Theorien über das Ende der Kunst bei Theodor W. Adorno und Guy Debord(1)
Anselm Jappe
Heute ist es schwer, sich der Idee zu entziehen, das in den sechziger Jahren so oft geräuschvoll verkündete und ebenso eifrig zurückgewiesene »Ende der Kunst« habe zuletzt doch stattgefunden, aber »not with a bang, but with a whimper« (T S. Eliot). Mehr als hundert Jahre lang ist die Entwicklung der Kunst gleichbedeutend mit der ununterbrochenen Abfolge von formellen Erneuerungen und »Avantgarden« gewesen, die die Grenzen der Kreativität immer weiter hinausgeschoben haben. Aber nach einer letzten Periode, die nach Glanz zumindest aussah und die am Beginn der siebziger Jahre zu Ende gegangen ist, hat sich keine neue avantgardistische Richtung mehr durchgesetzt, sondern man hat nur eine Wiederholung von isolierten und entwerteten Versatzstücken der Künste der Vergangenheit erlebt. Der Verdacht, die moderne Kunst könne sich erschöpft haben, beginnt sich nunmehr auch unter denjenigen zu verbreiten, die lange Zeit einen solchen Gedanken entschieden abgelehnt hatten. Eins zumindest darf wohl als unbestreitbar gelten: Seit Jahrzehnten ist nichts mit den künstlerischen Revolutionen der Jahre 1910-1930 Vergleichbares mehr entstanden. Natürlich gibt es geteilte Meinungen darüber, ob heute noch Kunstwerke von Wert produziert werden oder nicht. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, daß irgendjemand in der Kunst der letzten Jahre noch das »sinnliche Scheinen der Idee« zu sehen vermag oder zumindest einen so konzentrierten und so bewußten Ausdruck ihrer Epoche, wie es die Literatur, die bildenden Künste und die Musik der ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts gewesen sind.
Andererseits hat die Krise der »Avantgarden« sicherlich nicht die von ihren Schmähern schon immer verlangte Rückwärtswendung hervorgerufen. Anscheinend steckt also die Kunst überhaupt in der Krise – sowohl hinsichtlich der Erneuerung der Formensprache als auch, was ihre Fähigkeit angeht, bewußter Ausdruck der gesellschaftlichen Entwicklung zu sein. Es wird immer offensichtlicher, daß es sich dabei nicht um eine augenblickliche Stockung oder eine bloße Inspirationskrise handelt, sondern – zumindest – um das Ende einer gewissen Art von Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft, die mehr als ein Jahrhundert gedauert hat. Sicher, es werden weiterhin Texte geschrieben und veröffentlicht, Bilder gemalt und ausgestellt, und es wird mit angeblich neuen Formen wie dem Video oder der Performance experimentiert. Aber das reicht nicht aus, um die Existenz der Kunst für so selbstverständlich wie die des Sauerstoffs zu halten, wie es hingegen die zeitgenössische Ästhetik unverdrossen tut. Könnte die gegenwärtige Weiterführung der Kunstproduktion nicht ein von der tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklung überholter Anachronismus sein?
Die formale und avantgardistische Kunst zwischen 1850-1930 war in erster Linie ein Prozeß der Zerstörung traditioneller und weniger ein Aufbau neuer Formen. Er hatte eine eminent kritische Funktion. Es soll im Folgenden gezeigt werden, daß diese kritische Funktion an die konfliktreiche Durchsetzungsphase der wertförmigen Vergesellschaftung gebunden war, während der flächendeckende Sieg des Werts und seine schließliche Krise, die wir heute erleben, den Nachfolgern der Avantgarden den Boden unter den Füßen weggezogen hat und ihnen keine kritische Funktion mehr zugesteht, ganz unabhängig von deren subjektiven Absichten.
Das soll hier erläutert werden durch eine vergleichende Analyse der Theorien von Theodor W Adorno und Guy Debord, Autor von Die Gesellschaft des Spektakels (1967) und Cheftheoretiker der Situationisten. Beide Autoren gehören zu den wenigen Vorläufern der entstehenden Wertkritik. Sie operieren zwar, vor allem Debord, mit den eher vagen und rein philosophischen Begriffen der »Entfremdung« und »Verdinglichung«, und sie setzen die Aushöhlung des Lebens durch den Triumph der Wertform mit der Verwandlung der Wirtschaft von einem Mittel in einen Zweck und mit ihrer Diktatur über alle anderen Lebensbereiche in eins, obwohl letzteres eher Folge und Erscheinungsweise von ersterem ist. Diese noch etwas tastende und zum Teil noch zu sehr dem traditionellen Marxismus verhaftete Terminologie sollte aber nicht den Blick für die fruchtbare Weise verstellen, in der beide Autoren ihre Erkenntnisse über den Widerspruch zwischen den Produktivkräften bzw. den von ihnen geschaffenen Möglichkeiten und der Logik der Selbstverwertung des Kapitals auf die Analyse der modernen Kunst anwenden. Beide glauben in der modernen Kunst, und zwar gerade in der formalen, einen Einspruch gegen die Tauschlogik ausmachen zu können. Dennoch haben Adorno und Debord in den sechziger Jahren zwei einander diametral entgegengesetzte Auffassungen hinsichtlich des »Endes der Kunst« verkörpert. Ersterer hat die Kunst gegen diejenigen verteidigt, die sie zugunsten eines direkten Eingriffes in die Wirklichkeit »aufheben« wollten oder eine »engagierte« Kunst predigten. Debord hat in denselben Jahren verkündet, es sei der Moment gekommen, um das im Leben zu verwirklichen, was bis dahin bloß in der Kunst versprochen gewesen war. Die Negation der Kunst durch die Überwindung ihrer Trennung von den anderen Lebenssphären faßt er aber als eine Fortsetzung der kritischen Funktion der modernen Kunst auf. Für Adorno hingegen ist es gerade die Trennung der Kunst vom Rest des Leben, die diese kritische Funktion garantiert. Im Folgenden wird versucht zu erklären, warum die beiden Autoren trotz eines gemeinsamen Ausgangspunktes zu so verschiedenen Ergebnissen kommen, und es wird gezeigt, daß auch Adorno nolens volens zur These vom Ausbrennen der Kunst gelangt.
Da Debord weniger bekannt ist als Adorno – so sehr auch das Interesse für ihn sich in den letzten Jahren verstärkt hat(2) – werden hier seine Theorien kurz zusammengefaßt.
Unter »Entfremdung« verstehen unsere Autoren wesentlich mehr als eine bloße Unzufriedenheit der empirischen Subjekte mit dem »modernen Leben«, nämlich die Verselbständigung der von der Gesellschaft geschaffenen Kräfte als Folge der Logik des Wertetauschs. Debord definiert das »Spektakel« u.a. als »die sich für sich selbst entwickelnde Wirtschaft«, die die Menschen »gänzlich unterjocht hat« (GdS 16)(3), und das heißt: »Eben die Kräfte, die uns entgangen sind, zeigen sich uns in ihrer ganzen Macht« (GdS 31). In diesem höchsten Stadium der Entfremdung ist das wirkliche Leben zunehmend jeder Qualität beraubt und in Fragmente zerstückelt, während die Bilder dieses Lebens sich davon abtrennen und eine Einheit formen. Diese Einheit, eben das Spektakel im engeren Sinne des Wortes, beginnt ein eigenständiges Leben zu führen: wie in der Religion erscheinen die Tätigkeit und die Möglichkeiten der Einzelnen und der Gesellschaft von ihren Trägern getrennt; aber nicht mehr in einem Jenseits angesiedelt, sondern auf der Erde. Das Individuum ist abgeschnitten von allem, was es angeht, und kann damit nur noch durch die Vermittlung von Bildern, die andere ausgewählt und zum eigenen Nutzen verfälscht haben, in Beziehung treten. Der von Marx beschriebene Warenfetischismus besteht in der Verwandlung der menschlichen Beziehungen in Beziehungen zwischen Dingen; jetzt verwandeln sie sich in Beziehungen zwischen Bildern. Die Degradierung des gesellschaftlichen Lebens vom Sein zum Haben setzt sich in der Reduktion aufs Scheinen fort (GdS 17). Der Mensch verwandelt sich in einen reinen Zuschauer und betrachtet passiv, ohne eingreifen zu können, die Handlungen von Kräften, die in Wirklichkeit doch die seinen sind. Das Spektakel ist die jüngste Erscheinungsweise der politischen Macht, welche, obwohl »die älteste gesellschaftliche Spezialisierung« (GdS 23), erst in den letzten Jahrzehnten eine solche Unabhängigkeit erreicht hat, sich die gesamte gesellschaftliche Aktivität unterwerfen zu können. Im Spektakel, in dem die »Wirtschaft die Welt in eine Welt der Wirtschaft verwandelt« (GdS 40), vollendet sich »das Prinzip des Warenfetischismus« (GdS 36) und die Ware gelangt zur »völligen Beschlagnahme des gesellschaftlichen Lebens« (GdS 42). Die Generalisierung der Ware und des Warentausches bedeutet den »auf allen Ebenen der spektakulären Sprache so offensichtliche[n] Qualitätsverlust« (GdS 38); die Abstraktion von jeder spezifischen Qualität, Basis und Konsequenz des Tauschwertes, äußert sich »vollkommen im Spektakel, dessen konkrete Seinsweise gerade die Abstraktion ist« (GdS 29)(4).
Auch Adorno klagt aufs schärfste »die universale Herrschaft des Tauschwerts über die Menschen an, die den Subjekten a priori versagt, Subjekte zu sein, Subjektivität selber zum bloßen Objekt erniedrigt« (ND, S. 180). Im Tausch werden »alle qualitativen Momente plattgewalzt« (ND, S. 95), da dieser alles »verstümmelt«(5). Der Tausch ist »schlechter Grundbestand der Gesellschaft an sich«, und »die Abstraktheit des Tauschwerts geht vor aller besonderen Schichtung mit der Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere, der Gesellschaft über ihre Zwangsmitglieder zusammen […] In der Reduktion der Menschen auf Agenten und Träger des Warenaustauschs versteckt sich die Herrschaft von Menschen über Menschen […] Der totale Zusammenhang hat die Gestalt, daß alle dem Tauschgesetz sich unterwerfen müssen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen«(6). Der Fetischcharakter der Waren breitet sich »wie eine Starre über das Leben der Gesellschaft in all seinen Aspekten« aus (DA, S. 29). Während der Gebrauchswert »verkümmert« (AT, S. 337), wird nur mehr der Tauschwert als solcher genossen (ÄT S. 39)(7).
