31.12.1993 

Krisis 13 — Editorial

Inwieweit unsere Diagnosen über die fundamentale Krise des warenförmigen Weltzusammenhangs zutreffen, darüber gehen die Meinungen in der mehr oder weniger geneigten Öffentlichkeit weit auseinander. Immerhin wird die Krisenanalyse angesichts der Tatsachen nicht mehr derart borniert und geringschätzig abgewehrt wie noch vor einigen Jahren. Daß nach dem Süden und Osten nun auch der Westen selbst in die Reproduktionskrise stürzt, kann inzwischen bei Professor Engels u. Co. in der Wirtschaftswoche nachgelesen werden, und selbst im restlinken Spektrum, dem es ganz besonders schwer fällt, sich vom Glauben an die Allmacht des Kapitals zu verabschieden, scheinen klammheimlich Krisendebatten zu beginnen.

Eines hat sich allerdings nicht geändert. Auch wenn den von uns entworfenen Zusammenbruchs-Szenarios durchaus allmählich ein gewisser Realitätsgehalt zugetraut wird, so bleibt doch der stets wiederholte Vorwurf, wir gefielen uns darin, die Apokalypse an die Wand zu malen. Die Kritiker des warenproduzierenden Systems, so heißt es nach wie vor, seien bloße »Untergangspropheten« mit eher nekrophilen Neigungen, die ein rein objektivistisches, negatives und nicht am leidenden und kämpfenden Subjekt orientiertes Denken an den Tag legten. »Robert Kurz automatisiert den Untergang«, so konstatiert etwa Gerhard Scheit in einer durchaus wohlwollenden kritischen Erörterung (Konkret 10/93), »(er) scheint das Eingreifen gar nicht für nötig zu halten: Die Welt richtet sich erst einmal selber zugrunde. Und dem Theoretiker ist aufgegeben, den Automatismus des Untergangs zu interpretieren«. Einen ganz ähnlichen Ton schlägt auch Franz Knipping in seiner Rezension unseres im September ’93 erschienenen Buches Rosemaries Babies – Die Demokratie und ihre Rechtsradikalen an. Sichtlich ratlos resümiert er die Aufsätze zum neuen Rechtsradikalismus mit dem vielsagenden Satz: »Die Antworten auf die Frage, was gegen die rechte Gewalt getan werden muß, genügen vielleicht theoretischen Ansprüchen, für die politische Arbeit sind sie nur schwer nutzbar« (Neues Deutschland, Beilage zur Frankfurter Buchmesse 1993).

Derlei Anklagen lösen bei uns ein zwiespältiges Gefühl aus. Einerseits könnte natürlich geantwortet werden, daß von Theorie und Analyse billigerweise nicht verlangt werden darf, die Antworten, Konzepte (oder gar Rezepte) gleich mitzuliefern, daß die Rezipienten und Kritiker sich als bloß auswählende Konsumenten gerieren und somit eigentlich den Diskurs verweigern, ja sogar im Grunde genommen so tun, als handle es sich lediglich um innertheoretische Probleme, mit denen sie selbst in ihrem praktischen Leben gar nichts zu tun hätten und zu denen man/frau sich zustimmend oder ablehnend verhalten könnte. Andererseits ist die abstrakte Richtigkeit einer solchen Antwort zweifellos unbefriedigend. Letztlich müssen Theorie und Analyse wenigstens einen Zugang zu auflösenden Konzepten ermöglichen, wenn der Gegenstand wirklich durchdrungen wird. Das ist allerdings nicht unmittelbar möglich, sondern nur durch eine ganze Reihe von Vermittlungen hindurch; und das kurzschlüssige Einklagen der »Antwort« droht eben diese notwendigen Vermittlungen abzuschneiden. Außerdem folgt die Theoriebildung selber ebensowenig wie ihre gesellschaftliche Vermittlung einer innertheoretischen oder »methodischen« Systematik, wie es die Wissenschafts-Mystifikationen unterstellen, sondern sie ist mutativ, unsystematisch und springt zwischen Themen, Ebenen und Bezügen (logischer, historischer, empirischer und tagesaktueller Art etc.), um erst allmählich ein erkennbares Bild zu weben und erst im nachhinein so etwas wie Systematik und Methodik (in einem kritisch reflektierten Sinne) erkennen zu lassen. Wie es also keine durchmarkierte Einbahnstraße von der Hypothese zum Beweis oder von der Empirie zur Theorie gibt, ebensowenig gibt es eine solche von der Theorie zur Praxis (wie überhaupt diese Begriffe in ihrer abstrakten Gegensätzlichkeit nur begrenzt tauglich sind).

