die Freundschafts- und Liebesschwüre an der vom Geld bestimmten Realität, werden auch die Ideale langsam lächerlich.
Ich sehe die Autoren schon abwinken: … »das ist doch ein alter Hut«, »alles ist historisch« und »Werden und Vergehen«, »und so weiter«, »da sind wir doch schon durch« – und komme so zum eigentlich ärgerlichen Teil der Buchreihe. Man hat die Gesellschaftskritik aufgegeben- das ist der allgemeine Trend und damit verziehen; man sammelt chaotisch alle möglichen Beiträge, weil man sowieso nicht weiß, wohin man will – auch verziehen. Was wirklich verärgert beim Lesen, ist das permanente »Da-sind-wir-doch-schon-durch« der Autoren, das Voraussetzen von Erkenntnissen, die man gar nicht hat, allein schon deswegen nicht haben kann, weil man sie nicht mitreflektiert. Auch hier liegt man im Trend der modernen Zeiten, wo die Abgeklärtheit vor der Aufgeklärtheit kommt, wo Lebensweisheit zur Attitüde der 15jährigen wird.
Von Publizisten, die sich als Philosophen geben, darf man mehr erwarten. Bestechend ist die Schlampigkeit hinsichtlich der Konsequenzen dessen, was man konstatiert oder veröffentlicht. Man will nur »von verschiedenen Seiten beleuchten«, »Seiteneinstiege schaffen« (Stäblein), versucht sich mit dieser Vorankündigung unangreifbar zu machen. Und dennoch ist es einfach Schülerzeitungsjournalismus oder blanke Zustimmung, unkritisierte Interviews zu veröffentlichen, wie es Weber (»Heimat bei einem treuen Menschen«) und Stegassy (»Werte pflegen, solange noch Hoffnung besteht«) tun. Der zelebrierte Anti-Dogmatismus erweist sich so in Wahrheit als sein Gegenteil: die bürgerlichen Geschlechter- und Beziehungsverhältnisse werden als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, zu Evidenzen verklärt. Man muß anscheinend erst wieder betonen, daß Monogamie ein Gewaltverhältnis ist, die Treue zum Gatten nicht die letzte Hoffnung, sondern verinnerlichter Zwang. In ihrer Selbstbespiegelung zeigen die Intellektuellen nur noch sich selbst, ihren Zustand, nicht mehr die Kritik der Zustände. Man zelebriert moralisches Dasein, und darin liegt die Lebenslüge.
Die Crux ist: man findet die Tugenden nicht mehr in sich selbst, nicht mehr in seiner Umwelt, man muß sie re-konstruieren und projizieren. Man entwickelt eine diffuse Sehnsucht nach ihnen, weil sie in der Alltagswelt als überflüssig erscheinen. Band 111 über den Mut wühlt mit Ausdauer und Akribie in der Vergangenheit und beweist schlagend, daß es des Muts in einer langweiligen Angestelltengesellschaft nicht mehr bedarf.
Die Beiträge handeln vom Widerstand gegen den Faschismus, gegen das inzwischen unreflektiert damit gleichgesetzte DDR-Regime, von Homer, vom japanischen Schwertkampf, von Filmen – nur nicht von der eigenen Gegenwart der Autoren, denn deren »Existenz« ist »unästhetisch«. Man sucht sich Leinwandidole, wie Henriot, der die Trotzmündchen der französischen 80er-Jahre-Filmsternchen wie der Inbegriff weiblichen Mutes vorkommen, oder man interviewt tapfere Antifaschisten wie Klein (»Frauen in Auschwitz«) und Sonnenschein (»Als Edelweißpirat gegen Hitler«), um in ihnen den Mut, den man selbst nicht braucht, wiederzufinden. Man läßt die Unterschiede der historischen Situation weg und abstrahiert von sich selbst – hier wäre die von Foucault und Montaigne intendierte Selbstkritik durchaus am Platz.
Ein besserer Mut soll erfunden werden, denn: » James Bond und Rambo sind nicht mutig, sie zeigen Mut« (Stäblein). Und sicherlich würde niemand die Lobeshymne von Canguilhem über den antifaschistischen Professor Cavaillés mit Sylvester Stallone besetzen – während der ganzen Lektüre des schwärmerischen Aufsatzes steht Montgomery Clift vor dem geistigen Auge des Lesers.
Der Mut ist längst eine nostalgisches Verlangen geworden, eine Sehnsucht nach einem Außerhalb der Warenwelt, dem allerdings auch Skinheads in ihren Mutproben huldigen. Einmal noch mutiger Kämpfer sein dürfen und nicht nur ein Schreibtischtäter.
Neben dem Heldengesang existiert noch eine andere Linie in dem Mut-Band. Man möchte den Heldenmut zum Alltagsmut wandeln. Die Zivilcourage (ausgerechnet der gräßliche Weizsäcker dient als Beispiel) und das Zu-sich-selbst-Stehen sollen die Entidealisierung und Praktikabilität des Mutes ermöglichen. Mut und Vernunft sollen miteinander vermittelt werden. Der mutige kleine Mann von der Straße, der zu sich selbst steht und in seinem individuellen Bereich anständig und tapfer ist, wird zum Ideal erhoben. Auch dieses »Konzept« ist im schlechten Sinne ästhetisch und zeigt: die »Elstermoral« basiert auf einer uralten Prämisse amerikanischer Filmhelden – die schlechte Gesellschaft schlecht sein lassen und im eigenen Umfeld für Gerechtigkeit sorgen. Goebbels war so begeistert vom Hollywoodkonzept, daß er gegen Ende des zweiten Weltkriegs ein Großprojekt für einen Film um solche »kleinen« Helden startete und damit zum eigentlichen Erfinder der Lindenstraße wurde.