Das Spektakel macht ausgiebig Gebrauch von Elementen wie dem Film, dem Sport oder der Kunst. Darin ähnelt es in bemerkenswerter Weise der »Kulturindustrie«, die Adorno und Horkheimer während ihrer Entstehung beschreiben konnten. Ein eingehender Vergleich zwischen diesen beiden Begriffen scheint hier schon deshalb angebracht, weil er nicht nur die Aktualität, sondern auch die Gemeinsamkeiten zweier Begriffe aufzeigt, die unabhängig voneinander in ganz verschiedenen Umgebungen und in verschiedenen Momenten erarbeitet worden sind(8). Debord zufolge hat das Spektakel als »materialisierte Ideologie« alle besonderen Ideologien ersetzt (GdS 213); laut der Dialektik der Aufklärung drückt sich die gesellschaftliche Macht viel wirksamer in der scheinbar ideologielosen Kulturindustrie aus als in den »abgestandenen Ideologien« (DA, S. 122). Den Inhalt der Kulturindustrie macht nicht die ausdrückliche Apologie eines als makellos dargestellten politischen Regimes aus, sondern die ständige Schilderung des Bestehenden als des einzig möglichen Horizonts: »Zur Demonstration seiner Göttlichkeit wird das Wirkliche bloß immer zynisch wiederholt. Solcher photologische Beweis ist zwar nicht stringent, aber überwältigend« (DA, S. 133). Debord zufolge sagt das Spektakel »nichts mehr als: >Was erscheint, das ist gut; und was gut ist, das erscheint.< Die durch das Spektakel prinzipiell geforderte Haltung ist diese passive Hinnahme, die es schon […] durch sein Monopol des Scheins, faktisch erwirkt hat« (GdS 12). Zwölf Jahre später stellt er fest, daß das Spektakel nicht einmal mehr das verspricht, sondern sich darauf beschränkt zu sagen: »Es ist eben so«(9). Die Kulturindustrie ist ebensowenig »einem Bewegungsgesetz der Technik als solcher aufzubürden« (DA, S. 109) wie das Spektakel »nicht dieses notwendige Produkt der als eine natürliche Entwicklung betrachteten technischen Entwicklung« ist (GdS 24). So wie die Kulturindustrie »alles mit Ähnlichkeit« schlägt (DA, S. 108), so stellt das Spektakel einen Prozeß der Banalisierung und Homogenisierung dar (GdS 165). Adorno und Horkheimer sind sich frühzeitig darüber klar geworden, daß das »Amusement« auf »die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus« hinausläuft (DA, S. 123), es die industriellen Arbeitsrhythmen nachbildet und »den Gehorsam gegen die gesellschaftliche Hierarchie« lehrt (DA, S. 117). Debord zufolge verschiebt sich der »Pol der Entwicklung des Systems« immer mehr »zur Nichtarbeit und zur Untätigkeit. Doch diese Untätigkeit ist keineswegs von der Produktionstätigkeit befreit« (GdS, 27). Die Kulturindustrie ist der Ort, wo sich die »Lüge beliebig reproduzieren« kann (DA, S.121); das Spektakel der Ort, in dem »sich das Verlogene selbst belogen hat« (GdS 2). In ihm ist auch »das Wahre ein Moment des Falschen« (GdS 9); in der Kulturindustrie werden die offenkundigsten Behauptungen, wie die, daß der Himmel blau und die Bäume grün sind, zu »Kryptogrammen für Fabrikschornsteine und Gasolinstationen«, also zu Figuren des Falschen (DA, S. 134). Das Spektakel bedeutet eine regelrechte »Kolonisierung« des Alltagslebens (S. 1. Bd. I, S. 228), und es stellt sicher, daß kein Bedürfnis anders als durch seine Vermittlung befriedigt werden kann (GdS 24); Horkheimer und Adorno beschreiben, wie bereits in den vierziger Jahren in den USA die alltäglichsten Verhaltensweisen und normalsten Lebensäußerungen, etwa der Tonfall in den verschiedenen Umständen und die Liebesbeziehungen, versuchen, den von der Kulturindustrie und der Werbung vorgeschriebenen Modellen zu folgen: Die Individuen sind nicht mehr fähig, sie sich anders vorzustellen (DA, S. 150). Mehr als eine Werbung für einzelne Produkte macht die Kulturindustrie Reklame für die Gesamtheit der Waren und für die Gesellschaft als solche, und sie kann leicht von der Werbung für Waschmittel zur Propaganda für irgendeinen Führer übergehen (DA, S. 140-144). Debord charakterisiert das Spektakel als »apologetische[n] Katalog« der Gesamtheit der Waren (GdS 65) und als »epische[n] Gesang« des von den Waren untereinander vor den zuschauenden Menschen geführten Kampfes, in dem, wenn auch die einzelne Ware sich abnutzt, die Warenform sich verstärkt (GdS 66). Die Politik wird eine Ware unter anderen, und »Stalin wie die veraltete Ware werden von ebendenen denunziert, die sie eingeführt haben« (GdS 70).
Sowohl die Kulturindustrie wie das Spektakel beruhen auf der Identifikation des Zuschauers mit den ihm vorgesetzten Bildern und auf seinem Verzicht darauf, in erster Person zu leben. Wer nicht die Reise im Preisauschreiben gewinnt, muß sich mit den Photographien der Länder begnügen, die besichtigt worden wären (DA, S. 133); der Kunde ist immer gezwungen, »an der Lektüre der Menükarte sein Genügen« zu finden (DA, S. 125). Die Bilder dringen ihrerseits in das wirkliche Leben ein bis zur schließlichen Verschmelzung der Bereiche, und man kann glauben machen, »daß die Welt draußen die bruchlose Verlängerung derer sei, die man im Lichtspiel kennengelernt« hat (DA, S. 113). Dem entsprechen Debords Beobachtungen, denen zufolge »die erlebte Wirklichkeit durch die Kontemplation des Spektakels materiell überschwemmt« wird (GdS 8), und, wenn »sich die wirkliche Welt in bloße Bilder verwandelt« (etwa ein Land in seine Photographien), »die bloßen Bilder zu wirklichen Wesen« werden (die Realität als Verlängerung des Kinos) (GdS 18). Adorno schreibt – 1952! -, man vermöge mit dem Fernsehen »ins Duplikat der Welt unauffällig einzuschmuggeln, was immer man für der realen zuträglich hält«, denn es »vernebelt obendrein die reale Entfremdung zwischen den Menschen und zwischen Menschen und Dingen. Sie wird zum Ersatz einer gesellschaftlichen Unmittelbarkeit, die den Menschen versagt ist«(10). Das nimmt beinahe wörtlich Formulierungen von Debord vorweg.
Man sieht hier den Unterschied zu der bunten Schar anderer Autoren derselben Epoche, die mehr oder weniger scharfsinnig über diese Phänomene unter Titeln wie »Konsumgesellschaft« oder »Massenkultur« reflektierten. Sowohl Debord wie Adorno erkennen in diesen Phänomenen eine falsche Form des gesellschaftlichen Zusammenhangs, eine uneingestandene Ideologie, geeignet zur Schaffung von Konsensus für den westlichen Kapitalismus, eine Methode, um eine Gesellschaft zu regieren, und schließlich eine Technik, welche die Individuen, die so reif zur Emanzipation sind, wie die produktiven Kräfte es erlauben, daran hindern soll, sich dessen bewußt zu werden(11). Ihnen zufolge stellt die Infantilisierung der Zuschauer keinen Nebeneffekt des Spektakels und der Kulturindustrie dar, sondern diese erreichen damit gerade ihre anti-emanzipatorische Zielsetzung. Das Ideal der Kulturindustrie ist es, »die Erwachsenen zu Elfjährigen [zu] machen»(12), während im Spektakel »das Bedürfnis nach Nachahmung, das der Konsument empfindet, genau das infantile Bedürfnis« ist (GdS 219).
Trotz dieser Übereinstimmungen widersprechen Debord und Adorno einander völlig, wenn es um die Rolle der Kunst geht. Debord hat schon zu Beginn der fünfziger Jahre behauptet, die Kunst sei bereits tot und müsse »aufgehoben« werden. Eine neue Form von Leben und revolutionärer Aktivität solle den Gehalt der modernen Kunst realisieren. Die Erklärung, warum die Kunst eine große Rolle gespielt hat, aber sie nicht mehr spielen kann, findet sich in den 180-191 der Gesellschaft des Spektakels. Dort deckt Debord den Grundwiderspruch der Kunst auf: in der von Trennungen beherrschten Gesellschaft hat die Kunst die Aufgabe, die verlorene Einheit und die gesellschaftliche Ganzheit zu vertreten. Aber da die Vorstellung, daß ein Teil der Ganzheit sich an die Stelle der Ganzheit setzen kann, offensichtlich in sich widersprüchlich ist, ist es auch die Kultur, wenn sie zu einer selbstständigen Sphäre wird. Eben als Statthalter dessen, was in der Gesellschaft fehlt – des Dialogs, der Einheit der Momente des Lebens -, muß die Kunst ihre Rolle ablehnen, nur das Bild davon zu sein(13). Die Gesellschaft hat die Kommunikation in die Kultur relegiert, aber die zunehmende Auflösung der traditionellen Gemeinschaften – von der Agora bis zum Volksviertel – hat die Künste dazu gebracht, die Unmöglichkeit einer Kommunikation festzustellen. Die von der Kunst, von Baudelaire an bis Joyce und Malewitsch, betriebene Zerstörung der formalen Werte bedeutete einerseits die Weigerung, einer nunmehr inexistenten Gemeinschaft als fiktive Sprache zu dienen. Andererseits hat sie die Notwendigkeit unterstrichen, eine gemeinsame Sprache wiederzufinden, die wirklich eine Sprache »des Dialogs« sei. Die moderne Kunst findet ihren Höhepunkt und Abschluß in Dada und in den Surrealisten. »Zeitgenossen des letzten großen Sturmangriffs der revolutionären proletarischen Bewegung« (GdS 191), wollten diese, obgleich auf unvollkommene Weise, die Kunst aufheben und verwirklichen. Mit der doppelten Niederlage der politischen und der ästhetischen Avantgarden zwischen den beiden Kriegen geht die »aktive« Phase der Auflösung zu Ende (S. 1. Bd. 1, S. 19). So gelangt die Kunst an den Punkt, den die Philosophie schon mit Hegel, Feuerbach und Marx erreicht hat: sie begreift sich selber als eine Entfremdung, als eine Projektion der menschlichen Tätigkeit in eine getrennte Wesenheit. Wer danach dem Sinn der Kultur treu bleiben will, kann das nur tun, indem er sie als Kultur verneint und sie in der Theorie und der Praxis der sozialen Kritik verwirklicht. Die Auflösung der Kunstformen setzt sich auch nach 1930 fort, aber mit veränderter Bedeutung. Die Selbstzerstörung der alten Sprache, wenn sie erst einmal von der Notwendigkeit, eine neue Sprache zu finden, abgelöst worden ist, wird für die »Verteidigung der Klassenherrschaft« eingespannt (GdS 184). Die Unmöglichkeit jeder Kommunikation wird dann als ein Wert an sich anerkannt, den es entweder freudig zu begrüßen oder als unveränderliche Tatsache zu ertragen gilt. Wenn sich die Zerstörung der Formen im absurden Theater, im Nouveau Roman, in der neuen abstrakten Malerei oder in der Pop-art wiederholt, so drückt das nicht mehr die geschichtliche Auflösung der Gesellschaftsordnung aus. Es kommt dabei nur noch eine flache und objektiv affirmative Kopie des Bestehenden heraus, eine bloße »Proklamation der hinreichenden Schönheit der Auflösung des Kommunizierbaren« (GdS 192).
