Ein postpolitischer Streifzug
Ernst Lohoff
1. Modernisierung und Politikemphase
Als Marx im letzten Jahrhundert die Grundstruktur der ersehnten kommunistischen Umwälzung zu umreißen suchte, machte er eine grundlegende Differenz zwischen der erhofften sozialistischen Revolution und den vorangegangenen bürgerlichen Revolutionen auf. Während er in den »Revolutionen des 18. Jahrhunderts« »bloß politische Revolutionen« sah, erwartete er von der »proletarischen Revolution des 19. Jahrhundert«, daß sie dieses Schema sprengen und zu einer ganz anders gearteten, nämlich »sozialen Revolution« werden würde. Mit dem Aufstand der Pariser Kommune schien das neue Modell einer antibürgerlichen Revolution bereits Umrisse zu gewinnen. Die kurzlebige Kommune stand laut Marx nicht für die Eroberung der Staatsgewalt, die Übernahme des politischen Mechanismus durch die Arbeiterklasse, sondern schon für die Zurücknahme des Staates in die mit dem Kapitalverhältnis brechende Gesellschaft.
Die weitere Entwicklung richtete sich allerdings nicht nach der Marxschen Prognose. In den Umwälzungen, die sich im 20. Jahrhundert unter dem »Banner des Marxismus« vollzogen, spielte die Überwindung von Politik und Staatlichkeit, wie sie immerhin noch der Rätegedanke transportierte, nur mehr eine ephemere Rolle. Die »sozialistischen Revolutionen« markierten dementsprechend nicht das Ende der Epoche politischer Revolutionen, sondern setzten diese Ära fort. Mit der russischen Oktoberrevolution, später der chinesischen und der kubanischen Revolution, trat kein qualitativ neues Revolutions-Muster an die Stelle desjenigen von 1789; diese Umstürze sind vielmehr als den jeweiligen Verhältnissen angepaßte Remakes des klassischen französischen Originals zu fassen. Die Hauptleistung von Lenin, Mao, Tito, Ho Tschi Minh, Castro und Co. bestand darin, aus dem vor dem 20. Jahrhundert auf die Weltregionen Westeuropa und Nordamerika beschränkten Phänomen der politischen Revolution eine globale Erscheinung zu machen.
Die Tatsache, daß die historischen »sozialistischen Revolutionen« im Gegensatz zur Marxschen Prognose gerade die Gestalt politischer Revolutionen annahmen, läßt sich nicht von ihrem gesellschaftlichen Inhalt abtrennen. Die Revolutionäre mögen noch so fest davon überzeugt gewesen sein, an der Sprengung des bürgerlichen Vergesellschaftungsmodus zu arbeiten, der »bloß« politische Charakter der historischen »sozialistischen Umwälzungen« dementiert diesen Anspruch und kennzeichnet diese Umbrüche als Teilmomente nachholender bürgerlicher Entwicklung. »Revolutionäre Politik« ist qua Form kompatibel mit dem Vormarsch der Wertvergesellschaftung.
Die Integration der Systemopposition hat eine lange Geschichte. Diese Vereinnahmung blieb denn auch weder als solche unbemerkt, noch erwies sich die Entdeckung dieser Tendenz als folgenlos für das Lager der Emanzipation. Um die Jahrhundertwende wurde die sukzessive Mutation der antikapitalistischen Bewegung zum Systembestandteil erstmals ein Thema; und seit dem Schisma der Arbeiterbewegung im Gefolge des Ersten Weltkriegs prägte die Spaltung in »Reformisten« und »Revolutionäre« die antikapitalistische Opposition. Die Radikalen wollten die Bewegung in den Schoß der bürgerlichen Gesellschaft nicht mitmachen und gründeten daher eigene Organisationen. Über Jahrzehnte beschäftigte sich die Linke vorzugsweise mit internen Scheidungsprozessen und periodischen Säuberungen, und noch in den Nachfolgeprodukten der Neuen Linken fand diese Praxis ihre karikaturhafte Fortsetzung.
Den »Radikalen« ging es immer darum, einen möglichst reinen, konsequent antibürgerlichen Pol zu schaffen. Erfolg war diesem Bemühen allerdings nie beschieden. Das wenig befriedigende Ergebnis solcher Anstrengungen läßt sich erklären. Das Heilmittel nämlich, das die aufrechten Revolutionäre ein ums andere Mal zur Anwendung brachten, konnte deshalb nicht anschlagen, weil es selber ein Teil jener Krankheit war, deren Bekämpfung es eigentlich dienen sollte. Wenn der proletarische Protest und seine systemoppositionellen Nachfolger immer wieder ins Fahrwasser arbeitsgesellschaftlicher Herrschaftslogik gerieten, dann ist dafür zweierlei verantwortlich: zum einen die Transformation aller Bemühungen des unterständischen Milieus um eine Verbesserung seiner Reproduktionsbedingungen in den blanken Lohnkampf, zum anderen die Akkulturation der Opposition an des Medium der Politik.(1) Während es aber wesentlich seine Politifizierung war, die den antikapitalistischen Impuls zu einer Triebkraft wertförmiger Zurichtung verkehrte, fiel der marxistischen Opposition nichts besseres ein, als gegen die Resultate dieser Entwicklung ausgerechnet mit einer schon religiös anmutenden Emphase des Politischen vorzugehen. Ihre ganze Weisheit bestand also absonderlicherweise gerade darin, das eine Moment im Doppelprozeß wertgesellschaftlicher Durchdringung, die Etatisierung, gegen das andere, den Vormarsch der Marktdynamik und des Warenbesitzerstandpunkts, geltend zu machen.(2)
Die klassische Gestalt dieser gegen sich selber unkritischen Kritik repräsentiert Lenin. Mit seiner These von der »Arbeiteraristokratie« und seiner von Kautsky übernommenen Theorie vom bloß trade-unionistischen Spontanbewußtsein der Arbeiterschaft formulierte er das später tausendfach reproduzierte Leitmotiv des politizistischen Revolutionarismus. Für ihn war das Auseinanderbrechen der Gesamt- opposition und ihre reformistische Vereinnahmung letztendlich immer nur das Ergebnis von »Verrat« und »Bestechung«. Eine schmale, aus der Arbeiterklasse herausgelöste Schicht, so die Grundthese, hat die Arbeiterorganisationen ihren Sonderbelangen dienstbar gemacht und das Gesamtinteresse des Proletariats verkauft.(3) Da für Lenin der Reformismus im »bloß« gewerkschaftlichen Bewußtsein großer Teile der Arbeitermassen eine Stütze, ja so etwas wie eine »materielle Basis« fand, konnte die Rettung nur darin bestehen, daß die wahren Vertreter des Arbeiterstandpunkts mit den Reformisten brechen und in ihren Sonderorganisationen konsequent das Primat der in der revolutionären Arbeiterpartei inkarnierten Arbeiter-Politik durchsetzen.
Diese Überhöhung des politischen Moments gegenüber dem pejorativ bestimmten gewerkschaftlichen Bewußtsein war einer radikalen Kritik des Kapitalverhältnisses um keinen Deut näher als der sozialdemokratische Standpunkt, der sich den unmittelbaren Interessen der Lohnarbeiter gegenüber wesentlich konzilianter zeigte. In einer Beziehung war die Leninsche »Analyse« und die Fixierung auf die Eroberung der Staatsgewalt der »reformistischen« Version allerdings haushoch überlegen: Sie wurde den speziellen Erfordernissen nachholender Modernisierung weit besser gerecht. Während die westliche Sozialdemokratie das Modell dafür lieferte, wie die Verallgemeinerung der Staatsbürgerlichkeit in den bereits vergleichsweise fortgeschrittenen Staatswesen zu bewerkstelligen sei, waren die Bolschewiki aufgrund ihrer politizistischen Religion dazu prädestiniert, in einer Weltregion eine abstrakte staatliche Allgemeinheit beschleunigt aus dem Boden zu stampfen, in der eine solche bis zu diesem Zeitpunkt (im strengen Sinne zumindest) noch nicht existiert hatte. Dank ihrer Bereitschaft, das empirische proletarische Interesse an höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen dem in der Partei inkarnierten proletarischen Meta-Standpunkt rücksichtslos unterzuordnen, setzten sich die Kommunisten in Rußland als die einzige Kraft durch, mit der überhaupt gegen die halbständischen Sonderinteressen ein Staat zu machen war.
In vielen Ländern, die sich in einer vergleichbaren Konstellation befanden, machte das russische Beispiel in der Folge Schule. Die radikale Deifizierung der Politik, die Verwandlung des sozialistischen Ziels in eine von den Alltagsbedürfnissen abgetrennte transzendente Größe, setzte auch andernorts an der kapitalistischen Peripherie politizistische Orden in die Lage, jenem überfälligen Etatisierungsprozeß als Träger zu dienen, der auf einem anderen Weg nicht so recht in Gang kommen wollte. Der emphatische Politizismus, den die sozialistische und kommunistische Arbeiterbewegung pflegte, bewährte sich als die passende Begleitideologie für jenen beschleunigten Durchstaatlichungsprozeß, ohne den die Entfaltung und Verallgemeinerung der Warenbeziehung gar nicht vonstatten gehen kann.
2. Das Ende emanzipatorischer Politik
Der Glaube an die Politik kennzeichnete nicht nur Lenins Lehre; eine emphatische Politikvorstellung kann insgesamt als das Hauptmerkmal der traditionellen Opposition gelten. Links sein und politisch sein waren über Jahrzehnte Synonyme; und noch die in der 68er Bewegung geprägte Formel von der »Politisierung des Alltags« klang mehr nach der beständigen Selbstverpflichtung, den Ansprüchen eines politischen »Über-Ichs« Genüge zu tun, als nach dem Wunsch, die für die bürgerliche Gesellschaft konstitutive Sphärentrennung und damit auch das Reich der Politik aufzuheben. Die Opposition fand im politischen Vermittlungsmedium ihre eigene Lebenssphäre und dachte Emanzipation vornehmlich als Sieg des Politischen und als Triumph einer »anderen Politik«.
Diese Interpretation wäre dem oppositionellen Spektrum, wie es sich in der Nachkriegszeit im Westen herausgebildet hat, nie derart in Fleisch und Blut übergegangen, wenn es sich dabei nur um ein überkommenes Erbe gehandelt hätte. Der Glaube an die Politik konnte sich aber nicht nur aus der linken Tradition speisen, er fand gleichzeitig über Jahrzehnte auch am gesellschaftlichen Entwicklungstrend Nahrung. Mit der beschleunigten Modernisierung des Kapitalverhältnisses in der Boomphase der 50er und 60er Jahre nahm in den kapitalistischen Zentren permanent die Bedeutung der politischen Steuerung und der staatlichen Rahmen-Institutionen für den warengesellschaftlichen Gesamtbetrieb zu. Die Megamaschine bedurfte im wachsenden Maße des zum Welfare-Staates weiterentwickelten Warfare-Staates, seiner infrastrukturellen Leistungen sowie seiner geldpolitischen Maßnahmen, um zu funktionieren und weiter zu prozessieren.
Bei dem neuen Verhältnis, in das die Konsumgesellschaft und die moderne Staatlichkeit traten, handelte es sich zwar näher besehen um eine symbiotische Beziehung: Der Staat wird als Rahmensetzer nicht nur unverzichtbar für den ökonomischen Betrieb, er ist gleichzeitig auch seinerseits unabdingbar auf dessen Funktionieren in einem historisch neuen Grad unmittelbar angewiesen. Das herrschende Bewußtsein nahm indes die Reziprozität der Abhängigkeit nicht wahr. Angesichts der vermeintlich ewigen Krisenfreiheit der Akkumulation schien es stattdessen nahe zu liegen, den von der Konkurrenzlogik selber induzierten Vormarsch abstrakt-allgemeiner Vermittlung als das Souveränwerden der Politik zu deuten. Selbst das liberale Lager konnte sich dem übermächtigen sozialdemokratisch-keynesianischen Credo von der Notwendigkeit und der »segenspendenden Wirkung« politisch-staatlicher Regulation nicht verschließen; und es erschien allgemein als eine ausgemachte Sache, daß die Zukunft der Gesellschaft allein vom politischen Ausgestaltungswillen abhängt. Dieses allgemein verbreitete Verständnis hat der linke Politizismus nur verlängert und auf die Spitze getrieben.