Es handelt sich aber keineswegs nur um ein Problem der Vorgehensweise, wie von der Analyse eines objektivierten Zusammenhangs zum »Eingreifen« zu gelangen wäre. Die crux besteht darin, daß schon die Prämissen ungeklärt sind. Tatsache ist, daß für die meisten mehr oder weniger kritischen Rezipienten »Krisenanalyse« und »Kritik der warenproduzierenden Gesellschaft« völlig auseinanderfallen. Die immanente, »objektive« Krisenanalyse, das Aufzeigen der logischen und materialen Widersprüche wird inzwischen selbst von theoretisch wenig anspruchsvollen Menschen als plausibel und (weitgehend oder zunehmend) als realitätsgerecht und mit der eigenen Wahrnehmung übereinstimmend empfunden, während umgekehrt die für uns daraus folgende Kritik der Warenproduktion als solcher selbst von den theoretisch Anspruchsvollsten entweder abgelehnt oder nicht verstanden wird, weil eine Krisenbewältigung nur in Warenkategorien vorstellbar ist, ja überhaupt nur warenförmig gedacht werden kann. So müssen wir argwöhnen, daß es in Wahrheit gar nicht um einen Gegensatz von »objektivistischer« Theorie einerseits und aufhebendem »Eingreifen« andererseits geht, sondern daß vielmehr über die Natur und die Zielsetzungen dieses möglichen »Eingreifens« keinerlei Klarheit und Übereinstimmung besteht.

Dies gilt auf spezifische Weise offenbar auch für den minoritären Teil des alten linken und linksradikalen Diskurses, der unser Wiederaufnehmen einer grundsätzlichen Kritik der Warengesellschaft zunächst durchaus begrüßt und als positive Perspektive aufgenommen hat, teils mit und teils ohne Akzeptanz der Krisenprognose (was allein schon von groben Mißverständnissen zeugt, denn diese beiden Momente sind überhaupt nicht zu trennen, weder so- noch andersherum). Inzwischen gibt es wohl so etwas wie eine »linksradikale Enttäuschung« über die früher als Geheimtip gehandelte Krisis. Wir haben nicht nur ein Problem, wir sind anscheinend auch eines. Wenn ein und dieselbe theoretische Position von den einen als ultraradikaler Utopismus und von den anderen als kapitalfreundlicher Erzreformismus verteufelt wird, dann muß mit den Kriterien der Beurteiler etwas nicht stimmen. Es scheint so zu sein, daß auch diejenigen, die glaubten, sich mit der Perspektive einer Kritik der Warenproduktion anfreunden zu können, dies noch ganz aus den alten linken Schützengräben heraus getan haben. Dafür jedoch sind wir eine völlig falsche Adresse. Wie sich herausgestellt hat, daß nicht nur die »bürgerlichen«, sondern auch die linken Konzepte zur Krisenbewältigung völlig im waffenproduzierenden System befangen bleiben, so stellt sich auch heraus, daß jede »linksradikale« Vorstellung von Kritik der Warenproduktion schon nach der ersten Wegbiegung munter diese Kritik in unerkannten abgeleiteten Formen eben dieses vermeintlich kritisierten Systems formuliert und ausagiert. So sind wir zu dem Schluß gekommen, daß »Linkssein« in allen seinen Fraktionen ganz genauso wie »Rechtssein« nichts anderes als eine Variation warenförmigen Bewußtseins darstellt und selber eine zu überwindende (statt zu erneuernde) Größe ist, wenn mit der Kritik der Warengesellschaft tatsächlich ernst gemacht werden soll.