Auch Adorno erkennt an, daß die autonom gewordene und von den praktischen Funktionen getrennte Kunst nicht mehr unmittelbar ein »fait social« ist und sich vom »Leben« trennt. Aber nur so kann überhaupt erst eine der Gesellschaft opponierende Kunst entstehen. Die vom bürgerlichen Zeitalter geschaffene Kunst befindet sich notwendigerweise im Gegensatz zu ihm, auch über ihre spezifischen Inhalte hinaus (ÄT, S. 17-19, 26, 333-335), um schließlich gerade ihre eigene Autonomie in Frage zu stellen. Sie beginnt, »ein Moment von Blindheit hervorzukehren« (ÄT, S. 9). Adorno gibt zu, daß sich die Kunst in massiven Schwierigkeiten befindet und »nicht einmal ihr Existenzrecht« heute »mehr selbstverständlich ist« (ÄT, S. 9). Er schlußfolgert: »Die Revolte der Kunst [ist] zu ihrer Revolte gegen die Kunst geworden« (ÄT, S. 13). Wenn er schreibt: »Die Zeit der Kunst sei vorüber, heißt es, es käme darauf an, ihren Wahrheitsgehalt […] zu verwirklichen« (ÄT, S. 373), teilt er damit Debords Meinungen? Keinesfalls, denn der Satz endet: »das Verdikt ist totalitär«. Adorno scheint keine Gelegenheit gehabt zu haben, die Ideen der Situationisten kennenzulernen und ihnen zu antworten. Höchstwahrscheinlich jedoch hätte er ihre Kritik der Kunst mit derjenigen der Protestler von ’68 zusammengeworfen, denen er »Enthusiasmus für die Schönheit der Straßenschlachten« und die »Empfehlung von Jazz und Rock and Roll anstelle von Beethoven« vorwirft (ÄT, S. 473). So sehr auch eine solche Stellungnahme gegen die Kunst weit weniger originell ist, als sie selbst glaubt (ÄT, S. 373, 474), sieht Adorno in ihr doch eine große Gefahr und eine »Unfähigkeit zur Sublimierung«, eine »Ichschwäche« und einfach einen »Mangel an Talent«. Sie steht »nicht über, sondern unter der Kultur« (ÄT, S. 372-373). Er wirft allerdings dem Protest gegen die Kunst keineswegs vor, das bestehende gesellschaftliche und ästhetische System anzugreifen. Im Gegenteil, er sieht ihn in Übereinstimmung mit dem System und mit seinen schlimmsten Tendenzen. Diese Art von Untergang der Kunst bedeutet »ein Stück Anpassung« (ÄT, S. 473); »die Abschaffung der Kunst in einer halbbarbarischen und auf die ganze Barbarei sich hinbewegenden Gesellschaft macht sich zu deren Sozialpartner« (ÄT, S. 373). Die Wahrheit oder das Vergnügen, die in der Kunst enthalten sind, direkt auf gesellschaftlicher Ebene verwirklichen zu wollen, entspricht der Tauschlogik, die von der Kunst, wie von jeder anderen Sache, einen Nutzen erwartet. Adorno sieht in der Kunst immer eine Gesellschaftskritik, selbst in der hermetischen Dichtung und im »Part pour Part«, und zwar gerade aufgrund ihrer Autonomie und ihres »asozialen Charakters«. Er behauptet ausdrücklich, die Kunst beziehe ihre Position der »Gegenposition zur Gesellschaft […] erst als autonome«. Es gibt »nichts Reines, nach seinem immanenten Gesetz Durchgebildetes, das nicht wortlos Kritik übte« (ÄT, S. 335): eine Folge davon, daß das Kunstwerk zu nichts »nutzt«, weder zur Erweiterung des Wissens, noch zum unmittelbaren Genuß noch zu einem direkten Eingriff in die Praxis. Adorno lehnt alle Versuche ab, die Kunst auf eines dieser Elemente zurückzuführen. »Fürs Herrschaftslose steht nur ein, was sich jenem [dem Tausch; A.S.] nicht fügt; für den verkümmerten Gebrauchswert das Nutzlose. Kunstwerke sind die Statthalter der nicht länger vom Tausch verunstalteten Dinge« (ÄT, S. 379).
Debord und Adorno kommen, wie gesehen, zu diametral entgegengesetzten Urteilen über das Ende der Kunst. Das bedarf der Erklärung, wenn man bedenkt, daß beide Theoretiker von ganz ähnlichen Ansätzen ausgehen. Beide finden den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen auch in der kulturellen Sphäre wieder, und beide nehmen, bei allen Unterschieden, gegenüber der Entwicklung der wirtschaftlichen und technischen Möglichkeiten dieselbe Haltung ein. Weder verherrlichen sie sie, noch lehnen sie sie rundherum ab, sondern sie sehen darin eine Voraussetzung – die sich selber aufheben wird – einer befreiten Gesellschaft: »Der Sieg der autonomen Wirtschaft muß zugleich ihr Untergang sein. Die Kräfte, die sie entfesselt hat, beseitigen die wirtschaftliche Notwendigkeit, die die unwandelbare Grundlage der alten Gesellschaften war« (GdS 51). Die Entwicklung der Produktivkräfte hat einen genügend hohen Grad erreicht, damit die Menschheit das hinter sich lassen könnte, was Adorno »blinde Selbsterhaltung« nennt und die Situationisten das »Überleben«, um endlich zum wahren Leben überzugehen. Nur die Produktionsverhältnisse – die gesellschaftliche Ordnung – verhindern das; Adorno zufolge könnte »die Erde, nach dem Stand der Produktivkräfte, jetzt, hier, unmittelbar das Paradies sein« (ÄT, S. 56), während sie sich in Wirklichkeit in ein »Freiluftgefängnis«(14) verwandelt. Die auf dem Tausch beruhenden Produktionsverhältnisse verurteilen die Gesellschaft dazu, sich weiterhin dem Diktat des Überlebens zu beugen, und schaffen, wie der Situationist Vaneigem schreibt, »eine Welt, in der die Garantie, nicht Hungers zu sterben, sich gegen das Risiko austauscht, an Langeweile zu sterben«(15). Die Reduzierung aufs bloße »Überleben« ist auch in einem weiteren Sinne zu verstehen: als Unterordnung des Lebensinhalts unter die angeblichen äußeren Notwendigkeiten. Wenn die Urbanisten jede Forderung nach einer anderen Architektur mit dem Argument abweisen, daß »ein Dach über dem Kopf nötig ist« und in Eile eine große Zahl von Wohnungen gebaut werden muß, dann ist das nur ein Beispiel dafür (S. I. Bd. I, S. 223). Die Situationisten schreiben 1963: »Das alte Schema des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen soll gewiß nicht mehr als eine automatische, kurzfristige Verurteilung der kapitalistischen Produktionsweise verstanden werden, die stagnieren und zur Weiterentwicklung unfähig sein würde. Dagegen soll dieser Widerspruch als die Verurteilung (deren Durchführung mit den dazugehörigen Waffen noch versucht werden muß) der kleinlichen und zugleich gefährlichen Entwicklung gedeutet werden, für die die Selbstregulierung dieser Produktion sorgt, der großartigen möglichen Entwicklung gegenüber« (S. 1. Bd. II, S. 11). Die Wirtschaft und ihre »Organisatoren« haben eine nützliche Rolle gespielt bei der Befreiung der Gesellschaft vom Druck der Natur; jetzt hingegen gilt es, sich von solchem Befreier zu befreien (GdS 40). Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Hierarchien garantieren, um sich selbst zu erhalten, das Überleben und verhindern gleichzeitig das Leben.
Adorno schreibt seinerseits: »Durch die Unterstellung des gesamten Lebens unter die Erfordernisse seiner Unterhaltung garantiert die befehlende Minorität mit ihrer eigenen Sicherheit auch den Fortbestand [also das Überleben; A.S.] des Ganzen« (DA, S. 31). Die »Dialektik der Aufklärung« besteht eben gerade darin, daß es der Ratio nicht gelungen ist, ihr ganzes Befreiungspotential zu entwickeln, da sie sich von Anfang an von der Übermacht der Natur bedroht sah und es sich als einzige Aufgabe stellte, diese zu bekämpfen und so weit wie möglich zu unterjochen. Dieser Kampf setzt sich auch dann fort, wenn das physische Überleben des Menschen nicht mehr in Gefahr ist, und er bringt neue, nicht mehr natürliche, sondern gesellschaftliche Verstümmelungen mit sich: »Je weiter aber der Prozeß der Selbsterhaltung durch bürgerliche Arbeitsteilung geleistet wird, um so mehr erzwingt er die Selbstentäußerung der Individuen, die sich an Leib und Seele nach der technischen Apparatur zu formen haben« (DA, S. 30).
Die gigantische Anhäufung von Mitteln macht als solche das Leben nicht reicher. »Einer Menschheit, welche Not nicht mehr kennt, dämmert gar etwas von dem Wahnhaften, Vergeblichen all der Veranstaltungen, welche bis dahin getroffen wurden, um der Not zu entgehen, und welche die Not mit dem Reichtum erweitert reproduzieren«(16). Ähnliches liest man bei Debord: »Wenn es kein Jenseits des vermehrten Überlebens gibt, keinen Punkt, an dem dieses Überleben sein Wachstum beenden könnte, so deshalb, weil es selbst nicht jenseits der Entbehrung liegt, sondern die reicher gewordene Entbehrung ist« (GdS 44). Die Analyse der blinden, wertförmigen Vergesellschaftung mündet bei beiden Autoren in eine Kritik des Automatismus der wirtschaftlichen Gesetze und in die Forderung, die Gesellschaft solle ihre Kräfte ihren bewußten Entscheidungen unterordnen. Dabei benutzen sie sogar dasselbe Zitat: »In dem Moment, in dem die Gesellschaft entdeckt, daß sie von der Wirtschaft abhängt, hängt die Wirtschaft tatsächlich von ihr ab […] Wo das wirtschaftliche Es war, muß das Ich werden» (GdS 52) heißt es bei Debord, während Adorno bezeichnenderweise eine solche Bewußtwerdung eben der Kunst zuschreibt: »Was Es ist, soll Ich werden, sagt die neue Kunst mit Freud«(17).