Das linke Mißtrauen gegenüber der offiziellen Politik kontrastiert mit dem Vertrauen, das die Linke zeitlebens dem Medium der Politik als solchem entgegenbrachte. Die fraglose Ausrichtung auf das Politische hat die Linke zwar in ihrer erdrückenden Mehrheit daran gehindert, je zu einer fundamentalen Kritik der bestehenden Vergesellschaftungsform durchzustoßen; diese Orientierung war aber gleichzeitig die Voraussetzung dafür, daß sie, solange die Verwertungslogik zur Ausdehnung der Zuständigkeitsbereiche des Staates drängte, überhaupt gesellschaftlich wirksam werden konnte. Diese insbesondere für die sozialdemokratische Reform-Ära der 60er und 70er Jahre bestimmende Konstellation währte allerdings nicht ewig. Sie gehört heute bereits der Vergangenheit an. Die Linke hat als bewußter oder indirekter Agent der Etatisierung keine Zukunft mehr, weil dieser Prozeß selber keine Zukunft mehr hat.
Die 50er und 60er Jahre waren vom historisch einmaligen fordistischen Akkumulationsschub geprägt. Der gegenwärtigen Phase drückt hingegen die Krise der Arbeitsgesellschaft ihren Stempel auf. Die Krise der Arbeitsgesellschaft bedeutet aber zugleich auch notwendigerweise die Krise der Staatlichkeit. Die abstrakte Allgemeinheit des Staates zeigt sich nicht nur außerstande, die Erwartungen zu erfüllen, die in den 60er und 70er Jahren in ihre ökonomische Steuerungskompetenz gesetzt wurden; mit der Ausdünnung der wertproduktiven gesellschaftlichen Arbeitssubstanz brechen überdies ihre eigenen monetären Grundlagen weg, und die Politik, der vermeintliche Souverän, erweist sich als das, was sie logisch immer schon gewesen ist: nämlich als ein abgeleitetes Moment im wertgesellschaftlichen Zusammenhang. Allein exzessive staatliche Verschuldung kann einstweilen den Offenbarungseid hinausschieben, und die Handlungsfähigkeit eines jeden Staates ist mittlerweile längst nur mehr ein anderer Ausdruck für die Kreditmarge, die ihm die Anleger auf den transnationalen Finanzmärkten einzuräumen bereit sind.
Ihre erstes Opfer mußte diese Entwicklung, von der die Politik-Illusion blamiert wird, im Reformismus finden. Der Lebensraum der schon seit Lassalles Zeiten mit dem Etatisierungsprozeß in katholischer Ehe verbundenen Sozialdemokraten und verwandter Spezies schwindet heute noch schneller dahin als der tropische Regenwald. Im Zeitalter von Simulation und Notstandsverwaltung bleibt von der reformistischen Perspektive nichts übrig. Die politische Klaviatur, auf der die staatstragenden Kräfte heute spielen können, hat nur mehr drei Tasten: die marktwirtschaftsideologisch getarnte Kapitulation vor dem jeder politischen Steuerung enthobenen gesellschaftlichen Basisprozeß, die Teilnahme an der transnationalen Fiktionalisierung der Wertgesellschaft via Verschuldung und Geldschöpfung, und bloßes Polit-Showbusineß. Die ehemaligen Träger der Reform-Option können da nur im Geschäft bleiben, wenn sie Rollen übernehmen, die ihnen nicht gerade auf den Leib geschrieben wurden.
In einem bedauernswerten Zustand befindet sich aber nicht nur das alte Reformlager, das den bestehenden Staat für emanzipative Zwecke zu instrumentalisieren suchte. Noch schlechter ergeht es den revolutionären Linken, deren Träume immer um die Erringung der Staatsmacht und die Errichtung von Gegenstaatlichkeit gekreist waren. Sie sind nicht nur damit konfrontiert, daß die realsozialistischen Entwicklungsregimes, an deren Vorbild sie sich nolens volens seit jeher orientiert hatten, ihren Geist noch vor der westlichen Konkurrenz aushauchen mußten; dem linken Politikradikalismus kommt weit schlimmer noch mit der Misere der etatistischen Macht und ihrem Zerfall der archimedische Punkt abhanden, der im Zentrum seiner Emanzipationskonzepte stand. Wenn die allgegenwärtig gewordene staatliche Gewalt ihre Handlungsfähigkeit einbüßt, zu erodieren beginnt und (egal unter welchem politischen Vorzeichen) einfach kein neuer, wirkungsvoller Staat mehr zu machen ist, dann wird die Eroberung der Staatsgewalt und die Etablierung einer neuen (sozialistischen) staatlichen Allgemeinheit zu einer vollkommen anachronistischen Idee.
Mit dem Kollaps der Modernisierung wird eine politisch verstandene Emanzipation in ihrer reformistischen wie in ihrer revolutionären Variante unmöglich. Befreiung impliziert heute vielmehr notwendigerweise eine Befreiung von der Politik. Unter diesen Bedingungen gewinnt die vergessene Differenz von sozialer und politischer Revolution neuerlich an Bedeutung. Diese Rückbesinnung auf das antistaatliche Moment in der Marxschen Theorie geht allerdings mit einer grundlegenden Veränderung einher. Während Marx vor allem das Problem aufwarf, daß eine »proletarische« Umwälzung nicht beim Akt der Machtergreifung stehenbleiben dürfe, sondern über das bloß Politische hinausgehen müsse, sind wir Nachgeborenen hundertfünfzig Jahre später damit konfrontiert, daß sich eine emanzipative Perspektive überhaupt nur noch im Bruch mit der politischen Form formulieren läßt. Angesichts der Paralyse politischer Regulation muß sich eine Aufhebungsbewegung von Beginn an als eine genuin poststaatliche und antipolitische Bewegung konstituieren, oder sie wird niemals zustande kommen. Ihr Inhalt kann von vornherein in nichts anderem als in unmittelbarer gesellschaftlicher Selbstorganisation bestehen, in dem Versuch also, sukzessive die alltägliche Reproduktion von den versagenden gesellschaftlichen Vermittlungsmedien Staat und Markt zu entkoppeln.
So allgemein formuliert, weckt die Grundorientierung einer wertkritischen Aufhebungstheorie bei vielen falsche Assoziationen. So mancher kann darin nur eine Neuauflage abgelebter Alternativkonzepte der 80er Jahre erkennen. Gerade von denjenigen, die sich schon seit längerer Zeit mit der Krisis-Position beschäftigen, rümpfen denn auch nicht wenige darüber die Nase, daß die Krisis-Gruppe, nachdem sie ihre theoretische Tätigkeit mit einer harschen Antikritik der rückwärtsgewandten Produktivkraftkritik begonnen hatte und ein Jahrzehnt lang ambitionierte Krisenanalyse betrieb, nun »positiv« zu werden versucht und dabei die Gesellschaft vermeintlich ausgerechnet mit jenen Konzepten beglücken will, die sie einst eifrig lächerlich zu machen bemüht war.
Diese Einschätzung geht am realen Problem allerdings vollkommen vorbei. Es ist zwar nachvollziehbar, daß die Apologeten der kapitalistischen Produktionsweise die Ware und die Herrschaft der staatlichen abstrakten Allgemeinheit als einzig denkbare Formen komplexer Vergesellschaftung unterstellen und von daher in die Idee einer Entkoppelung des Lebens von Geld und Staat die Wendung zu Entgesellschaftungs-Phantasien hineinlesen müssen, wie sie in der grün-alternativen Bewegung der 80er Jahre mitschwangen. Für jeden, der die wertkritische Krisenanalyse wirklich ernst nimmt, sollte aber eigentlich auf der Hand liegen, daß die Ausrichtung auf gesellschaftliche Selbstorganisation im Krisenzeitalter die genau entgegengesetzte Bedeutung hat. Die Idee der Selbstorganisation zielt nicht auf die Absenkung des Vergesellschaftungs-Niveaus, sie steht vielmehr im Gegenteil gerade für die Verteidigung des erreichten Levels gegen die mit dem Kollaps von Staat und Markt überhand nehmenden anomischen Tendenzen. In einer historischen Situation, in der Staat und Markt nicht mehr in der Lage sind, eine hochvergesellschaftete Reproduktion für alle sicherzustellen und in der die Welt in ständig wachsende abgekoppelte Elendsregionen und wenige High-tech-Wohlstandsinseln zerfällt, können die Menschen sich entweder dem Strudel barbarischer Entgesellschaftung überlassen, oder sie müssen dazu übergehen, ihre Gesellschaftlichkeit ohne diese versagenden Medien unmittelbar herzustellen; und das heißt eben gesellschaftliche Selbstorganisation.
3. Die Dialektik von Immanenz und Transzendenz in der Absturzphase der Warengesellschaft
Die Absage an Staat und Markt läßt sich nur dann als Ideologie der Entgesellschaftung lesen, wenn man sie puristisch als unmittelbare Handlungsanweisung interpretiert. Würden die bescheidenen Ansätze gesellschaftlicher Selbstorganisation, die in der gegenwärtigen Situation möglich sind, von einem anti-monetären und anti-etatistischen chiliastischen Wahn erfaßt, über Nacht jeglichem Kontakt zu Markt und Staat zu entsagen, so wäre das in der Tat gleichbedeutend mit einem Ausstieg ins soziale Nirwana. In den Ländern der Weltmarktperipherie könnte eine solche Sekte vielleicht noch als ein Segment verschärfter Armut vor sich hinvegetieren; in Westeuropa bliebe ihr von vornherein nur der Sonnentempler-Weg in den Kollektivsuizid.
Die Abgrenzung gegenüber Markt und Staat, wie sie die Wertkritik propagiert, zielt aber natürlich in gar keiner Weise auf irgendeine aberwitzige Ad-hoc-Strategie einer Emigration aus der Gesellschaft. Das anti-monetäre und anti-etatistische Verdikt ist auf einer ganz anderen, grundsätzlicheren Ebene angesiedelt. Die radikale Kritik von Markt und Staat bezieht sich auf die historische Perspektive, die sich uns heute bietet. Sie richtet sich gegen die Illusion, daß es noch einmal eine kapitalistische Blüte geben könnte, und insistiert auf die Notwendigkeit, das gesellschaftliche Leben und Überleben sukzessive von den versagenden Medien des Werts zu entkoppeln. Es geht also darum, parallel zum unvermeidlichen säkularen Crashkurs der Megamaschine alternative Zusammenhänge der Vergesellschaftung zu schaffen und den Aufbau und die Vernetzung selbstorganisierter Sektoren einzuleiten.
Ein solches »historisches Projekt« schließt aber notwendigerweise für eine längere Übergangsphase das Neben- und Ineinander von Selbstorganisation, staatlicher Restregulation und marktförmigen Segmenten ein. Wenn etatistische Regulation und Geldvermittlung zusehends ihre soziale Integrationskraft einbüßen, dann heißt das noch lange nicht, daß sie sich schlagartig in nichts auflösen würden. Auch in ihrem Niedergang bleiben sie bis auf weiteres mitbestimmend für den gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozeß und bilden die Umwelt, in der sich die keimende Selbstorganisation bewegen und zu sich selber finden muß. So wenig Sinn es für eine neue Emanzipationsbewegung macht, nach altem Muster die Staatsmacht erobern zu wollen, um sich dann als alternative abstrakte Allgemeinheit zu etablieren, ebensowenig kann sie die staatliche Gewalt und das, was von ihrer Redistributions-Potenz noch eine ganze Weile bleiben wird, einfach ignorieren. In ihrer Durchsetzungsbewegung wird die aufkommende postmonetäre und postpolitische Strömung zu Deals und Kompromissen mit der staatlichen Notstandsverwaltung kommen müssen, um einen Zugriff auf die vergesellschafteten produktiven und reproduktiven Potenzen zu erlangen, und zwei letztlich unvereinbare Vergesellschaftungsmodi werden in dieser Transformationsperiode die buntesten Amalgamierungen eingehen.
Die Krise der Politik kann so gesehen nicht einfach zu deren ersatzlosem Verschwinden führen. Der alte politische Kampf findet im Streit um die vorhandenen stofflichen Ressourcen der Gesellschaft und ihre Nutzbarmachung in gewisser Weise seine Fortsetzung. Im neuen Bezugsfeld bleibt ein quasi-strategischer Umgang mit der abstrakten Allgemeinheit und den Marktelementen notwendig. Er erübrigt sich erst dann, wenn die postmonetäre Strömung in der Lage ist, alle Segmente des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses in eigene Regie zu übernehmen und sich zu einer vernetzten postmonetären Gesellschaft fortzuentwickeln.