Es ist für uns längst (und mehrfach abgehandelt) eine Selbstverständlichkeit, daß der »Klassenkampf« nur noch Geschichte ist und zur Durchsetzungsstory des warenproduzierenden Systems gehört, dessen »innere Unruhe« er war, daß er aber keinen Grund für eine Systemtransformation bietet und auch die Marxsche Theorie hier sortiert und transformiert werden muß. Dagegen denkt gerade der linke Scheinradikalismus mit altersschwacher Hartnäckigkeit in den Bahnen des Klassenkampfs und eben deswegen blind warenförmig weiter, ohne sich über diesen Charakter seines Denkens überhaupt Rechenschaft ablegen zu können. Dasselbe gilt noch viel allgemeiner für die Kategorie des Politischen. Da die »Politik« als solche eine Sphäre der Warengesellschaft darstellt, kann es uns überhaupt nicht darum gehen, umstandslos »politische Wirksamkeit« und »politische Praxis« zu postulieren oder gar harmlose Staatsbürgervereine wie die PDS oder die Grünen für die »politische Arbeit« zu munitionieren. Die Kritik der Warengesellschaft schließt die Kritik des Politischen zwingend mit ein, und daher ist es durchaus in unserem Sinne, wenn die »Politikverdrossenheit« sich nicht mehr in die stehenden Gewässer des Parteien(un)wesens zurücklenken läßt. Zwar ist das »postpolitische« Terrain ein gefährliches und heute fast nur rassistisch und fundamentalistisch besetzt, aber durch dieses Terrain wird eine emanzipatorische Systemkritik in Auseinandersetzung mit der neuen Barbarei hindurchmüssen. Sicher gilt dies umgekehrt auch für die politische Sphäre selber, aber im treuherzigen, unreflektierten und altbackenen Sinne »politisch« kann eine Aufhebungsbewegung keinesfalls sein.

Diese sehr allgemeinen und provisorischen Aussagen, mit denen wir uns an diesem Punkt bisher beholfen haben, können auf die Dauer nicht befriedigen; daher wird die Suche nach Anknüpfungspunkten und Vermittlungsschritten für eine emanzipatorische, aufhebende Bewegung quer zu den alten Fronten zu den dringenden Aufgaben der weiteren theoretischen Arbeit gehören. Diese Ankündigung dürften manche unserer Kritiker sicherlich mit Skepsis aufnehmen. In der Tat wird vermutlich die Vermittlung der Warenformkritik mit aktuellen Problemen und gesellschaftspolitischen Debatten (Ökosozialprodukt/Ökobilanzen und »sustainable development«, Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich, Veränderung der internationalen Beziehungen usw.) eine fordistisch sozialisierte Linke erst recht aufschreien lassen. Die Idee einer Entkoppelung der Ressourcen von Markt und Staat zu entwickeln, muß auch praktisch in die Polemik gegen die altlinke Identität ebenso wie gegen das herrschende Bewußtsein führen. Das Problem ist hier abermals, daß dieses Terrain nicht emanzipatorisch, sondern neorassistisch, elite-ideologisch oder plump technikfeindlich etc. besetzt ist. Wie schon in den früheren Brüchen des warenförmigen Modernisierungsprozesses versuchen auch jetzt, am definitiven Ende der warenproduzierenden Moderne, ein autoritärer Neokonservatismus und ein phantastisch rückwärtsgewandter Neo-Rechtsradikalismus in die konzeptionelle Lücke zu stoßen. Aber die Rechte ist in diesem Sinne erst recht und ebenso wie die Linke nur Produkt und Verfallsform der Modernisierung; sie wittert völlig zu Unrecht Morgenluft.