Adornos ganze Ästhetik beruht darauf, auch in der Kunst den Widerspruch zwischen den Potentialitäten der Produktivkräfte und ihrem gegenwärtigen Gebrauch wiederzufinden. Man kann von ästhetischen Produktivkräften sprechen, da auch die Kunst eine Form der Beherrschung der Gegenstände, der Natur, ist: sie läßt diese nicht, wie sie sind, sondern unterwirft sie einer Verwandlung und bedient sich dazu einer Reihe von nach und nach erarbeiteten und verbesserten Vorgehensweisen und Techniken. Das gilt erst recht für die moderne Kunst, die sich nicht darauf beschränkt, die Realität zu kopieren, sondern die sie nach eigenen Regeln umstrukturiert – man denke nur an die kubistische und die abstrakte Malerei oder an die Aufhebung der traditionellen Erfahrungsgesetze in der modernen Literatur. In der Kunst dient die Beherrschung der Objekte nicht dazu, sich die Natur zu unterwerfen, sondern soll, im Gegenteil, diese wieder in ihre Rechte einsetzen: »Durch Beherrschung des Beherrschenden revidiert Kunst zuinnerst die Naturbeherrschung« (AT, S. 207). Die Kunst, als »gesellschaftliche Antithesis zur Gesellschaft« (ÄT, S. 19), konfrontiert die Gesellschaft mit Beispielen dafür, wie sie ihre Mittel gebrauchen kann, ohne der äußeren Wirklichkeit Zwang und Gewalt anzutun: »Indem Kunstwerke da sind, postulieren sie das Dasein eines nicht Daseienden und geraten dadurch in Konflikt mit dessen realem Nichtvorhandensein« (ÄT, S. 93). Während die materielle Produktion einzig auf das quantitative Wachstum ausgerichtet ist, soll die Kunst, in ihrer »Irrationalität«, die qualitativen Ziele – wie das Glück des Individuums – repräsentieren, die der Rationalismus der Wissenschaften für »irrational« hält (ÄT, S. 71, 430, 489). Durch seine »Nutzlosigkeit« und seinen Willen, nur für sich zu sein und sich der universellen Tauschbarkeit zu entziehen, befreit das Kunstwerk die Natur von ihrem Status eines reinen Mittels und Instruments: »Nur noch durch die Unvertauschbarkeit seiner eigenen Existenz, durch kein Besonderes als Inhalt suspendiert das Kunstwerk die empirische Realität als abstrakten und universalen Funktionszusammenhang« (ÄT, S. 203). Es handelt sich dabei nicht notwendigerweise um einen bewußten Vorgang. Es genügt, daß die Kunst ihren eigenen Entwicklungsgesetzen folgt – und die Radikalisierung der Avantgarden war eben das – um in ihrem Inneren den Entwicklungsgrad der außerästhetischen Produktivkräfte nachzubilden, ohne dabei jedoch den aus den Produktionsverhältnissen entstammenden Zwängen unterworfen zu sein (ÄT, S. 71). Eine Kunst, deren Technik hinter dem im jeweiligen Moment erreichten Stand der künstlerischen Techniken zurückbleibt, ist deshalb »reaktionär«: sie ist nicht in der Lage, von der Komplexität der aktuellen Probleme Rechenschaft zu geben. Das ist einer der Gründe, warum Adorno den jazz verdammt, gilt aber genauso z. B. für den »sozialistischen Realismus«. Die formale Kunst hingegen drückt, jenseits jedes »politischen« Inhaltes, die Evolution der Gesellschaft und ihre Widersprüche aus: »Die Kampagne gegen den Formalismus ignoriert, daß die Form, die dem Inhalt widerfährt, selber sedimentierter Inhalt ist« (ÄT, S. 217). »Im Wie der Malweise können unvergleichlich viel tiefere, auch gesellschaftlich relevantere Erfahrungen sich niederschlagen als in treuen Portraits von Generalen und Revolutionshelden« (ÄT, S. 225).
Auch Debord wendet den Begriff »ästhetische Produktivkräfte« an und stützt auf ihren Parallelismus zu den außerästhetischen Produktivkräften seine Verteidigung der »formalistischen« Entwicklung der Kunst bis 1930, deren historischer Ausgang die »Aufhebung« der Kunst war. Wie Adorno sieht auch er in der Kunst eine Wiedergabe der Potentialitäten der Gesellschaft: »Was man die Kultur nennt, hat die Aufgabe, in einer bestimmten Gesellschaft, die Möglichkeiten der Organisation des Lebens widerzuspiegeln, aber sie auch vorwegzunehmen«(18). Ebenso wie Adorno geht auch Debord von einem Zusammenhang zwischen der Befreiung dieser Potentialitäten in der Kunst und in der Gesellschaft aus: »Wir sind in Produktionsverhältnisse eingesperrt, die zu der notwendigen Entwicklung der Produktivkräfte im Widerspruch stehen, auch auf dem Felde der Kultur. Wir müssen diese traditionellen Verhältnisse bekämpfen«(19). Im Bereich der ästhetischen Produktivkräfte hat es in der Tat eine schnelle und unaufhaltsame Entfaltung gegeben, in der jede Entdeckung, sobald sie gemacht ist, ihre Wiederholungen überflüssig macht. In Potlatch, Bulletin der Gruppe Debords, heißt es um 1955, die abstrakte Malerei nach Malewitsch habe nur offene Türen eingerannt (S. 187), auch das Kino hätte seine Erneuerungsmöglichkeiten erschöpft (S. 124), und die onomatopoetische Dichtung einerseits und die neo-klassische andererseits zeigten das Ende der Poesie selber an (S. 182). Die »schwindelerregend beschleunigte Evolution läuft nunmehr leer« (S. 155). Das bedeutet, daß die Entwicklung der ästhetischen Produktivkräfte zu ihrem Abschluß gelangt ist, da die dazu parallele Entwicklung der außerästhetischen Produktivkräfte eine entscheidende Schwelle überschritten hat: sie hat die Voraussetzungen für eine nicht mehr ausschließlich der Arbeit gewidmete Gesellschaft geschaffen, die die Mittel und die Zeit hat, zu »spielen« und ihren »Leidenschaften« zu folgen. Die Kunst als reine Darstellung dieses möglichen Gebrauchs der Mittel und als Ersatz der Leidenschaften ist deshalb überholt. So wie der Fortschritt der Wissenschaft die Religion überflüssig gemacht hat, so erweist sich in ihrem weiteren Fortschritt auch die Kunst als eine beschränkte Form menschlicher Existenz(20).
Debord legt kein großes Mißtrauen gegen die Entfaltung der Produktivkräfte als solche an den Tag und hält nicht den Inhalt der neuen Techniken für entscheidend, sondern die Frage, wer davon Gebrauch macht und wie. Die Naturbeherrschung identifiziert er mit der Freiheit, da sie den Subjekten eine Erweiterung ihrer Aktivität ermöglicht(21). Seine Kritik richtet er gegen die relative Rückständigkeit des Uberbaus, von der Moral bis zur Kunst. Nicht nur die traditionelle Kunst, sondern überhaupt die Organisation der menschlichen Wünsche in Form von Kunst wird von Debord als ein Anachronismus angesehen. Die Rolle, die die Kunst einst gespielt hat und heute nicht mehr spielen kann, ist also die, zur Angleichung des Lebens an den Stand der Produktivkräfte beizutragen.
Bei Adorno komplizieren sich diese Betrachtungen durch den Doppelaspekt, den er den Produktivkräften zuschreibt. Seine Kritik beschränkt sich weder auf die klassisch marxistische »Unterordnung der Produktivkräfte unter die Produktionsverhältnisse« noch auf die von Debord in den Mittelpunkt gestellte Verselbständigung der materiellen Produktion zur getrennten Sphäre der Wirtschaft. Adorno zufolge ist die materielle Produktion selbst, da sie Naturbeherrschung ist, eine besondere Form von Herrschaft überhaupt, und als solche kann sie nicht Trägerin der Freiheit sein. Die Naturbeherrschung ist immer gleichzeitig eine Befreiung des Menschen von der Naturabhängigkeit und eine Wiedereinführung anderer Abhängigkeiten gewesen. Adorno betont mal die eine, mal die andere dieser beiden Seiten: während die Dialektik der Aufklärung in den quantifizierenden Verfahren der Wissenschaft und der Technik als solchen eine Verdinglichung sieht, schreibt er 1966 – vielleicht auf das damals modische »Denken der Technik« Heideggers anspielend -, die Tendenz zum Totalitarismus sei »nicht der Technik als solcher aufzubürden. Sie ist nur eine Gestalt menschlicher Produktivkraft, verlängerter Arm noch in den kybernetischen Maschinen, und darum selber einzig ein Moment in der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, kein Drittes und dämonisch Selbständiges«(22). Im selben Jahr schreibt er: »Verdinglichung und verdinglichtes Bewußtsein zeitigten mit der Entbindung der Naturwissenschaften auch das Potential einer Welt ohne Mangel« (ND, S. 192). Was dieses Jahrhundert angeht, kann laut Adorno keine Rede von einem Gegensatz zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen sein: essentiell homogen in ihrer Eigenschaft als Herrschaftsformen, sind sie schließlich zu einem einzigen »Block« verschmolzen. Dabei stellten die Verstaatlichung der Wirtschaft und die »Integration« des Proletariats entscheidende Etappen dar. Um auf die ästhetische Problematik zurückzukommen: in einer solchen Situation muß die Kunst sowohl den Produktivkräften folgen, als auch deren »entfremdende« Aspekte kritisieren.
Für Adorno ist die Kunst weiterhin in der Lage, der »Entfremdung« Widerstand zu leisten, für Debord hingegen kann sie das nicht mehr. Dieser Unterschied in der Einschätzung geht weitgehend darauf zurück, daß Debord unter »Entfremdung« diejenige der Subjektivität versteht, während für Adorno die Subjektivität selbst eine Entfremdung sein kann; in seinen letzten Werken zeigt er sich überhaupt skeptisch gegenüber dem Begriff »Entfremdung«.
Debords Entfremdungsbegriff ist stark von dem Begriff der »Verdinglichung« beeinflußt, wie ihn G. Lukäcs in Geschichte und Klassenbewußtsein skizziert hat. Die »Verdinglichung» ist bei Lukäcs die Erscheinungsweise des Warenfetischismus: dieser schreibt der Ware in ihrer Eigenschaft als »ordinäres, sinnliches« Ding die Merkmale der menschlichen Beziehungen zu, unter denen sie produziert wurde. Die Ausdehnung der Ware und ihres Fetischismus auf die Totalität des gesellschaftlichen Lebens läßt die menschliche Tätigkeit, die eigentlich Prozeß und Fluß ist, als eine Reihe von der menschlichen Macht entzogenen Dingen erscheinen, die nur ihren eigenen Gesetzen folgen. Es gibt kein modernes Problem, das nicht letztendlich auf das »Rätsel der Warenstruktur«(23) verweist. Von der Zerstückelung des scheinbar unabhängig von den Arbeitern ablaufenden Produktionsprozesses bis hin zur Grundstruktur des bürgerlichen Denkens mit seiner Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt bringt alles den Menschen dazu, die Wirklichkeit passiv in Gestalt von »Dingen«, »Tatsachen« und »Gesetzen« zu betrachten. Vierzig Jahre vor Debord charakterisierte Lukäcs diese Lage des Menschen als die des »Zuschauers«(24).
Bekanntlich hat Lukäcs später von diesen Theorien Abstand genommen mit der Begründung, sie wiederholten den Fehler Hegels, jede Gegenständlichkeit als eine Entfremdung zu betrachen. Debord ignoriert dieses Problem nicht und unterscheidet wiederholt zwischen Objektivität und Entfremdung. So stellt er die Zeit, »die notwendige Entäußerung, wie Hegel zeigte, die Sphäre, in der sich das Subjekt verwirklicht, indem es sich verliert«, der herrschenden Entfremdung gegenüber, die er die »räumliche« nennt. In dieser »trennt die Gesellschaft das Subjekt an der Wurzel von der Tätigkeit, die sie ihm raubt« (GdS 161). Aber in seiner Kritik des Spektakels scheint bei verschiedenen Gelegenheiten die Idee des identischen Subjekt-Objekts wiederzukehren, und zwar in Gestalt des als Fluß interpretierten »Lebens«, dem das Spektakel als »geronnener Zustand« (GdS 35) und als »sichtbare Vereisung des Lebens« (GdS 170) gegenübersteht. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn sich Debords Kritik der Ware manchmal in eine Kritik der »Dinge« verwandelt, die angeblich über die Menschen regieren. Debord und der Lukäcs von Geschichte und Klassenbewußtsein hegen keinen Zweifel, daß eine »gesunde«, nicht entfremdete Subjektivität existieren kann. Sie siedeln diese im Proletariat an, obgleich bei beiden Autoren dessen Definition zwischen soziologischen und philosophischen Kategorien schwankt. So sehr auch die bürgerliche Ideologie und das Spektakel diese Subjektivität von außen angreifen, so kann ihnen diese doch im Prinzip widerstehen(25).