Dieser Hinweis kann vielleicht klarer machen, wie absurd der Verdacht ist, das wertkritische Verdikt gegen Staat und Markt liefe auf die Propagierung einer ärmlichen agrarischen Naturalwirtschaft hinaus. Dafür wird freilich die Aussage, daß eine emanzipative Strömung mit Marktmechanismen und staatlicher Regulation selbstverständlich kalkulieren und umgehen muß, solange zentrale Bereiche der gesellschaftlichen Reproduktion sich dem unmittelbaren Zugriff der assoziierten Selbstorganisation entziehen, bei anderen Krisis-Kritikern im umgekehrten Sinne die Alarmglocken läuten lassen. Die alt-linksradikalen Gegner der Wertkritik, vor allem jedoch wohlmeinende Befürworter, die sich mit einer vermeintlich »plötzlichen Wendung« hin zum Versuch einer gesellschaftlichen Vermittlung nicht anfreunden wollen, erklären derartige Überlegungen eilfertig als Affinität zu reformistischen Konzepten. Sie erinnern daran, wie oft schon in der Geschichte hochfliegende revolutionäre Ansätze schließlich in armseligen Reformismus mündeten, verweisen auf die enorme Integrationskraft, die das herrschende Systems bislang immer bewiesen hat, und mokieren sich darüber, wie die Wertkritiker bei ihrem albernen Versuch, praktisch zu werden, angeblich all diese historischen Erfahrungen vergessen und ihren radikal gesellschaftskritischen Anspruch fahren lassen.
Die historische Diagnose, die wir selber anhand des Schicksals der alten Arbeiterbewegung stellten, wird ironischerweise zum Argument gegen die Aufhebungsperspektive gewendet, wie sie jetzt ins Auge gefaßt werden muß. In den letzten beiden Jahrhunderten, so echoen unsere eigenen Worte uns entgegen, drohte allen revolutionären, gegen die bürgerliche Ordnung gerichteten Bewegungen unweigerlich die Vereinnahmung, sobald sie sich auf Vermittlungen und Kompromisse einließen. Eine fatale Dialektik von Revolution und Reform sorgte dafür, daß jede unzureichende und zu kurz greifende Kritik an der bürgerlichen Vergesellschaftung in den Sog von deren Durchsetzungslogik geriet und als Moment der Installation von allgemeiner Warenproduktion und moderner Staatlichkeit wirksam wurde. Dieser Integration konnten sich selbst jene Bewegungen auf Dauer nicht entziehen, die ihrem eigenen Selbstverständnis nach immer energisch auf Distanz zur bestehenden Ordnung und ihren Instrumentarien bedacht waren. Noch viel schneller und bruchloser aber wurden natürlich solche Strömungen vereinnahmt, die keine solch puristische Haltung kultivierten. Diejenigen, die glaubten, sie könnten sich unbekümmert der Werkzeuge des Systems(4) bedienen, gehörten damit selber schon zum System. Wie können wir da auf die aberwitzige Idee kommen, daß die neue emanzipative Bewegung, von der wir träumen, nicht schon im Keim derselben fatalen Logik erliegen wird? Wie können wir davon ausgehen, daß innerhalb des herrschenden Verblendungszusammenhangs sich überhaupt Spielräume für eine Aufhebungsbewegung ergeben werden?
So stimmig dieser Gedankengang zunächst anmuten mag, ihm liegt ein Kurzschluß zugrunde. Wer angesichts dieser »Lehre aus der Geschichte« sich in Skepsis übt, wenn die hehre Wertkritik sich angeblich dem Bewegungsimpuls in die Arme werfen will, der vergißt eins mit in Rechnung zu stellen. Die bemerkenswerte Absorptionsfähigkeit, die von der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Geschichte bewiesen wurde, ist keine metaphysische Eigenschaft des Kapitalismus schlechthin; sie hat vielmehr ihren bestimmbaren historischen Hintergrund. Die Bindekraft beruhte auf einer ganz spezifischen historischen Konstellation. Sie wurde wirksam, solange die Entfaltung der Warengesellschaft mit immer neuen Schüben der Vergesellschaftung zusammenfiel, über die vermittelt selbst noch die Anliegen der Kritiker – jeweils warenförmig zurechtgebogen – Eingang in den Funktionsmechanismus der sich erweiternden Megamaschine fanden. Der revolutionäre Impuls der alten Arbeiterbewegung mußte gerade deshalb schließlich verrauchen, weil entgegen dem ursprünglichen Anschein die sich auf ihrer eigenen Grundlage fortwälzende Warengesellschaft auch dem Arbeiter seinen Platz bot und ihn in den wachsenden Kosmos freier und gleicher Warenbesitzer einbezog.
Wenn wir unsere eigenen krisentheoretischen Überlegungen ernst nehmen, dann springt ins Auge, wie wenig derartige Mechanismen heute noch einmal in gleicher Weise greifen können. Keiner der grundlegenden Konflikte, die heute in dieser Gesellschaft aufbrechen, läßt sich letztlich innerhalb der Systemlogik befrieden.(5) Damit stehen aber auch zunächst einmal sehr beschränkte Ansätze gesellschaftlicher Selbstorganisation in einem gegenüber dem klassischen Muster von Opposition gründlich veränderten Kontext. Die Krise des Staates impliziert auch die Dauerkrise des Reformismus. Während für die Arbeiterbewegung das revolutionäre Bekenntnis eine Jugendflause war, kann heute der Wille und das Bedürfnis nach der konsequenten Umwälzung der arbeitsgesellschaftlichen Grundlagen gerade aus der Enttäuschung über die paralysierte reformistische Option heraus als Ergebnis eines Reifeprozesses entstehen. Eine solche Entwicklung kann sich natürlich nicht ohne Irrungen und Wirrungen und Bewegungskonjunkturen vollziehen. Eine radikale Gesellschaftskritik, die sich auf so etwas nicht einlassen will, um sich stattdessen in Purismus zu üben, verdammt sich selber zur Sterilität und Unwirksamkeit. Nachfolgende Bewegungswellen brauchen das abschreckende Beispiel ihrer Vorgänger. Ihnen muß auch platt empirisch vor Augen stehen, wie aussichtslos der Versuch ist, die Ziele, die sie sich gesetzt haben, mit den Mitteln von Politik und Markt zu erreichen, bevor eine Kritik dieses Instrumentariums Platz greifen kann. Enttäuschung ist in diesem Zusammenhang auch Ent-Täuschung und damit Voraussetzung für eine radikale, vor der Aufhebung der Warengesellschaft nicht mehr zurückschreckende postpolitische Praxis.
Wer dagegen die Erfahrungen aus der Aufstiegs-Epoche der Warengesellschaft extrapoliert und in die Zukunft projiziert, verfehlt nicht nur die Probleme, vor denen Ansätze einer Aufhebungsbewegung stehen werden, sondern auch die Möglichkeiten,(6) die sich ihr auftun. Die Hauptgefahr für eine emanzipative Strömung ist nicht in der möglichen Vereinnahmung zu suchen, die größte Bedrohung liegt vielmehr darin, daß sie im Kampf mit den ebenfalls durch den Krisenprozeß freigesetzten anomischen Tendenzen unterliegen kann.
4. Wertkritik und gesellschaftliche Konfliktformulierung
Diese Überlegungen haben vielleicht den Zusammenhang etwas klarer gemacht, in dem die mehrfach schon bemühte mysteriöse Formel von der »Postpolitik« steht. Dennoch bleiben die Antworten provisorisch und unbefriedigend. Sie lassen schon deshalb vieles offen, weil sie quasi geschichtspilosophisch aus einer virtuellen Vogelflugperspektive die Grundstrukturen einer ganzen Ära schematisch zu verdichten versuchen. Wenn sich historische Umbrüche im Überflug auch auf diese Weise beschreiben und antizipieren lassen, so löst sich das Ganze realiter aber doch in eine unübersehbare Vielzahl von Einzelereignissen und möglichen kleinen Schritten auf, und nur im Nahkampf wird die Sache tatsächlich entschieden.(7)
Das Problem der Vermittlung von radikaler Gesellschaftskritik und realem historischen Prozeß ist zwar gestellt, aber nicht gelöst. Von einer realen Aufhebungsperspektive kann nur dann die Rede sein, wenn der tatsächliche Krisenprozeß und die Konfrontationen, die er mit sich bringt, Anknüpfungspunkte liefern, an denen sich ein zunächst nur embryonal kritisches Bewußtsein schließlich bis zum Gedanken der praktischen Systemsprengung weiterentwickeln kann. Die Hoffnung, der Zerfall der warengesellschaftlichen Ordnung markiere möglicherweise mehr als den Eintritt in eine Epoche von Elend, Verzweiflung und sozialer Anomie, bleibt solange ungedeckt, wie sich nicht zeigen läßt, daß die »esoterische« Kritik der Warenform imstande ist, eine praktische konfliktformulierende und die Gesellschaft polarisierende Bedeutung zu gewinnen.
Soll die Überwindung der Arbeits- und Warengesellschaft je gelingen, so kann sie sich nicht als die »Verwirklichung« irgendeines gut ausgedachten utopischen Gegenmodells vollziehen; die andere Gesellschaft, die unmittelbar ohne die Dazwischenkunft von Staat und Geld ihren Reproduktionszusammenhang reguliert, muß aus den gesellschaftlichen Konflikten erwachsen, die das Ausbrennen der arbeitsgesellschaftlichen Logik induziert. Die Krise ist mehr als der bloß äußerliche Anlaß zum Modellwechsel. Eine postmonetäre Ordnung wird sich entweder in der unmittelbaren Bewältigung der Krisenfolgen etablieren, oder sie bleibt ein Hirngespinst. Es reicht nicht aus, wenn der Aufhebungsgedanke als das ganz Andere, in sich Stimmige unbeeinträchtigt über den Wirren der Niedergangsepoche schwebt; die Krisenwirklichkeit muß auch zum Aufhebungsgedanken drängen. Wenn dem aber so ist und wir tatsächlich bereits in die Zerfallsepoche der Warengesellschaft eingetreten sind, dann muß es auch schon heute möglich sein, zumindest exemplarisch anzugeben, wie sich aus wertkritischer Perspektive gesellschaftliche Konfliktfelder besetzen lassen.
4.1 Die äußere ökologische Schranke der Arbeitsgesellschaft: Von der Blamage des Ökoreformismus zur Systemkritik
Phänomenologisch betrachtet erscheint die Schranke, an der die Arbeits- und Verwertungsgesellschaft scheitert, als ein ganzes System von Schranken. Die Grenzen werden aber nicht alle gleichzeitig und mit einem Schlag in ihrer ganzen Schärfe sichtbar, sondern sie zeichnen sich sukzessive an der gesellschaftlichen Oberfläche ab und gewinnen erst allmählich ihre Konturen. Als erstes unüberwindliche Hindernis drang schon in der ausklingenden fordistischen Ära die der Verwertungsgesellschaft gesetzte ökologische Grenze ins allgemeine Bewußtsein. Allen polit-konjunkturellen Schwankungen zum Trotz hat sich die Zerstörung der natürlichen Ressourcen nicht nur zum Dauerbrenner entwickelt; sie hat sich in dieser Zeit auch zu einem allgegenwärtigen Problem ausdifferenziert und ist in den Alltag und die Alltagswahrnehmung eingesickert. An diesem Problem läßt sich exemplarisch zeigen, wie die Wirklichkeit immer mehr zur Aufhebungsfrage drängt.
Anfang der 70er Jahre, als der Club of Rome erstmals die »Grenzen des Wachstums« thematisierte, war mit dieser Prognose nicht viel mehr als die absehbare Verknappung nicht regenerierbarer Rohstoffe gemeint. Als in den 70er Jahren im Kampf gegen die »friedliche Nutzung der Kernenergie« erstmals so etwas wie eine »Umweltschutzbewegung« auf den Plan trat, konnte diese noch sehr gut als selbstbescheidene Ein-Punkt-Bewegung funktionieren. Während die Linksradikalen ihre altbackenen Volksfrontphantasien in die Wyhler Weinbauern projizierten, blieb der Bewegungshorizont sowohl hinsichtlich der Tragweite als auch der Verbreitung der vorgetragenen Kritik noch ziemlich beschränkt. Mittlerweile, nachdem das Waldsterben in Süd und Nord, diverse Lebensmittelskandale, Chemieunfälle, Tschernobyl, Sommersmog, der Aberwitz des Individualverkehrs wie der Abfallwirtschaft und vieles andere mehr als Medienereignisse und als tatsächliche Katastrophen und Kataströphchen über die Öffentlichkeit hereingebrochen sind, ist das Massenbewußtsein so weit, wie vor einem Vierteljahrhundert nur die fortgeschrittensten Geister waren.
Die Durchschnittsmenschen sind sich heute im Prinzip über die Unhaltbarkeit der gesamten herrschenden Lebensweise im klaren. Diese Einsicht wird sicherlich regelmäßig verdrängt, sie läßt sich aber nicht mehr auslöschen und bleibt untergründig allgegenwärtig. Wenn von den (Un)verantwortlichen immer noch so getan wird, als ließe sich die ökologische Frage durch bloß technische Maßnahmen wie Katalysatoren(8), Filtertechnologie usw. und ein wenig staatliche Regulation (Energiesteuer) lösen, dann handelt es sich bei diesem Glauben längst um so etwas wie eine sekundäre, fast schon willentlich zu nennende Naivität. Das Wahlvolk und die Experten reden sich nur deshalb ein, die vorgeschlagenen Ersatzhandlungen ernst zu nehmen, weil sie es nicht ertragen, offen tatenlos die eigene Selbstvernichtung zu betreiben und hinzunehmen.