Der Mut als Tugend macht aber nur Sinn als Gegenmodell des tristen Alltags, als Kindertraum vom wilden Westen. Der vernünftige Alltagsmut, das rationalisierte Eingreifen im richtigen Moment, liefert nicht die »kicks and thrills«, die gegen die Langeweile helfen. Wieder wird nur Verantwortung auf die Schultern der Einzelnen geladen. Nun sollen sie auch noch abwägen und integer sein. Ich jedenfalls werde mir weiterhin Raumschiff Enterprise anschauen und nicht Lindenstraße.
Man verstehe mich nicht falsch: es ist nichts einzuwenden gegen Selbstverwirklichung, Selbsterkenntnis, Selbstsorge, Treue zu sich selbst und gegen tugendhaftes Verhalten, Verläßlichkeit, Höflichkeit, vernünftigen Mut. Die »antimoralischen« Beiträge von Baudrillard, Topor und Drolshagen zeigen in ihrem scheinbaren ironischen Drüberstehen die gleiche Hilflosigkeit wie ihre Pendants. Baudrillard, der die Indifferenz bejahen möchte, um »sich selbst zu destabilisieren, eine Leere herzustellen und dadurch eine Kettenreaktion gegen das hervorzurufen, was ich zerfallen sehen möchte«, bejubelt andererseits in peinlicher Weise die angeblich intakte Moraltradition der Japaner. Topor liest sich nach der Lektüre des guten und edlen Jens Reich einerseits erfrischend, als wäre die Kirchentür plötzlich offen, aber er sagt kaum mehr als Nichts.
Drolshagen macht sich über Perfektionismus und Körperkult lustig, dabei allerdings die Konsumentenvorstellung affirmierend, daß Anstrengung, Askese, gesunde Ernährung etc. nur ein Verzicht auf Lebensqualität sein könnten. Ihre Kritik der Selbstverwirklichungssucht der modernen Individuen wird durch eigenen Erfahrungsmangel einseitig. Dem »Fressen-Ficken-Fernsehen« der Nachkriegsgeneration gegenüber kann man den Körperkult der 80er und 90er Jahre getrost als Fortschritt bezeichnen. Die Depravierung des menschlichen Körpers in der kapitalistischen Lebenswelt mußte eine Gegenbewegung hervorrufen, die freilich, um in jener Welt bestehen zu können, fetischistische Form annehmen muß. Die Aneignung des eigenen Körpers kommt als aufgeplusterter Identitätskult, mit viel Geschwätz und buntem Plastik daher, ohne damit seinen Charakter als Gegenbewegung völlig verleugnen zu können. Was auf der einen Seite die Übersteigerung eines hohlen Individualismus ist, erweist sich bei näherem Hinsehen als ambivalent. Der sogenannte Breitensport ist »Sorge um sich selbst« im Sinne unmittelbarer Überlebensnotwendigkeit; Bewegung ist ein »natürliches Bedürfnis«. Darüberhinaus handeln die Individuen ohne unmittelbaren Verwertungs- und Erfolgszweck, sie wollen sich »verwirklichen«, »erfahren«, sie erleben ihren Körper als ein »Anderes« gegenüber der Arbeitswelt. Dort ist er nur notwendiges Anhängsel einer gesellschaftlichen Maschinerie – hier gehört er ihnen. Was liegt näher als diese »Erfahrung des eigenen Selbst« zur Eigentlichkeit zu stilisieren, und was wiederum näher, als diese Stilisierung als Ich-Kult zu entlarven. Die Moraldebatte kommt aus dieser Dichotomie nicht heraus. Die »Technologien des Selbst« als Potenzen einer Kritik der Warenproduktion wären untersuchenswert und sind gewiß mehr als bloße Beweise eines Verfalls des Kapitalismus.
Mut, Treue, Höflichkeit und Takt sind in der Praxis sicher der völligen Verwahrlosung vorzuziehen, gerade auch als Voraussetzungen gesellschaftlicher Diskussion. Die dogmatische Ablehnung einer grundsätzlichen Kritik aber macht sie zu bloß »ästhetischen minima moralia« einer Spielwiese der Selbstbeweihräucherung. Die Unterordnung unter die Zwänge des Geldes, die Verhältnisse von »tapferen« Männern und »trotzigen« Frauen reproduzieren sich dort von selbst – das zeigt schon die Lektüre.
Nein! Auch wenn die Damen und Herren Autoren in der einbrechenden Dämmerung fliegen; mit einer Eule der Minerva haben wir es hier nicht zu tun, denn der Erkenntnisanspruch verkommt zur völligen Konsequenzlosigkeit, der Anspruch einer Erneuerung der Moral zu einem Jahrmarkt der Tugenden. So scheint es der Elstern Art zu sein:
»Wenn Wankelmut beim Herzen wohnt, wie das mit Leid der Seele lohnt! Denn scheckig nach der Elstern Art, ist, wer die Treu mit Untreu paart.« — Wolfram von Eschenbach
Literatur
Moral / Erkundungen über einen strapazierten Begriff
Treue / Zwischen Vertrauen und Starrsinn
Mut/ Wiederentdeckung einer persönlichen Kategorie
Herausgegeben von Ruthard Stäblein, Elsterverlag / Baden-Baden 1993.
Technologien des Selbst / Foucault u.a., S. Fischer / Frankfurt 1993.
Minima Moralia / Th. W Adorno, Suhrkamp / Frankfurt 1951.