Eine Hinwendung zu praktisch-konzeptionellen Ansätzen muß allerdings begleitet sein von einer weitergehenden Kritik der Prämissen von Aufklärung und Gesellschaftstheorie in der Hülle der Warenform. Diese Aufgabe ist mit den Ansätzen einer Kritik des Klassenkampf-Paradigmas und einer Kritik des Politischen noch längst nicht erledigt. Die Versuche eines transformierenden Diskurses angesichts einer gründlich veränderten Wirklichkeit, wo immer sie unternommen werden, leiden gegenwärtig daran, daß das Aufklärungsdenken entweder weitergesponnen wird oder scheinbar nur von rechts kritisiert werden kann, wobei jeweils das Verhältnis zu den Zumutungen der Marktwirtschaftsdemokratie dubios bleibt. Der kryptische Text von Botho Strauß, der so viel »antifaschistischen« und demokratischen Mumienstaub aufgewirbelt hat, zeigt in seiner Zwiespältigkeit und Amalgamierung kritischer und affirmativer, aufklärerischer und konservativer, linker und rechter Motive die Hilflosigkeit des Bezugs auf den oxydierenden Aufklärungsfundus. Solche diskursiven Desaster verweisen darauf, daß das finstere Geraune der »konservativen Revolution» gegen die Logik des Geldes und gegen westliche Rationalität auch in aufgewärmten Fassungen außer einigen aphoristischen Teileinsichten in der Hauptsache nur ebenso undurchsichtig wabernde wie übelriechende Reflexionsblasen hervorzutreiben vermag. So ist kein aufhebendes Denken über die bürgerliche Aufklärung hinaus zu gewinnen. Diese Aufgabe kann nur im Kontext präziser Ökonomie- und Formkritik gelöst werden, und allein die Marxsche Theorie liefert den Ausgangspunkt dazu, freilich derjenige Teil des Marxschen Denkens, mit dem der modernisierungs-immanente Arbeiterbewegungsmarxismus nie etwas anfangen konnte, und der erst auf der heutigen Entwicklungshöhe und Krisenreife des warenproduzierenden Systems relevant wird.

Einen Knotenpunkt sowohl der theoretischen Meta-Reflexion als auch der praktisch-konzeptionellen Anstrengungen bilden der aufklärerische Subjektbegriff und seine postmoderne Dekonstruktion. Diese vielfältige Dekonstruktion des Subjekts wird heute durchschattiert von ebensovielen post-postmodernen Subjektrettungsprojekten, die ihrerseits wieder irgendwelche theoretischen Leichenteile des Aufklärungsdenkens ausgraben. Ob als neokonservativer Rekurs auf das dezisionistische Elite-Subjekt, ob als post-68er Beschwören des urbanen, redseligen und bürgersinnigen Aushandlungs-Subjekts oder als post-arbeiterbewegte und spät-linksradikale Spitzwegphantasie jenes leidenden und kämpfenden Militanz-Subjekts: der Atomkern warenförmiger Konstitution bleibt verschlossen. Offenbar ist die Dekonstruktion des Subjektbegriffs nicht gründlich genug gewesen und hat zu nichts geführt. Damit aber wird die Frage der Praxis und der Veränderung immer wieder auf den alten bürgerlichen Ausgangspunkt zurückgebogen.