Die ökologische Schranke, die einmal eine allgemeine Drohung am Zukunftshorizont war, konkretisiert sich zu einer Vielzahl meß- und spürbarer Fakten. Diese Entwicklung zieht aber unweigerlich eine Themenverschiebung bei der Diskussion der ökologischen Problematik nach sich. Während einst die Risikopotentiale der Großindustrie zum Auslöser grüngestrickter Kritik wurden, hat sich längst der Normalbetrieb der Megamaschine als das Hauptproblem in den Vordergrund geschoben. Mit dieser Schwerpunktveränderung drängt die Umweltfrage aber klarer zu einer umfassenden Gesellschaftskritik.
Als der Kampf für den Schutz der natürlichen Ressourcen zum ersten Mal so etwas wie eine Bewegung hervortrieb, richtete sich diese gegen eine eng umschriebene staatlich gesponserte Industrie, nämlich die Atomwirtschaft. Sie stellte die Existenzberechtigung eines besonderen Wirtschaftszweiges in Frage, aber keineswegs die herrschende Produktionsweise als solche, und sie attackierte schon gar nicht die Alltagsexistenz der Bewegten als Warensubjekte. Ein Land, das auf Kernenergie verzichtet, muß sich weder aus der Weltarbeitsgesellschaft verabschieden, noch hat es deswegen irgendwelche Standortnachteile zu befürchten.(9) Zwar wurde die Kritik am Atomprogramm sehr schnell mit weiterreichenden alternativen Vorstellungen besetzt und für einige Jahre zum zentralen politischen Betätigungsfeld der sich herausbildenden industrieskeptischen Szene; diese Aufladung lag jedoch keineswegs in der Sache selber und war denn auch nicht verallgemeinerbar.
Wenn nun statt der Atomindustrie aber so etwas wie der Autoverkehr als das Hauptumweltverbrechen in den Blick gerät, und wenn sich angesichts des drohenden Verkehrsinfarkts die Frage erhebt, ob auf dem Altar des Autos weitere natürliche und monetäre Ressourcen zu opfern sind, oder ob es vielleicht doch besser wäre, das goldene Kalb notzuschlachten, dann ergibt sich eine andere Lage. Wer sich gegen die verheerenden Folgen der Automobilmachung der Gesellschaft ernsthaft wendet und zum Kampf gegen die automobile Zerstörung aufruft, der vergeht sich unweigerlich, ob er nun will oder nicht, gleich an den Grundfesten der Warengesellschaft. Die heilige Kuh des vom Verbrennungsmotor abhängigen Individualverkehrs gehört zu den allgemeinen Voraussetzungen der entwickelten Arbeitsgesellschaft, und ein Anschlag auf dieses tragende Moment zöge einen ganzen Rattenschwanz von weitreichenden Folgekonflikten nach sich. Bei der Automobilproduktion handelt es sich nämlich nicht allein um die Schlüsselindustrie des Fordismus und damit um einen unverzichtbaren Bestandteil des arbeitsgesellschaftlichen Fundaments(10); die Figur des Autofahrers verkörpert gleichzeitig das freie und gleiche Warensubjekt in Reinkultur.(11) Die Autofahrerei ist nicht allein die einer durchmonadisierten Gesellschaft am meisten entsprechende Transportweise, sie gehört zur psychostrukturellen Reproduktion des Warensubjekts. Wer das Auto kritisiert, kritisiert den herrschenden Sozialcharakter. Die Frage nach dem Sinn des Autos impliziert darüber hinaus eine Kritik am allgemeinen Mobilitätsbedürfnis. Dieses verweist jedoch wiederum auf die herrschende Zersiedelungsweise(12), wie sie die der Warengesellschaft inhärente funktionale Trennung der Sonderbereiche »Freizeit«, »Arbeit« und »Wohnen« diktiert.
Die Kritik am Auto hat weitreichende Implikationen. Sie sind nicht mühsam »theoretisch« zu dechiffrieren, sondern sie sind naheliegend und schwingen sofort mit, sobald das Problem Individualverkehr thematisiert wird. Gerade die bemerkenswerte Reichweite ist es wohl, die es paradoxerweise bisher verhindert hat, daß das weitverbreitete autokritische Bewußtsein sich zu so etwas wie einer Bewegung verdichtet. Wenn der GAU von Tschernobyl in der Bundesrepublik noch einmal das Muster der verblichenen »neuen sozialen Bewegungen« reaktiviert hat, der Sommersmog von 1994 aber nicht zum Anlaß einer vergleichbaren »Betroffenheitskampagne« wurde, dann lag das mitnichten daran, daß kein hinlängliches Problembewußtsein bestünde. Es ist durchaus kein Geheimnis, wie absurd es ist, in der Hitzewelle kleine Kinder, Atemwegskranke, Alte und demnächst auch den Rest der Bevölkerung sicherheitshalber in geschlossenen Räumen zu halten, weil in der unumbauten Welt der Autoverkehr Vorrang hat. Was da bremst und lähmt, ist wohl mehr das allgegenwärtige Dogmengestrüpp von Freiheit, Gleichheit, Arbeitsplatz und Individualitätskult, an das man sich nicht so recht heranwagt, und die panische Angst vor dem Denken des Undenkbaren. An das Eingemachte dieser Vergesellschaftungsform traut man sich nicht heran.
Diese Konstellation bestimmt nicht nur den Umgang mit dem speziellen Problem des Individualverkehrs, sie kennzeichnet den Zustand der Ökologiebewegung insgesamt. Gerade heute, wo die Arbeitslosenstatistiker allmonatlich neue Rekordzahlen vermelden und die ökonomische Krise allmählich auch im bislang privilegierten Westdeutschland handgreiflich wird, scheint die ökologische Frage out zu sein. Das liegt aber weder daran, daß die diversen Umweltprobleme einer Lösung näher gekommen wären, noch daran, daß sie nicht mehr wahrgenommen würden. Ökologie erscheint vielmehr einzig und allein deshalb als »Luxus«, weil die politische Klasse (von den thematisch an den Rand gedrängten Grünen einmal abgesehen) genau weiß, wie wenig sich ökologische Rücksichtnahmen mit dem verzweifelten Krisen-Credo »Arbeit, Arbeit, Arbeit« vereinbaren lassen. Der auf die Warenlogik geeichte Alltagsverstand wiederum macht diese Leugnung nur mit, weil er ein sicheres Gespür dafür hat, wie recht seine parlamentarischen Vertreter mit dieser Haltung haben. Gerade auf brüchig werdendem Boden, wenn das ganze Gebäude der Wertvergesellschaftung sich zu neigen beginnt, stützen sich die Säulen des Formzwangs gegenseitig ab. Diese Selbst-Stabilisierung des Status-quo-Bewußtseins bleibt indes prekär und ist nicht dauerhaft. Der vermeintliche »ökologische Luxus« wird sich ein ums andere Mal als überlebenswichtig erweisen; und damit eröffnen sich einem Denken, das die Orwellsche Verkehrung der Begriffe des Notwendigen und des Luxuriösen inkriminiert, durchaus Spielräume. Ökologisches Denken steht heute am Scheideweg: Es kann nur noch entweder vor dem in der Krise klarer denn je hervortretenden Formzwang des warenproduzierenden Systems kapitulieren, oder es lernt, darauf zu insistieren, daß nicht der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ein überflüssiger Luxus ist, den sich die Gesellschaft nicht leisten kann, sondern umgekehrt die Zurichtung aller natürlichen und menschlichen Ressourcen auf die Erfordernisse der stockenden Verwertungsmaschinerie. Bleibt es seinem Anliegen treu, so treibt das ökologische Bewußtsein aus seiner eigenen Logik heraus in eine ähnliche Richtung wie der wertkritische Ansatz; und damit wird so etwas wie eine Vermittlung zwischen beiden Polen möglich.
Eine solche Umorientierung hätte auch praktische Implikationen. Selbst partikulare Bewegungen kommen nur zustande, wo sie auf ein entsprechendes gesellschaftliches Klima treffen und im allgemein-öffentlichen wie im engeren theoretischen Diskurs Bezugspunkte vorfinden. Solange auf dieser Ebene der Öffentlichkeit die warengesellschaftliche Zurichtung als selbstverständliche Voraussetzung immer schon unterstellt wird und niemand an dieser Hegemonie kratzt, solange werden auch ökologische Bewegungsansätze mangels Alternative ihre eigene Zielsetzung in das formadäquate Phantasma eines Ökokapitalismus kleiden. Damit blockieren sie aber von vornherein ihre eigene Handlungsfähigkeit, und der kritische Impuls kann sich nur mehr in periodischen Placebo-Kampagnen entladen. In den Billigprotesten gegen die französischen Atombombenversuche und die Ölplattformversenkungen der Shell AG trat dieser Mechanismus recht plastisch hervor. Diese Kampagnen dokumentieren, wie weit die ökologische Bewegung hinter ihr schon erreichtes Reflexionsniveau zurückfallen kann.
Das ist aber kein Grund zur Resignation. Die Massenwirksamkeit und Heftigkeit dieser Null-Kampagnen verweist nämlich gleichzeitig auf ein tiefes Unbehagen, das sich innerhalb der herrschenden Ideologie und Lebenspraxis nur nicht formulieren läßt. Durch die Verbindung von radikaler Gesellschaftskritik und ökologischem Denken könnte jedoch eine Position entstehen, die eine Katalysatorfunktion bei der Überwindung dieser Blockade übernimmt. Die ökologisch vermittelte Aufkündigung des warengesellschaftlichen Konsens würde beim breiteren Publikum nicht bloß Angst und Schrecken verbreiten und massive Abwehrreaktionen hervorrufen, sondern der Verzicht auf den Kotau vor den Ikonen von Warensubjektivität und Arbeit hätte zugleich etwas Befreiendes(13) und würde den partikularen Bewegungen erst die Luft zum Atmen verschaffen.
4.2 Die immanente Schranke der Warenökonomie: Der Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus
Weil sie als erste und damit als Einzelproblem sichtbar wurde, ist die ökologische Seite der absoluten Systemschranke empirisch besonders gut untersucht. Das erleichtert immens die Aufgabe, vor der ein wertkritisch unterfüttertes ökologisches Bewußtsein steht. Es müßte weder die vom Formzwang geheckten stofflichen Probleme erst entdecken noch sich alternative technologische Lösungsmöglichkeiten aus den Fingern saugen. Dieses Wissen ist längst vorhanden. Unter dem Stichwort der Abfallwirtschaft etwa kann man sogar in einem vom streng katholischen Herderverlag herausgegebenen »Lexikon der Wirtschaftsethik« lesen: »Bisherige Abfallvermeidungs- und Abfallverwertungstechniken haben lediglich pseudoreligiösen Symbolcharakter«, »statt einer abfallorientierten Gesellschaft, die letztlich nur noch für Abfälle arbeitet und dabei durch immer aufwendigere Technologie Wirtschafts-wachstum erzielt, wäre eine produktorientierte Wirtschaft wesentlich sinnvoller und würde der ethischen Verpflichtung eher gerecht.« Ökokapitalistische Konzepte sind grundsätzlich nicht in der Lage, solche durchaus weitverbreiteten Einsichten zu integrieren. Ein wertkritisch unterfüttertes ökologisches Denken, das es nicht nötig hat, auf den Modus der einzelkapitalistischen Verwertung Rücksicht zu nehmen, kann dagegen an diesen Bewußtseinsstand unmittelbar anknüpfen.
Eine etwas andere Aufgabe stellt sich vom wertkritischen Standpunkt aus bei der Auseinandersetzung mit den ökonomischen und sozialen Folgen der arbeitsgesellschaftlichen Misere. Die Wertkritik stößt zwar auch hier nicht auf ein vollkommen brachliegendes Terrain vor, dieses Feld wurde aber keineswegs derart intensiv beackert wie die ökologische Problematik. Der Wertkritik fällt auf diesem Gebiet daher nicht nur zusätzlich die Krisenanalyse zu; sie muß sich auch darauf einstellen, daß Vorstellungen, wie denn die »Krise der Arbeit« praktisch zu bewältigen wäre, sich erst mit der Krisenperspektive selber (also schon im weiteren Vermittlungszusammenhang mit der wertkritischen Position) abzeichnen können. Die Wertkritik, so hat es den Anschein, spielt in dieser Hinsicht – wie vermittelt auch immer – wohl von vornherein eine gewisse Rolle im oppositionellen Formierungsprozeß. Um dies zu verstehen, muß zunächst einmal die historische Ausgangslage geklärt werden.