Adorno hingegen entdeckt die Ursache der »Entfremdung« des Subjekts von seiner Welt gerade im »Subjektivismus« und in der Neigung des Subjektes, das Objekt zu »verschlingen« (ND, S. 33). Subjekt und Objekt stellen weder eine letzte unüberwindbare Dualität dar, noch lassen sie sich auf eine letzte Einheit, wie das »Sein«, zurückführen, sondern sie »konstituieren ebenso sich durch einander« (ND, S. 176). Die objektiven Vermittlungen des Subjekts hält Adorno jedoch für wichtiger als die subjektiven Vermittlungen des Objekts(26), da das Subjekt stets eine Form des Objekts bleibt. Konkreter gesagt: die Natur kann auch ohne den Menschen existieren, aber der Mensch nicht ohne die Natur. Das Subjekt-Objekt lukácsianischer Art betrachtet Adorno als Extremfall der »Identitätsphilosophien«, deren Kategorien dem Subjekt als Mittel der Weltbemächtigung dienen. Das Objekt wird mittels der vom Subjekt festgesetzten Kategorien identifiziert, und so verliert sich die Identität des Objekts, seine Eigenschaft, ein individuum ineffabile zu sein. Es wird auf die Identität mit dem Subjekt reduziert. Das »identifizierende Denken« erkennt etwas, indem es es als Exemplar einer Art bestimmt; aber dergestalt findet es dort nichts als das, was es selbst vorher hineingelegt hat. So kann es nie die wahre Identität des Objektes erkennen. Der »guten« Objektivität, die den Dingen ihre Eigenständigkeit, ihre Identität, zurückerstattet, steht die vom Subjekt gesetzte Objektivität gegenüber, die tatsächlich »verdinglicht«. Sie verwandelt den Menschen in ein Ding und das Arbeitsprodukt in einen Warenfetisch. Die vom Subjekt gesetzte Identität ist es, die dem modernen Menschen wirklich seine »Identität« raubt. »Das Prinzip absoluter Identität ist in sich kontradiktorisch. Es perpetuiert Nichtidentität als unterdrückte und beschädigte« (ND, S. 312). In einer Welt, in der jedes Objekt dem Subjekt gleich ist, wird am Ende das Subjekt ein bloßes Objekt, Ding zwischen Dingen. Die Verneinung der Identität der Gegenstände zugunsten der Identität des überall sich selbst wiederfinden wollenden Subjekts verknüpft Adorno, wenngleich auf ziemlich vage Weise, mit dem Äquivalenzprinzip, der abstrakten Arbeit und dem Tauschwert. Die real existierende Verdinglichung ist ein Ergebnis der Abneigung gegen das Objekt überhaupt, so wie die »Entfremdung« aus der Verdrängung dessen resultiert, was anders, fremd, ist. »Wäre das Fremde nicht länger verfemt, so wäre Entfremdung kaum mehr« (ND, S. 174), während das gegenwärtige Subjekt »im kleinsten Überschuß des Nichtidentischen sich absolut bedroht fühlt […] weil seine Prätention das Ganze ist« (ND, S. 184). Die Einheit von Subjekt und Objekt hat weder in der Vergangenheit existiert – der Mensch hat sich nicht von seinem »Wesen« oder einem An-sich entfernt (ND, S. 190-192) – noch ist das zu erreichende Ziel eine »ununterschiedene Einheit von Subjekt und Objekt«, sondern eher eine »Kommunikation des Unterschiedenen«(27). Man sollte allerdings nicht vergessen, daß diese Bemerkungen auf Philosophien wie die existenzialistischen zielen oder auf die beschränkte Mentalität, die alles »Fremde« fürchtet. Auf die Situationisten treffen sie nicht zu, da diese dem Spektakel ja gerade vorwerfen, den Subjekten die Möglichkeit genommen zu haben, sich im Fluß der Ereignisse zu verlieren: »Die überwindbare gesellschaftliche Entfremdung ist gerade diejenige, die die Möglichkeiten und die Risiken der lebendigen Entäußerung in der Zeit verwehrt und versteinert hat« (GdS 161).
Jetzt wird man besser verstehen, warum Adorno die Kunst verteidigt: er traut ihr zu, zur Überwindung der Herrscherrolle des Subjektes beitragen zu können. Nur in der Kunst kann eine »Versöhnung« zwischen Subjekt und Objekt stattfinden. In der Kunst ist das Subjekt die hauptsächliche »Produktivkraft« (ÄT, S. 69, 287); und nur in ihr, z. B. in der romantischen Musik, kann es sich frei entfalten und souverän sein Material beherrschen, ohne ihm Gewalt anzutun – und ihm Gewalt anzutun, bedeutet in letzter Instanz immer, sie sich selbst anzutun. So fungiert die Kunst als ein echter »Statthalter« des »richtigen Leben[s]«(28). Dieses definiert Adorno als einen Zustand, der befreit wäre von »der Betriebsamkeit, dem Planen, seinen Willen haben, Unterjochen« und in dem »[ne] >rien faire comme une bete<, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen […] an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten« könnte(29). Die wahre Praxis der Kunst liegt in dieser Nicht-Praxis, in der Ablehnung der instrumentellen Nutzanwendungen und der gewöhnlicherweise so gepriesenen »Kommunikation«, in der Adorno eine bloße wechselseitige Bestätigung der empirischen Subjekte in ihrem Sosein sieht. Das wahre Subjekt in der Kunst muß das Werk sein und das, was durch es spricht, nicht der Künstler oder der Rezipient: »Kommunikation ist die Anpassung des Geistes an das Nützliche, durch welche er sich unter die Waren einreiht« (ÄT, S. 115). Rimbaud, der Prototyp der Avantgarden, gilt Adorno als »der erste Künstler obersten Ranges, der Kommunikation verwarf« (ÄT, S. 469); »künstlerisch zu erreichen sind die Menschen überhaupt nur noch durch den Schock, der dem einen Schlag erteilt, was die pseudowissenschaftliche Ideologie Kommunikation nennt; Kunst ihrerseits ist integer einzig, wo sie bei der Kommunikation nicht mitspielt« (ÄT, S. 476).
Für Debord hingegen hatte die Kunst die Aufgabe – welche schließlich auf die Anstrengungen zu ihrer Aufhebung übergegangen ist -, die Tätigkeit des Subjekts zu steigern und als Vehikel seiner Kommunikation zu dienen. Letztere existierte unter Bedingungen wie denjenigen der griechischen Demokratie, und der Zerfall dieser Bedingungen ist in den von der Entwicklung der modernen Kunst widergespiegelten »gegenwärtigen Verlust der Kommunikationsbedingungen überhaupt« gemündet (GdS 189). Das Spektakel ist eine »unabhängige Vorstellung« (représentation) (GdS 18) und eine »Kommunikation des Unmitteilbaren« (GdS 192). »Dort wo Kommunikation vorhanden ist, gibt es keinen Staat« (S. I. Bd. II, S. 37) heißt es ziemlich peremptorisch 1963 in Internationale Situationniste. Schon 1958 hatte Debord dort geschrieben: »Alle Formen der Pseudokommunikation müssen bis zu ihrer äußersten Zerstörung geführt werden, damit man eines Tages eine wirkliche, unmittelbare Kommunikation erreicht« (S. I. Bd. I., S. 27). Aber nicht mehr die Kunst soll das zu Wege bringen, sondern eine die Inhalte der Kunst einbegreifende Revolution.
Adorno und Debord unterscheiden sich nicht so sehr darin, was sie für an sich wünschenswert halten. Die Differenzen betreffen vielmehr die Frage, was in diesem geschichtlichen Moment effektiv möglich ist. Adorno und Debord kritisieren es übereinstimmend, daß die gesellschaftliche Vernunft auf ein Dasein in der abgetrennten Sondersphäre der Kultur beschränkt ist. Adorno spricht von der »Schuld, welche [die Kultur] dadurch auf sich lud, daß sie als Sondersphäre des Geistes sich abkapselte, ohne in der Einrichtung der Gesellschaft sich zu verwirklichen«(30). Auch er gibt, auf einer sehr allgemeinen Ebene, zu: »Einer befriedeten Menschheit würde die Kunst absterben»(31), und es wäre »nicht undenkbar, daß die Menschheit der in sich geschlossenen, immanenten Kultur nicht mehr bedarf, wenn sie einmal verwirklicht ist« (ÄT, S. 474). Aber er sieht darin lediglich eine weit entfernte Möglichkeit. Zwar räumt er ein, daß die Kunst nur eine Darstellung von etwas ist, das fehlt, (ÄT, S. 10), aber er stellt gleichzeitig klar, daß man sich heutzutage damit begnügen muß, dieses Fehlen offenbar zu machen, da man ihm nicht entscheidend abhelfen kann: »Wer Kunst abschaffen will, hegt die Illusion, die entscheidende Veränderung sei nicht versperrt« (ÄT, S. 373). Für die Kunst gilt dasselbe wie für die Philosophie: »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward« (ND, S. 15). Nicht einmal die Revolution hält er für an sich unmöglich, sondern nur für heutzutage inaktuell: »Das Proletariat, an das [Marx] sich wandte, war noch nicht integriert: es verelendete zusehends, während andererseits die gesellschaftliche Macht noch nicht über die Mittel verfügte, im Ernstfall mit überwältigender Chance sich zu behaupten«(32). Sogar um 1920 hatte die Revolution noch eine Chance: »Was vor fünfzig Jahren der allzu abstrakten und illusionären Hoffnung auf totale Veränderung für eine kurze Phase noch gerecht erscheinen mochte, Gewalt […]«(33). Adorno hält die Kunst nicht für zu »erhaben«, um das Glück des Individuums zum Ziel zu haben, wie Debord sieht er in der Kunst eine promesse de bonheur(34). Aber, anders als Debord, hält er dieses Versprechen nicht für unmittelbar verwirklichbar und sieht die einzige Möglichkeit, ihm die Treue zu halten, darin, es zu brechen, um es nicht zu verraten (ÄT, S. 461).