Unser Insistieren auf die Subjektlosigkeit des warenförmigen Vergesellschaftungsprozesses wird also entweder als bloß affirmative Subjektlosigkeitstheorie mißverstanden, synonym mit den bereits wieder ausgelutschten postmodernen Dekonstruktionen bzw. mit der Systemtheorie etc., und also prinzipiell als praxis- und konzeptionsunfähig. Oder das Postulat einer Aufhebung der Warenform wird als unglaubwürdig empfunden, solange nicht »das Subjekt« dieser Aufhebung angegeben werden kann. Wenn die bisherigen historischen Oppositionsbewegungen, insbesondere die Arbeiterbewegung, unserer Theorie zufolge allesamt in der einen oder anderen Weise bürgerlich-warenförmig immanent gewesen sind, wenn jede Gesellschaftskritik in der Vergangenheit den Vormarsch des warenproduzierenden Systems nur beschleunigen statt aufhalten konnte, weshalb, so wird gefragt, sollte es dann in Zukunft anders aussehen? Wieso sollte es ausgerechnet beute möglich sein, den Systemautomatismus zu durchbrechen? Nur deshalb, weil eine Handvoll größenwahnsinniger mittelfränkischer Schlauberger sich einbildet, den Gang der Weltgeschichte durchschaut zu haben? »Die Theorie des automatisierten Untergangs … beteuert, daß es in der Vergangenheit niemals eine reale Alternative zum Kapitalismus gegeben habe. Es gibt sie also erst, seit Robert Kurz zur Feder griff«, mokiert sich etwa Gerhard Scheit, der hier stellvertretend für viele spricht.

Nun ist die Tatsache, daß »ausgerechnet« heute damit begonnen werden kann, die »Herrschaft der toten Dinge« über die menschliche Gesellschaft in ihrer ganzen historischen Tiefendimension und in ihrer strukturellen Ausformung zu dechiffrieren, natürlich keineswegs den besonderen Fähigkeiten einzelner Personen zu verdanken (sich selbst als »Genie« zu outen, wäre bloß der Beweis für das Ausflippen des frustrierten Räsonnements, sei es von Verbitterten und sich für verkannt Haltenden, sei es von scheintheoretischen Parvenüs). Zum einen steht bekanntlich jede Generation auf den Schultern ihrer Vorgänger und ist daher auch bei weniger entwickelter Geistesgröße prinzipiell in der Lage, weiter zu sehen als diese. Die einzige Voraussetzung dafür ist, die Augen aufzumachen. Zum anderen aber, und das ist das eigentlich Entscheidende, läßt sich die Geheimstruktur der warenförmigen Vergesellschaftung nicht zufällig zum heutigen Zeitpunkt leichter entschlüsseln als bisher. Der qualitativ neue Charakter der Krise, auch wenn er von vielen noch geleugnet wird, enthüllt gewissermaßen ex negativo erst die letzten Geheimnisse der Moderne, indem er Zug um Zug alle bisherigen Selbstverständlichkeiten bürgerlicher Handlungssubjektivität auch im Alltag erodieren läßt und empirisch in Frage stellt, von der abstrakten Arbeit über die »Politik« und ihr Parteiensystem bis hin zur vermeintlich sichersten Bank der Geschlechtsidentität.

Während das System der demokratischen Regulation aus den Fugen gerät und sein gewalttätiger Kern im rechten Mob ebenso wie im Inneren des Staatsapparats zum Vorschein kommt, bedauerlicherweise just in dem Augenblick, in dem sich die postsozialistischen und post-befreiungsbewegten Gesellschaften zum freudigen Eintritt in das letzte Stadium der Demokratie bereit machen, zerbröckeln gleichzeitig die glatten Ich-Fassaden der atomisierten Leistungsindividuen, und die Unlebbarkeit der bürgerlichen Subjektform wird praktisch offensichtlich. Das innere Widerspruchspotential der abendländischen, warenförmigen, marktwirtschaftsdemokratischen Zivilisation wurde zwar schon in allen früheren Krisensituationen manifest, doch waren dies nur Etappen eines »Entwicklungswegs«, auf dem jeder weitere Schritt nicht die Aufhebung des Zwangs, sondern lediglich seine Reproduktion und Potenzierung auf höherer Stufenleiter der »Realabstraktion« bedeutete. Das Widerspruchspotential ist deshalb auch nie verschwunden, und es wurde auch nie wirklich domestiziert, sondern vielmehr mit jedem Vergesellschaftungs- und Individualisierungsschub auf ein höheres »energetisches Niveau« gehoben.