4.2.1 Die ältere Diskussion zur Krise der Arbeitsgesellschaft
Das Schlagwort von der »Krise der Arbeitsgesellschaft« ist keine Erfindung der fundamentalen Wertkritik. Als stehende Wendung taucht es seit eineinhalb Jahrzehnten im sozialwissenschaftlichen Diskurs periodisch auf. Insbesondere zu Beginn der 80er Jahre war der Terminus in aller Munde, und mittlerweile ist das Thema angesichts einer weiterhin zyklusübergreifend steigenden Sockelarbeitslosigkeit abermals feuilletonreif geworden. Die bisherige Diskussion um das »Ende der Arbeitsgesellschaft« zeichnet allerdings ein entscheidendes Manko aus: Die »Krise der Arbeit« wurde nicht als eine endogene Krise des Verwertungsprozesses und seiner Grundlagen gefaßt, sondern als ein Phänomen, das die Funktionsfähigkeit der gesellschaftlichen Megamaschine nicht weiter affiziert. Die Autoren, die in diesem Zusammenhang Position bezogen haben, waren sich in keiner Weise darüber im klaren, daß die »Krise der Arbeitsgesellschaft« ernstgenommen nicht weniger als den sukzessiven Zusammenbruch des warengesellschaftlichen Fundaments und der über Lohnarbeit und Geld vermittelten Reproduktion in ihrer Gesamtheit bedeutet. Sie imaginierten sich stattdessen ein neues Gesellschaftsmodell, in dem die propagierte »Sekundär-Ökonomie« (Ludwig Bress) das »Techno-System« (Joseph Huber) ergänzen soll und sahen »in einer gesunden Balance zwischen … nicht-monetarisierter und monetarisierter Wirtschaft« »die Bedingung einer ausgewogenen Entwicklung«.(14)
So oft auch die Krise der Arbeitsgesellschaft thematisiert wurde, es war für alle an dieser Debatte Beteiligten eine ausgemachte Sache, daß das schrumpfende arbeitsgesellschaftliche Kernsegment auch künftig munter weiter funktionieren und dabei genügend monetäre Ressourcen liefern würde, um allerlei postarbeitsgesellschaftliche Bereiche finanziell zu alimentieren. Peter Glotz brachte diese paradigmatische Annahme auf den Punkt, als er noch 1986 erklärte, »daß eine Gesellschaft der Zukunft aus den Produktivgewinnen allen Mitgliedern ein angemessenes Einkommen garantieren kann«.(15) André Gorz hatte dieselbe irreale Einschätzung schon einige Jahre früher zum besten gegeben und damit seine »Wege ins Paradies« begründet. In diesem Buch deklamierte er: »Das garantierte Einkommen kann … nicht mehr auf dem Wert der Arbeit gründen«(16) und klagte die Förderung eines zweiten postarbeitsgesellschaftlichen, aber vom Erwerbsarbeitssektor gesponserten Bereichs ein, denn »die heteronome Sphäre« – sprich der warengesellschaftlich organisierte Bereich – »gewährleistet die Produktion all dessen, was für das Leben der Individuen und für das Funktionieren der Gesellschaft notwendig ist«(17).
Theorieimmanent betrachtet, sticht hier ein Kurzschluß ins Auge, der nicht nur den zitierten Autoren, sondern allen im Rahmen der Diskussion um die »Krise der Arbeit« entwickelten Konzeptionen gemeinsam ist. Bei den dualwirtschaftlichen Überlegungen und artverwandten Ansätzen einer friedlichen Koexistenz von Erwerbsarbeitsbereich und »gebrauchswertorientierten Segmenten« wird der innere Zusammenhang von abstrakter Arbeit, Wert und monetärem Reichtum ausgeblendet oder aufgelöst. Die Vorgehensweisen der Eskamoteure variieren dabei, das Resultat ist aber immer das gleiche. André Gorz etwa trennt den Wert von seiner Erscheinungsform im Geld hermetisch ab. Er ist sich zwar immerhin darüber im klaren, daß die Zurückdrängung der Erwerbsarbeit ein Schrumpfen der gesellschaftlichen Wertmasse impliziert, verschwendet aber keinen Gedanken darauf, ob diese Entwicklung nicht auch auf die Ebene geldförmiger Vermittlung durchschlagen und dort wirksam werden müßte. Offenbar setzt er klammheimlich voraus, daß eine willkürliche Geldschöpfung die erlahmende Wertschöpfung substituieren kann und das Geldsystem auch dann funktionstüchtig bleibt, wenn sich die Wertsubstanz verflüchtigt.
Orio Giarini geht anders vor. Er stellt den nationalökonomischen Wertbegriff in Frage, weil dieser außerstande ist, einen nicht-monetarisierten Wohlstand zu erfassen und daher zu einem falschen Verständnis von Reichtum führt. Aus dieser Kritik leitet er die Forderung nach einer der Wirklichkeit adäquateren Umdefinition des Werts ab. Dieses Ansinnen beruht allerdings auf einem Quidproquo. Giarini behandelt die falsche gesellschaftliche Abstraktion des Werts als einen bloßen Denkfehler, den die Nationalökonomen der Wirklichkeit aufgeherrscht haben. Es handelt sich beim Wert aber um eine historische Realabstraktion, also um eine falsche Wirklichkeit, die der klassische nationalökonomische Wertbegriff auf seine Weise durchaus korrekt wiedergibt. Wenn dem aber so ist, und der bloß theoretische Wertbegriff nicht aus eigener Machtvollkommenheit den gesellschaftlichen Ausblendmechanismus konstitutiert, dann läßt sich allerdings durch eine bloße Revision der nationalökonomischen Sichtweise die tatsächliche Zwangsreduktion von gesellschaftlichem Reichtum auf den abstrakten Wert nicht wegdekretieren.
Der naive Versuch, dem Wert (und damit dem Geld) nachträglich die Berücksichtigung von solchen Gesichtspunkten zu implantieren, die dem überlieferten Wertbegriff fremd blieben, läuft ins Leere. Nicht der bisherige Wertbegriff ist das Problem, sondern die Existenz des Werts selber als eine die Gesellschaft prägende Realabstraktion. Es geht also um die Qualität des Werts als eine fetischistische Form des gesellschaftlichen Nexus, nicht um die illusionäre quantitative Berücksichtigung gutgemeinter Gesichtspunkte innerhalb dieser hartnäckig beibehaltenen Form des Nexus. Wer zu der in Form von Waren vorliegenden gesellschaftlichen Wertmasse andere, neu erfundene und nicht per se monetär ausdrückbare Formen von Wert hinzuaddieren möchte, verändert damit, wenn sich seine Sichtweise verallgemeinern könnte, vielleicht die volkswirtschaftliche Rechenweise, aber nicht die schnöde realabstrakte Wirklichkeit, an der sich eine äußerliche Veränderung der bloßen Rechenweise sehr schnell blamieren müßte. Der Wert läßt sich zwar durch die Umwälzung der gesellschaftlichen Praxis aufheben, es läuft aber auf eine contradictio in adjecto hinaus, ihn qua Dekret willkürlich neu definieren zu wollen. Solange er das gesellschaftliche Gefüge reguliert, bleibt jeder nicht auf die produktive Vernutzung abstrakter Arbeit reduzierbare Reichtum gesellschaftlich ungültig, unabhängig davon, ob die Menschen das als Skandal betrachten oder nicht.
Andere, meist nur am Rande an der dualwirtschaftlichen Debatte beteiligte Autoren machen es sich noch leichter als Gorz und Giarini. Peter Glotz, Karl-Heinz Roth und ein bunt zusammengesetzter Haufen ähnlicher Geistesgrößen fabulieren von der »gewaltigen Wertschöpfung in den Fabriken« und leiten daraus im Handumdrehen die Forderung nach einer »gerechten Verteilung« ab, die sich »vom unzureichenden Maßstab betrieblicher Arbeitslöhne«(18) ablösen müsse. Wie zahlreichen Befürwortern einer »Sozialdividende« und anderen Formen eines Grundeinkommens entgeht Glotz und Co. bei ihrer Argumentation ein kleiner, aber folgenreicher Unterschied. Sie verwechseln die enorme Steigerung der materiellen und immateriellen Güterproduktion mit der Ausdehnung der gesellschaftlichen Wertmasse. Sie setzten die Potenzen stofflicher Produktivität unbesehen mit der abstrakt-monetären Reichtumsbildung in eins.
Die als Antwort auf die »Krise der Arbeit« präsentierten Konzepte haben also eine gemeinsame Schwäche, nämlich die systematische Blindheit für den inneren Zusammenhang der heiligen Dreifaltigkeit von abstrakter Arbeit, Wert und Geld. Dieses Manko hat nicht nur theorieimmanent seine Bedeutung, es schlägt auch praktisch zu Buche und entwertet den ganzen Ansatz. Wenn nämlich der Arbeitsgesellschaft tatsächlich die (rentable) Arbeit ausgeht und die wertproduktive Basis der warenproduzierenden Gesellschaft wegbricht, dann betrifft diese Entwicklung nicht nur ein »herausgefallenes Drittel« der Bevölkerung, das so oder so alimentiert werden könnte. Dieser Prozeß mündet vielmehr in eine neuartige Form von Verwertungskrise, die das Wirtschaftsleben insgesamt erschüttert und sowohl das gewohnte gesellschaftliche Bezugssystem als auch die staatlich vermittelten Mechanismen der Redistribution zerstört.
Damit werden aber die dualwirtschaftlichen Konzepte nicht nur »unfinanzierbar«, um das Lieblingsargument der Konservativen zu benutzen, sie verlieren gleichzeitig ihren Bezugsrahmen. Solange sich stofflicher Reichtum in der Megamaschine nur dann gesellschaftlicher Gültigkeit erfreuen darf, wenn er als die Darstellungsform abstrakten Reichtums funktioniert (und das ist grundsätzlich der Fall, wenn das Geld den gesellschaftlichen Zusammenhang herstellt), solange muß auch eine Steigerung der Produktivkraft, die lebendige Arbeit auf breiter Fornt substituiert, zwangsläufig Massenverarmung nach sich ziehen. Daran kann auch kein dualwirtschaftliches Modell irgendetwas ändern. Das Geld taugt schlechterdings nicht als Medium bewußter postarbeitsgesellschaftlicher Regulation. Dieses gegenständlich gewordene Paradoxon eines ungesellschaftlichen gesellschaftlichen Reichtums läßt sich von seiner Grundlage, dem ebenso paradoxen ungesellschaftlich-gesellschaftlichen Naturbezug, d.h. der abstrakten Arbeit, nicht ablösen. Beide Momente können nur gemeinsam in die Bredouille geraten.
Die Debatte um die »Krise der Arbeit« zeigt sich diesen Implikationen gegenüber blind. Das ist allerdings weder kollektiver Kurzsichtigkeit geschuldet noch dem Zufall, sondern entspricht der historischen Situation, vor deren Hintergrund sich die Diskussion seit Anfang der 80er Jahre entwickelte. Als in den 70er Jahren die von der Massenmotorisierung, Elektronikindustrie usw. getragene Dynamik des Wirtschaftswunders auslief und das arbeitsgesellschaftliche Fundament im Gefolge des Ölpreisschocks erste Risse zeigte, wurde das »So tun als ob« zur Grundlage des »Weiter so«. In demselben Maße, wie die wertproduktive Basis einem fortschreitenden Ausdünnungsprozeß unterlag, erlebte bekanntlich die Spekulation ihre große Stunde. Kredit und großangelegter Schwindel ersetzten einstweilen die erlahmte realwirtschaftliche Dynamik und schufen damit eine neue unwirkliche Realität. Der Kasinokapitalismus drückte aber nicht nur dem Wirtschaftsleben seinen Stempel auf, er prägte auch den Zeitgeist und die Alltagskultur der Yuppie-Ära. Diese postkeynesianische Welterfahrung schwingt auch in der Debatte um die Krise der Arbeit mit.
Die Vorstellung von einer Gesellschaft, die sich zwar zumindest partiell von »der Arbeit« entkoppelt, dennoch aber unbekümmert mit monetären Beziehungen weiteroperiert, ist zwar strenggenommen schlicht absurd, einen kurzen historischen Moment lang schien dieses Phantasma aber tatsächlich Wirklichkeit zu werden. Diese verrückte Konstellation, die Trennung des warengesellschaftlichen Wohlstands von seiner arbeitsgesellschaftlichen »Substanz«, haben die Kritiker der Arbeitsgesellschaft zusammen mit dem gesellschaftlichen Mainstream einfach in die Zukunft verlängert. Auf diese Weise konnten sie sich aus der arbeitsgesellschaftlichen Ordnung hinausimaginieren, ohne sich auf eine Radikalkritik der Grundformen bürgerlichen Vergesellschaftung einlassen zu müssen.