Solange es um die Kunst der Zeit von 1850 bis 1930 geht, teilt Debord Adornos Behauptungen über den Wert der reinen Negativität. Aber Debords Einschätzung nach ist es heute möglich, zur Positivität überzugehen – nicht, weil eine tatsächliche Verbesserung der gesellschaftlichen Umstände stattgefunden hat, sondern weil deren Voraussetzungen gegeben sind. Adorno hingegen geht von der aktuellen Unmöglichkeit einer solchen Versöhnung aus und von der Notwendigkeit, sich mit ihrer Evokation in den großen Kunstwerken zu begnügen. Wir haben es also mit zwei gegensätzlichen Einschätzungen der Möglichkeiten und der Grenzen der Moderne zu tun. In demselben Jahr 1963, in dem der hoffnungsvolle Leitaufsatz der achten Nummer von Internationale Situationniste den »neuen Protestbewegungen« gewidmet ist, heißt es bei Adorno resigniert: »In einem geschichtlichen Augenblick aber, da allerorten Praxis abgeschnitten dünkt […] «(35). Die Situationisten konnten eine »Aufhebung der Kunst« nur deshalb für möglich halten, weil sie schon Jahre vor dem Mai ’68 eine Revolution genau dieser Art erwarteten.
Diese divergierenden Einschätzungen entspringen nicht nur aus unterschiedlichen Bewertungen der Ereignisse der fünfziger und sechziger Jahre, sondern sie verweisen auch auf tieferliegende Unterschiede in der Auffassung des Geschichtsprozesses. Die jeweiligen Begriffe des Tauschs und der »Entfremdung« bestimmen den Rhythmus, den unsere Autoren dem geschichtlichen Wandel zuschreiben. Für Debord, wie für Lukäcs, entspringt die »Entfremdung« aus dem Vorherrschen der Ware im gesellschaftlichen Leben, ist also an den Industriekapitalismus gebunden und deshalb nicht älter als zweihundert Jahre(36). Innerhalb dieses relativ kurzen Zeitraums haben die Veränderungen, die sich von einem Jahrzehnt zum anderen ereignen, natürlich eine große Bedeutung.
In den Augen Adornos hingegen können diese Anderungen innerhalb eines Jahrhunderts kein allzu großes Gewicht haben. Er mißt die Ereignisse mit dem Maßstab der »Priorität des Objekts« und der »Identität«. Unter »Tausch« versteht er nicht in erster Linie den Austausch von abstrakte Arbeit enthaltenden Waren, der zum Vorherrschen des Tauschwerts über den Gebrauchswert auf gesellschaftlicher Ebene geführt hat. Stattdessen geht es ihm um einen »Tausch im Allgemeinen«, der mit der ganzen westlichen Ratio zusammenfällt und seinen Vorläufer im Opfer hat. Dieses zielte darauf ab, sich die Götter mittels einer Gabe gnädig zu stimmen, die bald rein symbolisch wurde. Dieses Betrugselement im Opfer leitete dann zum Betrug im Tausch über. Der Tausch ist laut Adorno »ungerecht«, weil er die Qualität und die Individualität unterdrückt, und zwar schon lange bevor er die Form der Aneignung von Mehrarbeit im Tausch von Arbeitskraft gegen Lohn angenommen hatte. Der Tausch und die okzidentale Ratio decken sich in der Reduzierung der Vielfältigkeit der Welt auf bloße Quantitäten einer unterschiedslosen Substanz, sei diese der Geist, die abstrakte Arbeit, die mathematischen Zahlen oder die dequalifizierte Materie der Wissenschaft.
Man kann sich oft schlecht des Eindrucks erwehren, bei Adorno verschwänden die spezifischen Züge der einzelnen historischen Zeitalter vor dem Wirken einiger immergleicher und seit dem Beginn der Geschichte existierenden Prinzipien, wie der Herrschaft und des Tauschs. Die Dialektik der Aufklärung verlegt die Entstehung der Identifikationsbegriffe in eine sehr entfernte Vergangenheit. »Die Riten des Schamanen wandten sich an den Wind, den Regen, die Schlange draußen oder den Dämon im Kranken, nicht an Stoffe oder Exemplare« (DA, S. 12), während bereits in der animistischen Epoche die Unterscheidung zwischen der Sache und ihrem Begriff angefangen hat mit der Differenzierung zwischen dem Baum in seiner physischen Anwesenheit und dem darin wohnenden Geist (DA, S.17). Die Logik geht aus den ersten Beziehungen hierarchischer Unterordnung hervor (DA, S. 23), und zusammen mit dem in der Zeit identischen »Ich« entsteht die Identifikation der Dinge mittels ihrer Einordnung in eine Gattung. Die Behauptung: »Einheit bleibt die Losung von Parmenides bis auf Russell. Beharrt wird auf der Zerstörung von Göttern und Qualitäten« (DA, S.11) bedeutet, daß in vorsokratischer Zeit wie heute dieselbe »Aufklärung« waltet. Die Verdinglichung zu überwinden müßte Adorno deshalb eigentlich für unmöglich halten, da er diese in den tiefliegendsten Strukturen der Gesellschaft verwurzelt sieht. Trotzdem lehnt er es ab, darin so etwas wie eine anthropologische oder ontologische Konstante zu sehen: »Einzig mit Unwahrheit ist Verdinglichung in Sein und Seinsgeschichte zurückzuschieben, damit als Schicksal betrauert und geweiht werde, was Selbstreflexion und die von ihr entzündete Praxis vielleicht zu ändern vermöchten« (ND, S. 98). Die Mauer zwischen dem Subjekt und dem Objekt ist keine ontologische Mauer, sondern eine von der Geschichte errichtete und auf der historischen Ebene überwindbare: »Würde keinem Menschen mehr ein Teil seiner lebendigen Arbeit vorenthalten, so wäre rationale Identität erreicht, und die Gesellschaft wäre über das identifizierende Denken hinaus« (ND, S. 150). Aber trotz dieser Versicherungen bleibt es unklar, wie die Verdinglichung jemals aufgehoben werden kann, wenn sie sich, laut Adorno, sogar in den Strukturen der Sprache wiederfindet: schon in der einfachen Kopula »ist« versteckt sich das Identitätsprinzip, nämlich die Identifikation eines Dinges durch seine Identifizierung mit einem anderen Ding, das es nicht ist (ND, S. 107-111, 151). In den Prädikatsätzen wird das betreffende Objekt durch seine Reduktion auf ein »bloße[s] Exempel seiner Art oder Gattung« bestimmt (ND, S. 149). Wenn das »identische Ich« bereits in sich die Klassengesellschaft enthält(37), und wenn das Denken überhaupt »Komplize« der Ideologie ist (ND, S. 151), dann verspricht das Auffinden eines »Weges nach draußen« eine sehr langwierige Aufgabe zu sein. Dementsprechend außerhalb der konkreten Geschichte siedelt Adorno dann auch das an, was für die Zukunft zu hoffen ist: ein »versöhnter Zustand«, den er selbst mit dem religiösen »Stand der Erlösung« vergleicht (ÄT, S. 16).
Die Revolution und die Verwirklichung der Philosophie, so scheint Adorno manchmal anzudeuten, waren tatsächlich um 1848 möglich. Später hat die Verschmelzung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen der Entwicklung der Produktivkräfte jedes progressive Potential entzogen und eine revolutionäre Perspektive unmöglich gemacht. Sie hat sogar eine Art von regressiver Anthropogenesis bewirkt. Seitdem existiert ein Fortschritt nur in der Kunst: »Daß laut Hegel einmal die Kunst die adäquate Stufe des Geistes gewesen sein soll und es nicht mehr sei [und das meint auch Debord; A.S.], bekundet ein Vertrauen in den realen Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, das bitter enttäuscht wurde. Ist Hegels Theorem von Kunst als dem Bewußtsein von Nöten stichhaltig, so ist sie auch nicht veraltet« (ÄT, S. 309). Im Rückfall in die Barbarei und im endgültigen Sieg des Totalitarismus sieht Adorno stets gegenwärtige Gefahren. Der Kunst kommt die positive Funktion zu, wenigstens von der Möglichkeit einer anderen Welt und einer freien Entfaltung der Produktivkräfte zu künden. Die Kunst erscheint so als das kleinere Übel: »Heute hat sich die vereitelte Möglichkeit des Anderen zusammengezogen in die, trotz allem die Katastrophe abzuwenden« (ND, S. 317).
Adorno konstatiert eine Invarianz der Avantgarden: Beckett spielt für ihn mehr oder weniger dieselbe Rolle wie Baudelaire. Diesen Stillstand führt er auf das unveränderte Andauern der eben geschilderten Situation, nämlich der Modernität, zurück. Er faßt die moderne Kunst nicht nur als eine geschichtliche Etappe auf, sondern auch als eine Art von Kategorie des Geistes. Das gibt er selber zu: die moderne Kunst, erklärt er, hat die Tendenz, die Industrialisierung nur durch ihre Ausklammerung darzustellen, und »an diesem Aspekt von Moderne hat so wenig sich geändert wie an der Tatsache von Industrialisierung als maßgebend für den Lebensprozeß des Menschen; das verleiht dem ästhetischen Begriff von Moderne einstweilen seine wunderliche Invarianz« (AT, S. 57). Die Folge dieser »wunderlichen Invarianz«: »Moderne trat geschichtlich als ein Qualitatives hervor, als Differenz von den depotenzierten Mustern; darum ist sie nicht rein temporal; das übrigens hilft erklären, daß sie einerseits Invariante Züge angenommen hat, die man ihr gern vorwirft, andererseits nicht als überholt zu kassieren ist« (ÄT, S. 404).
Die Situationisten unterscheiden zwischen einer aktiven und kritischen Phase in der Auflösung der traditionellen künstlerischen Formen und einer anderen Phase der leeren Wiederholung desselben Prozesses. Adorno muß eine solche Differenzierung ablehnen, da sie einen Wandel zum Besseren in der Gesellschaft voraussetzt, der nicht stattgefunden hat. Dennoch tauchen auch bei ihm Zweifel über das Fortdauern der modernen Kunst auf. Bei deren Verteidigung stützt er sich immer auf dieselben Namen: in erster Linie auf Kafka und Schönberg, des weiteren auf Joyce, Proust, Valéry, Wedekind, Trakl, Borchardt, Klee, Kandinsky, Masson und Picasso; seine Musikphilosophie stützt sich beinahe ausschließlich auf die Wiener Schule (Schönberg, Webern und Berg). Spricht Adorno von der Moderne, meint er defacto die Kunst von 1910-1930 (in erster Linie den Expressionismus), also eben die Zeit, die den Situationisten als der Höhepunkt und das Ende der Kunst gilt. Mit Ausnahme von Beckett und einiger weniger anderer erfreuen sich die nach dem zweiten Weltkrieg aufgetretenen Künstler und Kunstrichtungen bei ihm keiner wesentlich größeren Wertschätzung als bei den Situationisten. Obwohl er 24 Jahre lang Gelegenheit hatte, die Nachkriegskünstler zu beobachten, ignoriert er sie entweder, wie Y Klein, J. Pollock oder die Fluxusbewegung, oder er verurteilt sie, wie das Happening (ÄT, S. 158). Der Komponist Pierre Boulez erinnert daran, daß in den fünfziger Jahren seine Generation von Komponisten in Adorno den Vertreter einer Bewegung der Vergangenheit sah, während Adorno seinerseits voller Zweifel gegenüber dieser neuen Generation war und über »das Altern der Neuen Musik« schrieb(38). Das Phänomen, das Debord die Zerstörung »auf kleiner Flamme« von bereits zersetzten Strukturen nennt, um daraus noch irgendwelchen Nutzen zu ziehen(39), nimmt auch Adorno aufs Korn: »Hat eine Möglichkeit von Neuerungen sich erschöpft, werden sie mechanisch weitergesucht auf einer Linie, die sie wiederholt, so muß die Richtungstendenz der Neuerung verändert« werden (ÄT, S. 41).