Erschien es z.B. in den 60er Jahren (zu recht) als Fortschritt, sich von den Zwängen lebenslanger familialer Bindung und muffig-spießiger Sexualmoral zu emanzipieren, so leiden die heutigen Individuen im fortgeschrittenen Stadium der Atomisierung nun an ihrer Entwurzelung und Bindungslosigkeit, an der totalen Beliebigkeit und Gleichgültigkeit und am Zwang, sich immer und überall »gut verkaufen« und als leistungsstarke autonome Ichs bewähren zu müssen. Da hiermit, was die Freisetzung abstrakter Individualität angeht, ein Kulminationspunkt erreicht ist, heißt das aber auch, daß die Entwicklung heute nicht nur auf der Ebene der objektivierten ökonomischen Formen, sondern auch hinsichtlich des Subjektbegriffs zu einer Aufhebung der warenproduzierenden Gesellschaft drängt, d.h. zu einer Kritik der Subjektform selbst und der mit ihr gesetzten gesellschaftlichen Subjekt-Objekt-Struktur, in die das »autonome Individuum« eingebettet ist. Dabei reicht es mit Sicherheit nicht aus, auf die normative Kraft des negativen Faktischen zu setzen. Die »dekonstruktivistische Arbeit« der Krise des Werts muß als solche auch begriffen werden, denn nur dann kann die Perspektive einer nicht-warenförmigen Gesellschaftlichkeit auch praktisch Konturen gewinnen und der Umschlag in die Barbarei des bloßen Zerfalls verhindert werden.

Ob die Antworten angesichts der destruktiven Dynamik rechtzeitig zu finden sind, das ist sicherlich offen. Jeder optimistische Überschwang in der Warenformkritik wäre angesichts der derzeitigen weltweit katastrophischen Entwicklungen fehl am Platze. Vielleicht stehen wir tatsächlich am buchstäblichen, nämlich negativen Ende der menschlichen Geschichte, und nur die gegenwärtig vorherrschenden intellektuellen und politischen Verdrängungskünstler können diese bittere Einsicht als den bloß wichtigtuerischen Gestus von »Untergangspropheten« abtun, worauf übrigens vorausschauend schon Günther Anders hingewiesen hat. Diese selbstmörderischen Gestalten eines post-mittelständischen und sterbensmüden Verdrängungs-Eskapismus verwechseln systematisch ihren eigenen Geisteszustand mit der Krisenrealität. So sehr aber auch die Zeit drängt, und gerade weil mit der bisherigen Handlungssubjektivität nichts mehr ausgerichtet werden kann, muß gegen alle kurzschlüssigen Lösungsversuche die Formulierung von praktischen Konzepten erst recht mit der begrifflichen Kritik verbunden werden. Die kritische Durchdringung der warenförmigen Fetisch-Konstitution ist erst in Ansätzen geleistet, und ein weiteres Fortschreiten auf diesem Weg bleibt notwendig für den Übergang zu einer selbstreflexiven Gesellschaftlichkeit, die gewissermaßen die negative Aneignung der negativen Vergesellschaftung voraussetzt. Womöglich aus Gründen des praktischen Krisendrucks auf die meta-theoretische Reflexion der Subjektform selbst verzichten zu wollen, hieße nichts anderes, als zur Begriffslosigkeit der Aufklärung in der Subjektfrage oder gar zum »Instinkt« des alten Klassensubjekts zurückzukehren. Mit anderen Worten, es wäre der paradoxe Versuch, die gesellschaftliche Bewußtlosigkeit in selber bewußtloser Form aufheben zu wollen.