Das stille Einverständnis mit dem in der Gesellschaft immer weiter verbreiteten simulativen Zeitgeist tat dem relativen Einfluß der Debatte um die »Krise der Arbeit« keinerlei Abbruch. Im Gegenteil, nur diese Kontamination kann erklären, warum eine derart beschränkte Art von »Kritik der Arbeit« im Übergang vom Spätkeynesianismus zur kasinokapitalistischen Ära überhaupt eine Zeitlang Konjunktur hatte und auf relativ breite Resonanz traf. Der zahnlosen und letztlich marktkonformen »Kritik der Arbeitsgesellschaft« und ihrer mit dem Problem der gesellschaftlichen Form völlig unvermittelten Skepsis gegenüber einer staatlichen Entmündigung der Menschen kam eine Mittlerfunktion zwischen den auslaufenden keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Konzepten und dem asozialen Simulationswohlstand der 80er und beginnenden 90er Jahre zu.
In der Wende-Ära konnten diese zu kurz greifenden Kritiker der Arbeitsgesellschaft also deshalb reüssieren, weil ihre Konzepte kompatibel mit der simulativen Fortschreibung der herrschenden Verkehrform waren. Sobald die spekulative Entkopplung des Warenreichtums von dessen arbeitsgesellschaftlicher »Substanz« aber an ihre Grenzen stößt und manifeste Kriseneinbrüche den Traum vom ewig weiterblühenden Kasinokapitalismus jäh unterbrechen, erweist sich die einstige Erfolgsbedingung als das entscheidende Hemmnis. Während der grundsätzliche Gedanke, die Reproduktion der Menschen unabhängig vom arbeitsgesellschaftlichen Bezugsrahmen sicherzustellen, mit dem Ende des neurasthenischen Booms erst seine volle Brisanz gewinnt, entpuppen sich die bisherigen postarbeitsgesellschaftlichen Konzepte gerade angesichts einer im Gefolge der »Krise der Arbeit« radikal veränderten gesellschaftlichen Umgebung als veritable Luftschlösser. Der praktische Knackpunkt ist dabei das leidige, aber immer drängender werdende Finanzierungsproblem. Die übriggebliebenen Dualwirtschaftler sind weder in der Lage, aufzuzeigen, wo denn die monetären Mittel für die Verwirklichung ihrer Pläne herkommen könnten, noch sind sie mutig genug, die sogenannte Finanzierbarkeitsfrage selber als eine von der arbeitsgesellschafltichen Logik gesetzte Binnenproblematik energisch durchzustreichen. In dem Augenblick, wo es darauf ankäme, gesellschaftliches Terrain zu erobern und eine Alternative zu den ausgeleierten neokeynesianischen und gescheiterten neokonservativen Programmen deutlich zu machen, stehen die inkonsequenten Kritiker der Arbeitsgesellschaft nackt da.
Vor wenigen Jahren konnte die grundsätzliche Differenz von stofflichem und abstraktem Reichtum, die von der Wertkritik in Anlehnung an die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zu ihrem Ausgangspunkt gemacht wurde, vielleicht noch als esoterische Spitzfindigkeit abgetan werden. Mit dem bösen Ende des Kasinokapitalismus wird aber praktisch-handgreiflich, welche Bedeutung diesem Unterschied zukommt. Wer heute noch von der Zwangsidentität von stofflichem und monetärem Reichtum ausgeht, der muß sich jetzt auch von den emanzipativen Flausen verabschieden, die der Debatte um die »Krise der Arbeit« ihr Gepräge gaben. Unter den Bedingungen einer manifesten Krise kann niemand mehr ernsthaft das Formdiktat monetärer Vermittlung blind akzeptieren und dennoch gleichzeitig die Unterordnung jeder Lebensäußerung unter die arbeitsgesellschaftliche Logik negieren. Aus dem Sowohl-Als-Auch wird ein klares und unerbittliches Entweder-Oder. Wird das Geld als das Nadelöhr anerkannt, durch das die gesellschaftliche Regulation nun einmal auf immer und ewig hindurchgehen müsse, dann verliert sich jede emanzipative Note und die damals diskutierten Konzepte tauchen künftig nur mehr im Kontext der anstehenden Notstandsverwaltung in einer neuen, alles andere als menschenfreundlichen Bedeutung wieder auf.
Diese neoliberale Besetzung zeichnet sich heute schon ab. Wenn mittlerweile die FDP eifrig darüber diskutiert, ob nicht ein dann natürlich unter dem Sozialhilfeniveau angesetztes »Bürgergeld« als Ersatz für eine Vielzahl diversifizierter Sozialleistungen herhalten könnte, dann ist das keine einmalige Verirrung, sondern zeigt, wohin die Reise geht. Welcher politischen Kraft auch immer die Aufgabe zufallen mag, die krisenbedingte Demontage des Wohlfahrtsstaates zu organisieren: Die Diskussion der 80er Jahre liefert den Exekutoren der Krise wertvolle Anregungen dafür, wie ein neuer, deutlich abgespeckter »schlanker« Sozialstaat aussehen könnte. Mit einer positiven Überwindung der Arbeitsgesellschaft hätten derartige Maßnahmen natürlich nichts gemein.
Die alte, dualwirtschaftlich inspirierte Kritik der Arbeitsgesellschaft muß sich also entscheiden. Entweder sie gerät nolens volens ins Fahrwasser solcher Tendenzen und die einmal kritisch gemeinten Ansätze werden letztendlich selber zum Moment der Fortschreibung des arbeitsgesellschaftlichen Diktats umgebogen, oder es gelingt, die Kritik der Arbeitsgesellschaft im Zusammenhang mit einer Kritik der Waren- und Geldform zu reformulieren und zu radikalisieren. In ihrer bisherigen inkonsequenten Version hat sie jedenfalls ausgedient, auch wenn Gorz und Konsorten einstweilen mangels anderer Konzepte wieder eine gewisse neuerliche Resonanz finden.
4.2.2 Von der esoterischen Kritik der Arbeit zur gesellschaftlichen Konfliktformulierung oder vom Bankrott der Arbeitsgesellschafts-Simulanten zur Formierung eines Gegenpols
Der manifeste Kriseneinbruch bringt es ans Licht. Solange das Geld unangefochten den gesellschaftlichen Zusammenhang strukturiert, läßt sich die arbeitsgesellschaftliche Logik nicht zurückdrängen. Im Gegenteil, unter diesem Vorzeichen nimmt mit der Verknappung der Arbeit die Unerbittlichkeit des arbeitsgesellschaftlichen Diktats nur noch zu. Der dümmste Wahlslogan aller Zeiten, die von der SPD im Europawahlkampf 1994 ausgegebene Parole »Arbeit, Arbeit, Arbeit«, spiegelt das auf seine Weise. Wenn es einen Abschied von der Arbeitsgesellschaft geben soll, dann muß er in letzter Instanz mit der Aufhebung der Ware-Geld-Beziehung in eins fallen. Weil die Arbeits- und Warengesellschaft die Reproduktion ihrer Mitglieder immer weniger sicherstellt, sondern in ihrem blinden Prozessieren nur noch die natürlichen und sozialen Lebensgrundlagen destruiert, kann es für eine emanzipative Bewegung nur noch darum gehen, gegen die kollabierende Wertbeziehung gesellschaftliches Leben und Reproduktion neu und anders zu organisieren. Damit sind wir wieder beim Problem der bewußten gesellschaftlichen Selbstorganisation angelangt, bei der Frage also: Wie können die Menschen unmittelbar, also ohne die Dazwischenkunft eines abstrakten Vermittlungsmediums, über die stofflichen Ressourcenflüsse entscheiden und sie praktisch regulieren?
Eine solche Orientierung kann nicht allein aus der spontanen Bewegung heraus entstehen. Auch jeder noch so beschränkte praktische Ansatz postmonetärer Selbstorganisation bedarf eines entsprechenden gesellschaftlichen Makroklimas, um keimen und gedeihen zu können. Solange Monetarismus und Keynesianismus mit ihrem Scheingefecht den sogenannten wirtschaftspolitischen Diskurs in der Öffentlichkeit monopolisieren und die arbeitsgesellschaftliche Form unstrittig bleibt, werden die von Arbeitslosigkeit und Sozialabbau Betroffenen sich nur in diesem absurden Bezugssystem äußern, und jeder andere emanzipative Umgang mit der »Krise der Arbeitsgesellschaft« bleibt undenkbar. Den Herausgefallenen bleibt dann nur individuelle Selbstzerstörung oder der Versuch individueller Reintegration.
In der Warengesellschaft ist Arbeitslosigkeit, der Begriff verrät es ja schon, rein negativ definiert. Einem Arbeitslosen fehlt etwas Wesentliches, was das Mensch- und Bürgersein substantiell ausmacht: die (Lohn)arbeit nämlich. In einer Welt, in der sich der gesamte gesellschaftliche Zusammenhang mühsam durch das Nadelöhr von Ware und Geld presst, ist dem Arbeitslosen sein gesellschaftliches Existenzrecht nur gnadenhalber zuerkannt, im Grunde ist er aber eine Nichtperson. Gerade die sozialdemokratischen Klageweiber und die Verteidiger des Sozialstaats insgesamt vertreten diese Logik unerbittlich und schreiben sie fest. Der Arbeitslose kommt bei ihnen nur als ein passives Opfer widriger Umstände vor; allein eine alsbaldige Rückkehr in die arbeitsgesellschaftliche Normalität, und sei sie vom Staat simuliert, verspricht Erlösung. Solange ausschließlich derartige (Selbst)definitionen den gesellschaftlichen Umgang mit Arbeitslosigkeit bestimmen, kann es höchstens eine kollektiv organisierte Bittstellerei, aber keine emanzipatorische Bewegung geben.
Die herrschende Sichtweise läßt sich aber sowohl ideologiekritisch wie auch praktisch durchaus über den Haufen werfen. Im Gegensatz zur Darstellungsweise sozialdemokratischer Sozialpolitiker und anderer Kirchentagsprediger erleben die realexistierenden Arbeitslosen ihr Nichtarbeitsdasein durchaus nicht alle als das pure Elend, so daß sie Tag und Nacht davon träumen würden, das Fabrikregime möge sie endlich erlösen und in seinen Schoß wiederaufnehmen. Wer die Botschaft verkündet, daß Arbeitslosigkeit an sich kein Unglück ist, sondern disponible Zeit, und daß erst die Entkopplung vom gesellschaftlichen Bezugs- und Reproduktionsrahmen sie zum Unglück macht, der kann durchaus an ein weitverbreitetes Vorverständnis anknüpfen. Anders als etwa noch zu Zeiten von Paul Lafargue oder auch anders als in der Zeit des Hochfordismus ist den meisten Menschen heute zumindest partiell klar, daß Arbeit mehr mit Verstümmelung als mit Erfüllung zu tun hat.
Was allerdings fehlt, das ist die Transformation dieser impliziten Einsicht zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Konzeption. Wer dieses Manko behebt, wer den Aberwitz und die Unhaltbarkeit arbeitsgesellschaftlicher Zurichtung attackiert und diese Kritik zu einer gesellschaftlichen Perspektive macht, hat gute Chancen, so etwas wie ein kollektives Heureka-Erlebnis auszulösen, weil er auf den Punkt bringt, was unterschwellig schon vorhanden ist, in der Krise aber zu einer ganz neuen kollektiven Tragweite gelangt. Der Stellenwert für die gemeinschaftliche Selbstfindung der Betroffenen ist kaum zu überschätzen.
Im Augenblick sind wir davon noch weit entfernt. Momentan beherrschen nach wie vor zwei Positionen die Wirtschaftsdebatte im allgemeinen und den Streit um das Problem der Arbeitslosigkeit im besonderen, die einander an Absurdität kaum nachstehen. Den Oberton gibt dabei der Neokonservatismus bzw. Neoliberalismus an. Unter dem euphemistischen Schlagwort »Deregulierung« tritt er als Büttel der anlaufenden Prozesse von Entgesellschaftung auf. Er reagiert auf die Krise der Arbeitsgesellschaft, indem er sich beharrlich für die restlose Subsumtion aller Lebensäußerungen unter das Marktdiktat stark macht. Das neokonservative Deutungsmuster kennt nur zwei Günde, die zu Unterbeschäftigung führen können: zum einen mangelnde Flexibilität der Betroffen bei der Verwertung ihres Humankapitals, zum anderen nicht marktgerechte Rahmenbedingungen. Lösen läßt sich das Problem der Arbeitslosigkeit aus dieser Sicht jedenfalls nur durch den in der Finanzkrise ohnehin schon im Gange befindlichen Rückzug des Staates und durch rigide Anpassung an die herrschenden, vom Weltmarkt gesetzten Konkurrenzbedingungen. Zum theoretischen Hintergrund hat diese gewagte These nichts anderes als das uralte Saysche Gleichgewichtstheorem: Jedes Arbeitskraftangebot, so das Dogma, schafft sich schon seine Nachfrage. Die Anbieter müssen sich nur der Logik des Marktes beugen und den Preis ihrer Ware anpassen; der Staat darf sich am Selbstlauf der Marktlogik nicht versündigen.