Für Adorno steht fest, daß die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte einen Punkt erreicht hat, an dem sie nur noch Selbstzweck ist. Es ist aber nicht einzusehen, warum unter solchen Bedingungen nicht schließlich auch die ästhetischen Produktivkräfte vom Schicksal der Blockierung ereilt werden sollten. Zwar mögen sich diese eine Zeit lang auch ohne eine dazu parallele Evolution auf gesamtgesellschaftlicher Ebene fortentwickeln, aber irgendwann muß dieser Prozeß zwangsläufig seine Grenze finden. In der Tat, Adorno war sich der schweren Krise der modernen Kunst völlig bewußt und zweifelte am Sinn von vielen der künstlerischen Experimente der fünfziger und sechziger Jahre. Dem steht es nicht entgegen, daß Adorno leidenschaftlich Beckett verteidigt, den die Situationisten hingegen als ein Beispiel der selbstzufriedenen Einrichtung in der Leere zitieren. Adorno beschreibt Beckett eher als ein Endstadium der Kunst denn als ein Beweis für deren Vitalität. Von heute aus gesehen, scheint sich der Unterschied der Urteile also auf die Frage zu reduzieren, ob die »letzten Künstler« in den dreißiger oder aber in den fünfziger Jahren anzusiedeln sind.
Der zwanzigjährige Debord hat 1952 den Film »Geheul für de Sade« vorgeführt(40): in der ersten halben Stunde des Films ist die Leinwand abwechselnd schwarz und weiß, begleitet von einer Collage aus verschiedenen Texten, woraufhin 24 Minuten völligen Schweigens und Dunkels folgen(41). Bemerkenswerterweise findet man in diesem »Film« all das, was Adorno in der modernsten Kunst, und vor allem in der Becketts, lobt: die Abwesenheit von »Kommunikation«; die gewollte Enttäuschung der Erwartung, das Kunstwerk »mildere die Entfremdung«, um hingegen den Rezipienten mit einem Äußersten an Verdinglichung zu konfrontieren (AT, S. 254); die Einhaltung des »Bilderverbotes«. Der Film hatte die von Adorno empfohlene Farbe: »Um inmitten des Äußersten und Finstersten der Realität zu bestehen, müssen die Kunstwerke, die nicht als Zuspruch sich verkaufen wollen, jenem sich gleichmachen. Radikale Kunst heute heißt soviel wie finstere, von der Grundfarbe schwarz« (ÄT, S. 65). Und dennoch wird gerade hier der ganze Unterschied zwischen Debord und Adorno greifbar. Für den nicht an mangelndem Selbstbewußtsein leidenden Debord war sein Film die äußerste Spitze der Negation in der Kunst, dem eine neue Positivität folgen muß. Für Adorno ist das unmöglich: »Negation vermag in Lust umzuschlagen, nicht ins Positive« (AT, S. 67). Internationale Situationniste schreibt 1963 unter Bezugnahme auf Debords Film, daß die »negative Avantgarde« »nirgends eine Avantgarde der reinen Abwesenheit sei, wie Goldmann glaubt, sondern immer die Inszenierung des Skandals der Abwesenheit gewesen ist, um zur gewünschten Anwesenheit aufzufordern« (S. I. Bd. II., S. 25). Daß das Publikum der Erstaufführung wütend wurde und den Film unterbrechen ließ, betrachtet dieser Artikel als einen Erfolg: das Publikum hatte die Rolle des Konsumenten abgestreift und war über die Logik des Kunstwerks hinausgegangen. Die Situationisten verspotteten beinahe die ganze ihnen zeitgenössische Kunst als »Neo-Dadaismus«, kritisierten deren »Einrichtung in der Nichtigkeit«(42) und nannten sie »eine apologetische Kunst des Mülleimers« (S. I. Bd. II., S.133).
Sowohl Adorno wie Debord geben auf die Frage, ob es in den letzten Jahrzehnten tatsächlich Kunstwerke von Rang gegeben hat, Antworten, die kaum mehr als reine Behauptungen am Rande des bloß persönlichen Urteils sind. »Die Entstehung jedes authentischen Werkes widerlegt das pronunciamento, es könne nicht mehr entstehen« (ÄT, S. 373), frohlockt Adorno, während Debord 1985 im Vorwort zur Neuauflage von Potlatch kühl versichert: »Das Urteil Potlatchs bezüglich des Endes der modernen Kunst schien, angesichts der im Jahre 1954 gängigen Meinungen, wirklich sehr übertrieben. Man weiß jetzt […] daß man seit 1954 nie mehr einen einzigen Künstler hat auftauchen sehen, wo immer es auch sei, dem man ein wirkliches Interesse hätte zubilligen können«(43).
Der Vergleich auf der theoretischen Ebene dürfte fruchtbarer sein. Gegenüber der Behauptung Debords, die direkte Verwirklichung der Leidenschaften sei in jedem Falle ihrer künstlerischen Transfiguraüon vorzuziehen, ist Skepsis sicher erlaubt. Debords (damaliger) Optimismus, was die Möglichkeit des Übergangs zum »wahren Leben« betrifft, wirkt heute unvergleichlich weniger überzeugend als in den sechziger Jahren. Aber gleichzeitig kann man nicht die von ihm aufgezeigte aporetische Situation der Kunst übersehen, während Adorno ihre Tragweite wohl unterschätzt hat. Die Entwicklungslogik der modernen Kunst war die einer unerbittlichen Eskalation und hat schnell zu Extremen wie der weißen Seite Mallarmés, dem weißen Quadrat auf weißem Grund Malewitschs, der onomatopoetischen Poesie und Finnegan’s Wake geführt. Adorno drückt das in der Bemerkung aus, daß man nach einem Stück von Beckett das Interesse für alle weniger radikalen Werke verliert (ÄT, S. 37). In dieser Lage läßt sich nichts Neues mehr in derselben Richtung erfinden, aber die Rückkehr zu traditionellen Kunstformen ist genauso ausgeschlossen. Im Laufe dieses Jahrhunderts hat die Welt sicherlich nicht den »Sinn« und die »Darstellbarkeit« wiedererlangt, die den Gehalt der traditionellen Kunstformen ausmachten und deren Verschwinden das Thema der Avantgarden war.
Das Verhältnis der modernen Kunst zur Entfaltung der Wertlogik war in mehrfacher Hinsicht zwiespältig. Die seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts sich abspielende Auflösung der traditionellen Lebensweisen und Gemeinschaftsformen samt der dazugehörigen Kommunikationsweisen hat die damit gleichzeitige Kunst einerseits negativ registriert. Der Schock der »Unverständlichkeit« wollte deutlich machen, daß nichts mehr selbstverständlich war. Schon vor den eigentlichen Avantgarden war die Sehnsucht nach einer verlorengegangenen »Echtheit« des Erlebens zu einem der Zentralthemen der Kunst geworden(44). Andererseits erlebte sie diese Auflösung als eine Freisetzung von Potentialen und als einen Zugang zu neuen Lebens- und Erfahrungshorizonten. Sie begrüßte einen Prozeß, der de facto die Auflösung der vorbürgerlichen Gesellschaftsformationen und die Befreiung der abstrakten Individualität von vormodernen Zwängen war. Allerdings faßte die Kunst diese Zwänge nicht nur, wie es die Arbeiterbewegung tat, als Ausbeutung und politische Unterdrückung auf, sondern in ihren Augen schlossen diese auch die Familie, die Moral, den Alltag, die Religion und sogar die Wahrnehmungs- und Denkstrukturen ein. Darin liegt etwas, worin die Kunst weit über die damit gleichzeitige Arbeiterbewegung und deren implizites Ziel der Vervollständigung der Wertvergesellschaftung hinausweist und das, im Gegensatz zu den Zielen der Arbeiterbewegung, noch heute uneingelöst bleibt. Die Kunst, wie die Arbeiterbewegung, vermochte jedoch nicht, besagten Auflösungsprozeß als Durchsetzung der abstrakten Geldmonade zu dechiffrieren. Sie glaubte, darin(45) den Beginn einer generalisierten Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft, einschließlich des Staates und des Geldes, ausmachen zu können, statt darin einen Sieg der entwickeltesten bürgerlichen Formen, wie Staat und Geld, über die vorbürgerlichen Reste zu sehen. So kommt es, daß die moderne Kunst unfreiwilligerweise die Rolle eines Vorläufers des völligen Triumphs wertförmiger Subjektivität über die vorbürgerlichen Formen gespielt hat, welche sie, gleich der Arbeiterbewegung, mit der Essenz der bürgerlichen Gesellschaft verwechselte(46). Die Umwälzung des traditionellen Überbaus, von der Sexualmoral bis zum Aussehen der Städte, erschien der modernen Kunst als etwas, das aus der Revolutionierung der Produktionsweisen eigentlich folgen müßte, dem sich aber das »Bürgertum« zwecks Erhaltung seiner Herrschaft entgegenstellte, und das deshalb eingeklagt werden mußte. Darin irrte sich die Kunst allerdings ganz gewaltig. Mallarmés »La destruction fut ma Beatrice« hat sich ganz anders verwirklicht, als der Dichter sich das hatte vorstellen können. Die kapitalistische Gesellschaft selbst hat das ins Werk gesetzt, was ihre Kritiker, wenngleich auf andere Weise, tun wollten: sie hat alles umgestülpt. Die Eröffnung neuer Wege und der Abschied von den traditionellen Lebensweisen haben tatsächlich stattgefunden, aber sichtbarerweise nicht mit dem Ziel, die Individuen von archaischen und erstickenden Bindungen zu befreien, sondern um alle Hindernisse für eine völlige Verwandlung der Welt in Ware zu beseitigen. In dieser Situation wird die Zersetzung der künstlerischen Formen dem tatsächlichen Zustand der Welt vollkommen isomorph und kann keinerlei Schock mehr versetzen. Die Sinnlosigkeit und die Aphasie, wie bei Beckett, die Unverständlichkeit und der Irrationalismus bilden heutzutage bloß noch einen integrierenden und nicht weiter auffallenden Bestandteil der Umwelt. Sie wirken deshalb apologetisch statt kritisch. Das zeigt sich schon an dem heute auf Massenebene verbreiteten Wunsch, es in der eigenen bescheidenen Existenz den historischen Avantgarden gleichzutun(47). Der »Irrationalismus« vieler Avantgarden war ein Protest dagegen, daß eine kleinliche und bloß vorgebliche »Rationalität« die in der Phantasie und dem Unbewußten vorweggenommenen menschlichen Potentialitäten im Zaum hielt. Aber was für einen Sinn kann dieser Irrationalismus der Kunst heute haben, wo der Irrationalismus der gesellschaftlichen Ordnung sich in seiner ganzen Ausdehnung zeigt und nicht einmal mehr versucht, sich zu verbergen? Es scheint, daß Adorno diesen Wandel der gesellschaftlichen Bedingungen nicht in all seinen Konsequenzen überdacht hat. Deshalb trifft seine Analyse der negativen Arbeit der formalen Kunst auf die »historischen« Avantgarden völlig zu, aber sie erfaßt nicht mehr das, was gegenwärtig auf dem Spiel steht.