Im Gegensatz zur Systemtheorie und zu den postmodernen Dekonstruktionen kann eine Subjektkritik als Warenformkritik nicht beim bloßen Systemautomatismus oder bestenfalls beim »Automatismus der Krise« landen, wie uns voreilig unterstellt wird. Zwar setzt die objektivierte Krise auch positive Potenzen frei, doch eine Systemtransformation kann natürlich nicht selbstläufig erfolgen. Die Aufhebung der Warenform stellt einen Bruch mit der Form gesellschaftlicher Bewußtlosigkeit dar, und deshalb setzt sie einen gesellschaftlichen Willensakt voraus. Der gute alte Voluntarismus behält dabei freilich nur in einem sehr bedingten Sinne recht. Denn dieser Voluntarismus ist «Wille« nur in der Form des Subjektwahns, dem alles als machbar erscheint, die eigene Durchsetzungsstärke vorausgesetzt. Deshalb macht er das Gelingen der Emanzipation zu einer Frage lediglich der Entschlossenheit und/oder der »gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse«. Für ein solches Denken ist es daher nur konsequent, die bisherige Modernisierungsgeschichte als eine einzige Serie von Niederlagen und »mißglückten Versuchen« wahrzunehmen. Ein unfreiwilliger Beweis dafür, daß die so gedachte Emanzipation noch gar nicht wissen kann, was sie über die Warenform hinaus wollen sollte. Und ein ebenso unfreiwilliger Hinweis darauf, daß die bisherige Durchsetzungsgeschichte der Warenform durchaus emanzipatorische Momente besaß, die erst heute erlöschen.

Die Kritik des abstrakt freien Willens kommt also zwar nicht dem Verzicht auf das emanzipative, transformierende Wollen über die Warengesellschaft hinaus gleich; doch es macht einen großen Unterschied, ob uns dieses Wollen als ein für sich seiendes Abstraktum und daher auch als jederzeit Mögliches erscheint, oder ob wir es konkret-historisch an den Bruchstellen der reifgewordenen Warengesellschaft und also im Zentrum ihrer heutigen Krisis verorten. In diesem Sinne wäre die Aufhebung der Warenform Willensakt und Aufhebung der bürgerlichen Willenssubjektivität zugleich. Wer dieses Problem ernst nimmt, muß sich auf überraschende Perspektivenverschiebungen gefaßt machen. Um die Aufhebungsfrage konzeptionell beantworten zu können, maß sie erst in der richtigen Weise gestellt werden können, und das geht nur durch die Auflösung altvertrauter Verknüpfungen. Auch wir waren gewohnt, die Überwindung der Warengesellschaft in den Kategorien von Subjektivität zu denken, die uns als gleichbedeutend mit Bewußtheit erschien. Doch in der Auseinandersetzung mit dem Geschlechterverhältnis und dem Herrschaftsbegriff wuchsen allmählich Zweifel, ob die Frage nach dem »Subjekt« der Aufhebungsbewegung überhaupt richtig gestellt ist. Es erhärtete sich der Verdacht, daß die Subjektform, da selbst Moment der warenförmigen Konstitution, gerade im Interesse einer bewußten Aneignung der bis jetzt unbeherrschten gesellschaftlichen Potenzen, selber aufgehoben statt mobilisiert werden muß.

Auch das vorliegende Heft der Krisis setzt sich also wieder einmal (in einem weiteren Durchgang durch die theoretische Auflösung des Fetisch-Problems) vornehmlich mit Fragestellungen auf der Ebene begrifflicher Selbstverständigung auseinander, um die blinden Axiome und handlungstheoretischen Prämissen des Aufklärungsdenkens und der Modernisierungslinken zu kritisieren; und die Ergebnisse sind vielleicht schwerverdaulicher als je zuvor. Robert Kurz versucht in seinem Beitrag über Subjektlose Herrschaft nicht nur den Stellenwert des Herrschaftsbegriffs im fetisch-kritischen Rahmen neu zu bestimmen, sondern gleichzeitig den Subjektbegriff als Binnenform des subjektlosen Formprozesses (statt als bloßen »Irrtum«) aufzulösen, um zu Ansätzen einer transformierenden »Praxistheorie« zu gelangen. Nach einem kurzen Streifzug durch die Theoriegeschichte, insbesondere einer ersten Auseinandersetzung mit Strukturalismus und Systemtheorie, werden einige Bestimmungen zur aufhebenden statt bloß dekonstruierenden Kritik des Subjektbegriffs erarbeitet. Der Aufsatz versteht sich als thesenhafte Annäherung an eine noch zu erschließende, keineswegs genügend ausgeleuchtete Fragestellung.