Die Entwicklung in den USA, die dortige »Mac-Job«-Offensive, hat gezeigt, wie die schöne neue postfordistische Arbeitswelt bestenfalls aussieht. Zeitigt die neokonservative Politik von Deregulierung und Sozialabbau bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit überhaupt einen Erfolg, dann besteht er allenfalls in der Schaffung einer neuen Schicht von Dienstleistungsarmut. Die Figur des »working-poor« kehrt in Teilen des unproduktiven Sektors wieder. Mit einer selbsttragenden Akkumulationsdynamik, die tatsächliche Vollbeschäftigung verspricht, hat das allerdings gar nichts zu tun. Während die diversen Kategorien von Arbeitsplatzbesitzern sukzessive das gleiche Schicksal ereilt, das vor Jahrzehnten die Sammler von Naturkautschuk getroffen hat, als der Vormarsch synthetischer Ersatzprodukte ihre Einkommensquelle verstopfte, rüsten die neokonservativen Zyniker zu ihrer »Ardennenoffensive«. Sie nehmen einfach nicht zur Kenntnis, daß die Ware Arbeitskraft dabei ist, sich für die meisten ihrer Inhaber in einen unverkäuflichen Anachronismus zu verwandeln, der auf Dauer selbst mit Preisnachlässen, die die Arbeitseinkommen auf breiter Front weit unter die Gestehungskosten der zu verkaufenden Ware drücken würden, nicht mehr loszuschlagen ist. Sie wettern gegen den »kollektiven Freizeitpark« und die »grassierende Anspruchshaltung«, singen denjenigen, die aus der Vernutzungslogik herausfallen, das hohe Lied des Marktes und phantasieren, man müsse die arbeitsgesellschaftliche Schlinge nur fester ziehen, um aus der gegenwärtigen Misere herauszukommen.
Diese Position ist letztlich haltlos. Das ändert aber nichts daran, daß sie auf der Grundlage des herrschenden Paradigmas die stärkere bleibt. Solange das arbeitsgesellschaftliche Fundament nicht in Frage gestellt wird, gibt es nur eine denkbare Gegenposition zum neokonservativen Amoklauf, nämlich den Neokeynesianismus. Der Neokeynesianismus setzt der von den Neokonservativen betriebenen Simulation der Arbeitsgesellschaft im Medium des Marktes die staatlich vermittelte Simulation derselben arbeitsgesellschaftlichen Normalität entgegen. Angesichts der krisenbedingten Misere der Staatsfinanzen befindet sich diese Position allerdings strukturell in der Defensive. Das neokeynesianische Programm, das sich heute auf das Kürzel ABM zusammenziehen läßt, taugt nur noch zum oppositionellen Juniorpartner, kann aber keine Alternative zum marktradikalen Durchstartversuch aufzeigen. Es begnügt sich damit, die neokonservativen Bruchpiloten beim Abwerfen von sozialem Ballast zu bremsen.(19)
Die Perspektivlosigkeit wird am Problem der Arbeitszeitverkürzung deutlich. Die Krise der Arbeit zwingt dazu, über kurz oder lang die Zentralität der Lohnarbeit für den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß in Frage zu stellen, oder aber gesellschaftliche Reproduktion zum Privileg weniger zu machen. Die erste Option kann, operationalisierbar gedacht, nur eine sukzessive, aber radikale Verkürzung der gesamtgesellschaftlichen Lohnarbeitszeit bedeuten. Es muß darum gehen, disponible Zeit für alle Menschen zu schaffen, die ihnen die Möglichkeit eröffnet, einen Teil ihres Reproduktionszusammenhangs aktiv außermonetär gestalten zu können.(20)
Sowohl den neokonservativen als auch den neokeynesianischen Konzepten ist diese Orientierung völlig fremd; sie sind ja nichts anderes als die konsequente Verdrängung der »Krise der Arbeit«. Für die Neokonservativen ist generelle Arbeitszeitverkürzung per se kein Thema. Ihr Zauberwort heißt Flexibilisierung. Danach soll es Aufgabe des Arbeitnehmers sein, seine Arbeitskraft in jeder dem Management genehmen Portion und zu jeder genehmen Zeit feilzubieten. Auch wenn die im Betrieb verbrachte Zeit sich für viele absolut verringern mag, so bleibt die Zurichtung für die Arbeit der Fixpunkt, der den gesamten Lebensablauf strukturiert und alternative soziale Bezüge ausschließt. Da Teilzeitarbeit gleichzeitig als Billiglohnarbeit gedacht wird, die ihre Daseinsberechtigung allein aus der Kostenminimierung zieht, kann sie in der neokonservativen Perspektive nur als geregelte Form sozialer Depravierung wirksam werden, aber nicht als Bestandteil eines gesamtgesellschaftlichen Konzepts.
Die Neokeynesianer andererseits, soweit sie nicht mittlerweile nolens volens im Fahrwasser ihrer Gegner treiben und sich in die von der Kapitalseite jeweils diktierten Formen der Durchflexibilisierung fügen, stehen allen Formen von Teilzeitarbeit äußerst skeptisch gegenüber. Das gilt natürlich insbesondere für den gewerkschaftlichen Mainstream. Dessen A und O ist die Verteidigung des Normalarbeitstages und des Normalarbeitnehmers. Arbeitszeitverkürzungen sind in diesem Kontext zwar denkbar, sie müssen aber den Normalarbeitstag betreffen (35-Stunden-Woche). Von Gewerkschaftsseite wird Arbeitszeitverkürzung als eine Form von Beteiligung der Beschäftigten am Produktivitätsgewinn der Branche interpretiert. Undenkbar bleibt dagegen, daß es sich dabei um einen Schritt hin zur Auflösung der arbeitsgesellschaftlichen Normalität für alle handeln könnte.
Die Haltung des DGB zu Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnausgleich spricht Bände. Für die vom Gedanken der Besitzstandswahrung besessenen Arbeitnehmer-Bosse, deren fachökonomische Helfershelfer bezeichnenderweise notorisch für die Stärkung der Nachfrageseite im warenförmigen Gesamtirrsinn streiten, ist so etwas nur als erlittene Niederlage, aber nicht als Bestandteil einer größeren Lösungsstrategie denkbar. Gerade die Gewerkschaften verteidigen bis zum letzten Blutstropfen die Zentralität der Arbeit im Leben und die Einheit von Lohnarbeit und kompensatorischem Warenkonsum.
Genau bei dieser auf mittlere Sicht unhaltbaren Einheit muß eine systemtranszendierende Opposition aber ansetzen und sie aufsprengen. Arbeitszeitverkürzungen mit Lohneinbußen sind keineswegs prinzipiell abzulehnen oder bloß zähneknirschend zu akzeptieren, sie passen sehr wohl zu einer offensiven Ausrichtung, wenn eins dabei unmißverständlich klar ist: Das reale Reproduktionsniveau darf sich für breite Kreise auch bei sinkenden Geldeinkünften nicht verschlechtern. Die Menschen müssen die Möglichkeit haben, das Minus auf der Einkommenseite durch ein Minus auf der Ausgabenseite wettzumachen. Sie müssen jenen Freiraum erhalten und sich erobern können, der sie in die Lage versetzt, einen Teil ihrer Reproduktion außermonetär sicherzustellen. Wer weniger (lohn)arbeitet und weniger verdient, muß mit weniger Ausgaben ein besseres Leben führen können. Weniger Arbeit muß bedeuten, daß die Menschen ihre sozialen Rahmenbedingungen verändern und daß der Staat dahin gedrängt wird, die Voraussetzungen dafür mit zu schaffen, daß sie es können. Stellen wir die von den Konservativen auch bei anderen Themen so gerne eingeklagte neue »Bescheidenheit« in diesen Zusammenhang, so können wir den geforderten Lohnverzicht zur Forderung nach einer (partiellen) Negation der Lohn- und Warenform umdrehen. Das Streben nach einer radikalen allgemeinen Arbeitszeitverkürzung kann so gewendet den Einstieg in eine postmonetäre Ordnung eröffnen, weil sie gleichzeitig die Möglichkeiten zu kompensatorischem Warenkonsum beschränkt und den für selbstorganisierte Reproduktion notwendigen Zeitfonds zur Verfügung stellt.
4.2.3 Die (partielle) Entkopplung der gesellschaftlichen Reproduktion von der Arbeits- und Geldform. Erste Schritte hin zur gesellschaftlichen Selbstorganisation am Beispiel des Wohnraumproblems
Wer anhand der Forderung nach genereller Arbeitszeitverkürzung eine Gegenposition entwickelt, die gleichermaßen die neokonservative wie die neokeynesianische Sicht attackiert, kommt nicht umhin, das Thema Arbeitslosigkeit in einen größeren Kontext zu stellen. Es kommt also darauf an, vom scheinbar isolierten Sonderphänomen Arbeitslosigkeit eine Brücke zum gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß insgesamt schlagen. Die damit beginnende Neukonstituierung gesellschaftlicher Wirklichkeit findet zunächst auf der Ebene des öffentlichen Diskurses statt und verändert erst einmal durch neue Konfliktformulierungen die Art und Weise, wie die Probleme wahrgenommen werden. Sie bleibt dabei aber nicht stehen. Die Verknüpfung von Arbeitslosigkeit, Arbeitszeitverkürzung und Reproduktion zieht einen ganzen Rattenschwanz von gesellschaftlichen Problemen nach sich, die in die Umorientierung hineingenommen werden müssen und die allesamt auch als Betätigungsfelder von Bewegungsansätzen taugen. Sobald sich im öffentlichen Meinungsstreit mit der Krisenempirie im Rücken ein neuer, gegen die arbeitsgesellschaftliche Zumutung gerichteter Gegenstandpunkt abzeichnet, der unmißverständlich klar macht, daß die Reetablierung der arbeitsgesellschaftlichen Normalität weder möglich noch wünschenswert ist, können sich an allen möglichen Partialkonflikten zur Warenlogik querliegende Momente von gesellschaftlicher Selbstorganisation entwickeln.
Ich will an dieser Stelle nur auf die naheliegende Wohnungsfrage verweisen. Die Ära der Spekulation hatte ein im Vergleich zu den sonstigen Lebenshaltungskosten deutlich überproportionales Steigen der Mieten zur Folge. Wenn das freie Spiel von Angebot und Nachfrage den vielfach gesplitteten Wohnungsmarkt regulieren soll, dann wird es auf absehbare Zeit keine Rückkehr zu einem erträglichen Status quo ante geben. Gerade in der Krise, wenn die Realeinkommen sinken, der relativ unelastischen Nachfrage wegen die Mietpreise aber auf hohem Niveau verharren, kann daher die Mietfrage sehr schnell zu einer der drängendsten sozialen Überlebensfragen werden. Schon heute verausgaben insbesondere im großstädtischen Raum Bezieher niedriger Einkommen und Menschen mit Kindern bis zu einem Drittel ihrer Einkünfte allein für den Ausgabenposten Miete.
Bei Arbeitszeitverkürzung mit niedrigerem Lohneinkommen (oder sogar mehr), kann ein solches Mietniveau nicht mehr akzeptiert werden. Eine Idee drängt sich da ganz von alleine auf: Was unbezahlbar wird, wird nicht bezahlt, aber auch nicht geräumt. Wenn die Einsicht einsickert, daß der Markt und die Mechanismen staatlicher monetärer Redistribution immer weniger Menschen ein angemessenes Auskommen und menschenwürdige Lebensumstände sichern und daraus die Orientierung auf eine sukzessive Entkopplung der gesellschaftlichen Reproduktion von Geld und Lohnarbeit erwächst, was liegt da näher, als diesen Grundgedanken bei einem lebenswichtigen und gewichtigen Gut wie dem Wohnen praktisch umzusetzen? Das Nebeneinander von Leerstand und Wohnungslosigkeit, ein Phänomen, das mit der Verschlechterung der ökonomischen Lage sich ausbreiten wird, verspricht den Aneignungsgedanken weiter zu nähren.