Lukäcs hat die Avantgarden seiner Zeit auf eine falsche Weise kritisiert. Zwar erkannte er die Übereinstimmung zwischen der Auflösung der künstlerischen und der der gesellschaftlichen Formen, aber er sah in der künstlerischen Auflösung eine reine Apologie der gesellschaftlichen und verstand deren kritische Funktion nicht. Ironischerweise trifft aber das Verdikt, das er gegen die Originale verhängte, sehr gut auf jene Richtungen zu, die in den letzten Jahrzehnten beansprucht haben, das Erbe dieser Avantgarden anzutreten. Allerdings sind die heute nötigen Maßstäbe sicherlich nicht die von Lukács, da es nicht um eine Rückkehr zu vorbürgerlichen Formen als den »richtigen« gehen kann. Es war im Gegenteil der bewußteste Teil der Avantgarden, der zuerst erkannt hat, daß die Fortsetzung ihrer kritischen Arbeit eine Revision verlangte. Als Andre Breton 1948 in einem Interview gefragt wurde, ob die Surrealisten von 1925, in ihrem Verlangen, den bürgerlichen Frieden zu stören, nicht sogar die Atombombe begrüßt hätten, erwiederte er: »In La lampe dans l’ horloge […] äußere ich mich ohne Verlegenheit zu dieser grundlegenden Frage: das lyrische Streben nach dem Ende der Welt und seine Zurücknahme, in Bezug auf die neuen Umstände«(48). 1951 drückte Breton in wenigen gutgewählten Worten die epochale Veränderung aus, die sich in weniger als drei Jahrzehnten abgespielt hatte und die, so läßt sich hinzufügen, seitdem noch erheblich weiter vorangeschritten ist: »In Frankreich, zum Beispiel, war der Geist damals von Erstarrung bedroht, während er heute von Auflösung bedroht ist«(49). Die Situationisten haben diese Selbstkritik der Avantgarden fortgesetzt. Debord wirft den Surrealisten gerade ihren Irrationalismus vor, der nurmehr der bestehenden Gesellschaft diene. Er besteht darauf, daß man »die Welt vernünftiger gestalten muß, erste Bedingung, um sie leidenschaftlicher zu gestalten«(50). Während die Surrealisten 1932 ihre »Experimentellen Untersuchungen gewisser Möglichkeiten irrationaler Verschönerung einer Stadt« vorstellten, hat die lettristische Gruppe von Debord 1956 ein Projekt »rationaler Verschönerungen« vorgestellt(51).
Der Leerlauf und der Perspektivmangel der modernen Kunst entsprechen dem Leerlauf und dem Perspektivmangel der Warengesellschaft, die alle ihre Karten ausgespielt hat. Der Ruhm der einen ist zusammen mit dem der anderen vergangen. Die Frage, ob es eine Kunst geben wird, und was für eine, wird nicht mehr von der Kunst alleine entschieden werden. Eine direkt vergesellschaftete Menschheit wird, um noch einmal Debord zu zitieren, ein »Athen oder Florenz sein, aus dem niemand ausgeschlossen sein wird«, und sie wird, nicht hinter Dante und Praxiteles zurückbleiben. Provare per credere.
Fußnoten
1) Während der Drucklegung dieses Artikels – am 30. November 1994 – hat sich Guy Debord das Leben genommen. So ist dieser Essay leider gleichzeitig Nachruf auf einen Mann, der wie wenige in diesem Jahrhundert mit Würde zu leben verstanden hat, und dessen Bedeutung es noch zu entdecken gilt – erst recht in Deutschland. Und während Debords Tod von Ie Monde auf der ersten Seite gemeldet wurde, so scheint in Deutschland keine Zeitung davon Notiz genommen zu haben, mit Ausnahme der taz, die einen bezeichnenden Nachruf veröffentlichte: Er war nicht nur in einem geradezu unverschämt beiläufigen und abschätzigen Ton gehalten, sondern enthielt darüber hinaus auch noch eine ganze Reihe von biographischen und sachlichen Verdrehungen beziehungsweise Unrichtigeiten.
2) Allerdings in Deutschland wesentlich weniger als in Frankreich, wo die Wiederveröffentlichung seiner Hauptwerke im Verlag Gallimard 1992 ein lebhaftes Echo hervorgerufen hat, und als in Italien, wo in den letzten Jahren mindestens acht Bücher der oder über die Situationisten veröffentlicht worden sind.
3) Die am häufigsten zitierten Werke sind mit Abkürzungen angegeben: GdS = Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, deutsche Übersetzung Edition Nautilus, Hamburg 1978, zitiert nach den Paragraphen 0; S. I. = Situationistische Internationale, Zeitschrift der gleichnamigen Gruppe 1958-1969, deutsche Übersetzung Edition Nautilus, Hamburg 1975/76; ÄT = Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1970; DA = Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (1947), S. Fischer Verlag, Frankfurt 1979; ND = Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (1966), Suhrkamp, Frankfurt a.M.,1988.
4) In den letzten Jahren hat ein weitverbreiteter journalistischer Brauch den Ausdruck »Gesellschaft des Spektakels« zu einer Bezeichnung für die Tyrannei des Fernsehens und ähnlicher Erscheinungen popularisiert. Bei Debord hingegen ist der Massenmedienaspekt des Spektakels nur »seine erdrückendste Oberflächenerscheinung« (GdS & 24). »Spektakulär« ist für Debord die Gesamtstruktur aller bestehenden Gesellschaften, auch die der »realsozialistischen« (1967 eine besonders kühne These).
5) Stichworte (1969), Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1989, S. 161.)
6) Gesellschaft in: Adorno, Soziologische Schriften I (1972), Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1979, S.1314.
7) Adorno war schon in den dreißiger Jahren zu diesem Ergebnis gekommen – vgl. Dissonanzen, 4. Aufl., Göttingen 1969, S. 19. – Zur Frage, ob der Gebrauchswert ohne weiteres mit dem konkreten Genuß identifiziert werden kann, vgl. den Aufsatz Geschlechtsfetischismus in Krisis Nr. 12 und die dort zitierte Literatur, aber auch M. Perniola, Valienazione artistica, Mursia, Milano 1971.
8) Kein Buch Adornos ist vor 1973 ins Französische übersetzt worden, als die situationistische Theorie bereits ausgearbeitet war; und umgekehrt hat Adorno wohl nie die Theorien Debords kennengelernt.
9) Debord, Vorwort zur vierten italienischen Ausgabe der »Gesellschaft des Spektakels« (1979), in In girum imus nocte, Edition Tiamat, Berlin 1985, S. 136.
10) Prolog zum Fernsehen«, in: Eingriffe, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1963, S. 69, 7475.
11) Résumé über Kulturindustrie, in: Ohne Leitbild (1967), Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1973, S.70.
12) Ibid., S. 68.
13) Vgl. dazu die Thesen zum Ende des Schönen in Krisis Nr. 12, in denen (S. 191 f.) Stahlmann mit einer anderen Argumentation und ohne Bezugnahme auf die GdS zu beinahe wörtlich demselben Ergebnis wie Debord gelangt.
14) Prismen (1955), Suhrkamp, Frankfurt a.M.1976, S. 30.
15) Raoul Vaneigem, Handbuch der Lebenskunst (1967), deutsche Übersetzung Edition Nautilus, Hamburg, S. 2.
16) Minima Moralia (1951), Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1989, S. 207-208.
17) Noten zur Literatur (1974), Suhrkamp, Frankfurt a.M.1989, S. 444.
18) Rapport sur la construction de situations et sur les conditions de l’ organisation et de l’ action de la tendance situationniste internationale, Paris 1957, hier zitiert nach dem Abdruck in Mirella Bandini, L’ estetico, il politico, Officina, Roma 1977, S. 278.
19) Potlatch 1954-1957, Bulletin d’ information du groupe francais de l’Internationale lettriste,
Nachdruck Éditions Gerard Lebovici, Paris 1985, S. 237.
20) Potlatch , a.a.O., S. 128.
21) Z. B. in Rapport, a.a.O., S. 289.
22) Soziologische Schriften I, a.a.O., S. 16.
23) Geschichte und Klassenbewußtsein (1923), Luchterhand, Neuwied 1968, S. 257.
24) Ibid., S. 265.
25) Hier, wie im Rest des Artikels, lasse ich die zum Teil geänderten Ansichten außer acht, die Debord in seinen 1988 erschienen Commentaires sur la société du spectacle, Éditions Gerard Lebovici, Paris 1988, geäußert hat.
26) Stichworte, a.a.O., S. 156.
27) Ibid., S. 153.
28) Z. B. in Noten zur Literatur, a.a.O., S. 126.
29) Minima Moralia, a.a.O., S. 208.
30) Stichworte, a.a.O., S. 147.
31) Philosophie der neuen Musik, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a.M. 1958, S. 22.
32) Eingriffe, a.a.O., S. 23-24.
33) Stichworte, a.a.O., S. 179.
34) Potlatch, a.a.O., S. 178.
35) Eingriffe, a.a.O., S. B.
36) Das bedingt nicht notwendigerweise ein positives Urteil über die vorhergehenden Gesellschaften, die andere Formen der Entfremdung kannten.
37) Stichworte, a.a.O., S.160.
38) Le Débat Nr. 50, Mai-August 1988, S. 259.
39) Rapport, a.a.O., S. 237.
40) Filmmanuskript in Gegen den Film, Edition Nautilus, Hamburg 1977.
41) Angesichts des Datums kann man diesen Film als eine wichtige Etappe in der Radikalisierung der modernen Kunst betrachten. Debord erinnert daran, daß der Maler Yves Klein der Projektion beiwohnte und behauptet, dieser habe sich daran für seine spätere monochrome Malerei inspiriert (Debord, Considérations sur l’assassinat de Gerard Lebovici, Éditions Gerard Lebovici, Paris 1985, S. 46).
42) Rapport, a.a.O., S. 283.
43) Potlatch, a.a.O., S. 9.
44) So hat es auch Stahlmann in dem zitierten Artikel aus Krisis 12 beschrieben (S. 181).
45) Manchmal geschah das explizit, wie bei den Dadaisten, den Surrealisten und den russischen Futuristen und Konstruktivisten, in anderen Fällen nur implizit.
46) Anknüpfend an Stahlmann kann man sagen, daß die moderne und abstrakte Kunst die abstrakte Subjektivität und die Sphärentrennung gleichzeitig auf die Spitze getrieben und deren Leere offensichtlich gemacht hat, mal freiwilligerweise, mal unfreiwilligerweise. Allerdings verteilen sich diese beiden Aspekte zum Teil auf verschiedene Kunstrichtungen.
47) Vgl. Stahlmann, a.a.O., S. 171,197.
48) Andre Breton, Entretiens, Gallimard, Paris 1969, S. 271.
49) Ibid., S. 218.
50) Rapport, a.a.O., S. 280.
51) Potlatch, a.a.O., S. 177.