Norbert Trenkle beschäftigt sich in seinen Fragmenten zur Selbstkritik der Männlichkeit mit einem zentralen Aspekt von Subjektivität: ihrer männlichen Bestimmtheit. Er skizziert in groben Zügen den Zusam menhang von wertförmiger Vergesellschaftung und abstrakter männli cher Ich-Identität und zeigt, daß die Männlichkeitskritik, wie sie in »männerbewegten« Kreisen formuliert wurde, trotz vieler richtiger An sätze zu kurz greift, weil sie nicht auf die Subjektform selber zielt. Die gängige Selbstkritik der Männlichkeit treibt im Gegenteil den grassie renden Autonomiewahn sogar noch auf die Spitze, denn sie läuft letzt lich auf den vergeblichen Versuch hinaus, die bürgerliche Geschlechter polarität innerhalb der einzelnen Individuen zu versöhnen und so ein »entfaltetes« mann-weibliches Subjekt zu schaffen.

Ernst Lohoff vertieft in seinem Aufsatz zur Kernphysik des bürgerlichen Individuums diese Überlegungen. Er geht von der Makro-Ebene des gesellschaftlichen Prozesses aus, um dann nachzuzeichnen, wie sich das für die Warengesellschaft charakteristische Auseinandertreten von Produktion und Konsumtion an den Subjekten niederschlägt. Während der herrschende Individualitätskult das Idealbild einer ganzheitlichen, in sich geschlossenen Monade propagiert, wird gezeigt, daß sich hinter diesem Entwurf eine ebenso schizophrene wie instabile Grundstruktur verbirgt.

Robert Bösch wechselt das Terrain der Auseinandersetzung. In seinem Beitrag Die wundersame Renaissance des Antonio Gramsci geht er der Frage nach, weshalb der alte Vordenker der italienischen KP sich nicht nur großer Beliebtheit in einem gewissen Spektrum der akademischen Linken, sondern auch bei der Neuen Rechten erfreut. Bösch zeigt, daß Gramsci, genau wie Lenin, als Modernisierungstheoretiker der bürgerlichen Gesellschaft begriffen werden kann. Seine Vorstellungen von einem »Staat der Produzenten« reflektieren die Durchsetzung der fordistischen Arbeitsgesellschaft, und insofern kann auch von einer geheimen Identität von Fordismus, Sozialismus und Faschismus gesprochen werden. Allerdings werden zusammen mit der Arbeitsgesellschaft auch die affirmativ darauf bezogenen Theorien obsolet. Deshalb haben Gramscis Gedanken heute nicht viel mehr als historischen Wert.

Zum Abschluß dieser Ausgabe noch ein kleiner Abstecher in die Welt von Moral, Treue, Höflichkeit und Mut. Johanna W. Stahlmann hat sich in ihrem Beitrag Auf dem Jahrmarkt der Tugenden mit einer Buchreihe aus dem Elster-Verlag beschäftigt, die diesen alten Ethik-Katalog zum Leitmotiv kürt. Neue Erkenntnisse konnten dabei nicht gewonnen werden, denn die »neuen« Moralisten bohren keine dicken Bretter. Ihre »situative Ethik« erweist sich als Anpassung des Denkens an die krude Fetisch-Realität, und nicht als Versuch, diese zu überwinden. »Laßt die böse Gesellschaft bleiben wie sie ist und schreitet daselbst auf dem Pfade der Tugend«, so etwa lautet der gemeinsame Nenner aller Autoren der bisher vierbändigen Reihe. Was als philosophische Erkenntnis und als neu ausgegeben wird, erinnert verblüffend an das Ethos von Hollywoodhelden und an die schon wieder obsolete Lebenshaltung der 80er Jahre: sich »um sich selbst zu sorgen«, während nebenher die Welt untergeht.

Robert Kurz, Ernst Lohoff und Norbert Trenkle für die Redaktion