Da Wohnraum ein Gut ist, dessen Reproduktionszyklus relativ lange währt, macht es gerade auf diesem speziellen Gebiet keine sonderlichen Schwierigkeiten, mit relativ simplen Mitteln und einer noch embryonalen Selbstorganisation auf Block- und Stadtteilebene die vorhandene gesellschaftliche Substanz in eigener Regie zu sichern. Arbeitsloses handwerklerisches Know-how jedenfalls steht massenhaft zur Verfügung, und die notwendigen materiellen Ressourcen lassen sich durch partiell vielleicht noch monetäre, aber weit unter dem Mietniveau liegende (Selbst)abschöpfung und eventuell zu erkämpfende staatlich-kommunale Zuflüsse sicherstellen. Der Versuch, den Reproduktionsaspekt Wohnen aus dem Marktkontext herauszulösen, bricht sicherlich nicht in sich selber zusammen, weil sich die Selbstorganisation aus »technischen Gründen« als allzu schwierig erweisen würde. Entscheidend ist allein, ob es gelingt, die juristische Fetischform aufzubrechen.
Der eine oder andere mag gelangweilt abwinken und einwenden, daß hier nur uralte Kamellen präsentiert werden, und auf das Schicksal der Hausbesetzerbewegungen der 70er und frühen 80er Jahre verweisen. Dieses Gegenargument sticht allerdings nicht. Beim Versuch, Perspektiven zu entwickeln, kommt es nämlich nicht darauf an, den Markt der Möglichkeiten um sensationelle Aktionsformen und nie geahnte Bewegungsfelder zu bereichern; es geht vielmehr darum, den Gesamtkontext zu reformulieren, in dem gerade auch scheinbar Altvertrautes in einem veränderten Zusammenhang eine neue Bedeutung erlangen kann.
Wer das mit einbezieht, dem wird klar, daß die versackte Hausbesetzerbewegung kein Präjudiz über eine neuerliche Besetzung der Wohnraumfrage liefert. Die Hausbesetzerbewegung der frühen 80er war im wesentlichen ein subkulturelles Ereignis. Sie amalgamierte die Wohnraumfrage mit dem Bedürfnis bestimmter Jugendkulturen nach gesellschaftlichen Freiräumen, und allein ihres Hangs zur Selbstghettoisierung wegen verspielte sie im Handumdrehen die anfänglich durchaus weitverbreiteten Sympathien.(21) Eine solche Konstellation wird sich heute kaum noch einmal wiederholen. Wenn unter dem Vorzeichen massiver Kriseneinbrüche das Wohnraumproblem abermals auf die Tagesordnung gerät und sich dabei so etwas wie eine Bewegung herausbildet, dann wird diese von vornherein eine allgemeinere Grundausrichtung haben.
Es würde den Rahmen sprengen, wollte ich an dieser Stelle erörtern, welche Aktions- und Organisationsformen (Mietstreikbewegung, Besetzungen usw.) auf diesem Konfliktfeld entstehen könnten. Eins dürfte aber klar sein: Jeder Versuch, im Stadtteilrahmen das Wohnen zu reorganisieren, hat immense weitertreibende soziale Implikationen. Er kann den Rahmen und das Bezugsfeld liefern, in dem auch andere Aspekte des alltäglichen Lebens in die Reichweite von Selbstorganisation rücken. Wo Menschen nicht mehr zufällig nebeneinander wohnen, weil sie bei der gleichen juristischen Person für Räume im gleichen Anwesen einen Mietvertrag ergattert haben, sondern ihr Nebeneinander selber organisieren und dafür einen Modus vivendi finden müssen, ändern sich auch die sozialen Beziehungen nachhaltig (der soziale Zusammenhang hat sich schon verändert, sobald die allgemeine Ignoranz im urbanen Dschungel nicht mehr selbstverständlich ist). Wenn gleichzeitig der Staat bankrottiert und seine Aktivitäten einschränkt, was liegt da näher, als daß diejenigen, die nicht nur vom Zeitfonds, sondern auch vom Sinnbezug her aus der Lohnarbeit entlassen werden, vom Stadtteil aus auch solche sozialen Funktionen wie Altenbetreuung, Kinderversorgung, die Bekämpfung von krimineller Repression (sowohl polizeiliche als auch privat organisierte), lokale Nahrungsversorgung(22) usw. in die eigene Hand nehmen?
Es bedarf keiner besonderen Phantasie, um die Einwände zu antizipieren, auf die das hier entworfene »Luftschloß« stoßen wird. Die einen werden auf den »subjektiven Faktor« und die demoralisierende Wirkung der Krise verweisen, die anderen werden polemisch fragen, ob das vorgetragene Konzept, wenn man nur den »autonomen Lack« abkratzt, sich nicht im wesentlichen mit dem Subsidiaritätsprinzip deckt, wie es die CDU so gerne predigt.
Was den ersten Punkt betrifft, so kann es natürlich nicht darum gehen, die zersetzende Wirkung der Krise in Abrede zu stellen. Sie existiert und mit ihr ist zu rechnen. Daraus folgt aber keineswegs, daß die vollkommene Vereinzelung und soziale Verwahrlosung die einzige Tendenz sein muß, von der die zukünftige Entwicklung bestimmt wird. Wenn sich heute die demoralisierende Wirkung der blind fortgeschriebenen Arbeitsgesellschaft und die entsozialisierenden Folgen ihrer Krise zu einem sich immer weiter verdichtenden Gesamtunheil verbinden, dann hat das auch mit der scheinbaren Alternativlosigkeit der gegenwärtigen Situation zu tun. Den einzelnen fehlt einfach der Bezugspunkt zur gesellschaftlichen (Selbst)Veränderung. Dieser akute Mangel ändert aber nichts daran, daß die Erosion der Arbeitsgesellschaft nicht nur menschliche Potenzen zerstört, sondern auch in der bisherigen Normalität gebundene menschliche Energien freisetzt, die das »Aufhebungsprojekt«, sobald sich nicht nur seine theoretische, sondern auch seine unmittelbar lebenspraktische Dimension abzeichnet, reabsorbieren kann. Die Warengesellschaft entläßt nicht nur menschliche Wracks, sie schafft auch entkoppelte Gestaltungsfähigkeit, und beide Seiten überlagern sich nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern selbst noch in den einzelnen Individuen.
Wo eine Bewegung und eine andere Gestaltung des sozialen Beziehungsgeflechts erst einmal zu keimen beginnt und Menschen jenseits der Beliebigkeit des Warenzusammenhangs und in Abgrenzung davon sich so etwas wie ein selbstbestimmtes Terrain erobern, können auch embryonale Ansätze gerade der Unwirtlichkeit der versachlichten Vergesellschaftung wegen sehr schnell zu Attraktoren werden und eine bemerkenswerte Eigendynamik entwickeln. In einer Welt, in der die Menschen die Warensubjektivität nicht nur verkörpern, sondern auch an ihr leiden, besteht die Attraktivität von Bewegungsansätzen nicht zuletzt darin, daß sie einen Ansatz zum Ausbruch aus der Vereinzelung versprechen und auch tatsächlich bieten.
Um die Logik der Warengesellschaft aufzusprengen, müssen keine Übermenschen antreten, deren Psychoapparat durch göttlichen Eingriff vom Diktat der Warenform unbeleckt geblieben ist; es reicht vollkommen aus, wenn Männer und Frauen auch aus ihrem eigenen lebensweltlichen Druck heraus sich in Bewegung setzen und dabei lernen, sich selber mitzureflektieren und in ihrem warengesellschaftlichen So-Sein zu hinterfragen. Eine Aufhebungsbewegung, erst einmal begonnen, setzt eine eigene Realität und kann daher durchaus eine Art »makrotherapeutische Funktion« erfüllen. Diese Aufgabe ist kein Ballast, den irgendwelche nur an »objektiver Veränderung« interessierten und knallharten, über jede nur »subjektive Anwandlung« erhabenen Revolutionäre leider mitzuschleppen hätten; die Umwälzung der Psychostrukturen aller Beteiligten ordnet sich vielmehr als ein integrales Moment in den Gesamtprozeß ein. Es versteht sich von selbst, daß eine solche Entwicklung nie ohne Brüche, innere Widersprüche und retardierende Momente vonstatten gehen kann. Aber das ist kein Grund, sie als unmöglich und das Verhängnis als unausweichlich zu sehen. Genauso unhaltbar wie die Heilserwartungen einer positiven Geschichtsteleologie ist auch jeder negative Teleologismus. Das Spiel ist offen.
Die Aufhebung der Warengesellschaft fällt auch nicht mit der Selbstverwirklichung irgendeiner vorgängigen Gegensubjektivität zusammen. Sie ist vielmehr mit der sukzessiven Befreiung vom warengesellschaftlichen Subjektivitätszwang identisch. Gerade diese Tiefendimension als ein Prozeß der sozialen und psychischen Selbstveränderung läßt es nicht zu, daß die Umwälzung sich nach innen als friedliches Eiapopeia vollzieht und die Gestalt eines immerwährenden, nur von kleineren oder größeren Scharmützeln mit dem äußeren Feind unterbrochenen Straßenfestes annimmt. Sie wird eher von massiven inneren Konflikten begleitet sein. Wie in der Brust jedes einzelnen verschiedene Seelen miteinander kämpfen, so führen die ersten Schritte zu einer bewußten Gestaltung des gesellschaftlichen Raums, und sei es nur im Stadtteilrahmen, zwangsläufig zu einer Unmenge von Meinungsverschiedenheiten und handfesten Gegensätzen(23); und es führt kein Weg daran vorbei, sie postdemokratisch auszutragen oder zumindest provisorische Arrangements zu finden.
Wenn diesen zentrifugalen Kräften zum Trotz dennoch die Formierung sozialer Bewegung gelingen kann, dann nur deswegen, weil die Frontziehung auf der Makroebene das ganze Geflecht von Binnenkonflikten, das mit den ersten Schritten zur Selbstorganisation ans Licht kommt, überlagern wird. Der Kampf gegen verschiedene Aspekte der arbeitsgesellschaftlichen Zurichtung sorgt für jene Integration, die in den Medien der Selbstorganisation erst nach und nach aus eigener Kraft herzustellen gelernt werden kann.
Dieser Hinweis führt schon zur Beantwortung des zweiten oben erwähnten Einwands. Die Konservativen beschwören angesichts der Sozialstaatsmisere die sogenannte Eigenverantwortung und polemisieren gegen das »Anspruchsdenken«. Der hier vertretene Ansatz ist entschieden gegen einen derartigen bloß appellativen Bezug auf die politischen Subjekte gerichtet. Auf den ersten Blick mag es für eine (ignorante) Kritik des Gedankens einer neuen gesellschaftlichen Selbstorganisation freilich so erscheinen, als sei dieser Ansatz mit dem neokonservativen Postulat der postsozialstaatlichen Eigenverantwortung kompatibel, weil er keine Heilserwartung mehr in einen wie auch immer reformierten Staat setzt und darauf verzichtet, nichts als eine exzessive Ausdehnung monetärer Redistribution einzuklagen. Von einem bornierten keynesianischen Standpunkt aus scheinen neoliberale Eigenverantwortung und postmonetäre Selbstorganisation dann auf die gleiche Konsequenz hinauszulaufen, nämlich auf staatliches Desengagement.
Beim Nachhaken löst sich diese vermeintliche Ähnlichkeit indes sofort auf. Dem Neokonservatismus geht es lediglich darum, die abstrakte staatliche Allgemeinheit aus der Pflicht zu entlassen und ersatzweise, mehr ideologisch als praktisch machbar(24), den monadisierten Warensubjekten auch noch die Herstellung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aufzubürden. Der Marktradikalismus verlangt also von den in ihrer Warenförmigkeit völlig unaufgehobenen vereinzelten Einzelnen, daß sie die knallharte Selbstinstrumentalisierung gemäß der arbeitsgesellschaftlichen Logik mehr denn je verinnerlichen und ihr vom Geld bestimmtes Schicksal auch jenseits der Arbeitsfähigkeit in pure marktwirtschaftliche Eigenregie übernehmen. Er fordert gleichzeitig von der bürgerlichen Blutsfamilie(25), daß sie diese Selbstzurichtung nach Leibeskräften flankiert, für den überforderten Sozialstaat noch Lückenbüßerfunktionen übernimmt und in aller privaten Stille dessen Löcher stopft.
Eine von der Kritik der Warengesellschaft inspirierte Bewegung für Selbstorganisation dagegen tanzt nach einer anderen, weniger braven Melodie. Sie holt nicht die Kastanien aus dem Feuer, die der Sozialstaat hat fallen lassen, um sich dabei selbstbescheiden in die von der Vorherrschaft des arbeitsgesellschaftlichen Diktats gesetzten Rahmenbedingungen zu fügen. Ganz im Gegenteil kämpft sie ja um die selbstbestimmte Nutzung der stofflichen Ressourcen und des materiellen gesellschaftlichen Reichtums jenseits der Diktatur von marktwirtschaftlicher Rentabilität bzw. Finanzierbarkeit und tritt auf dieser Ebene nicht nur den Überresten der abstrakten staatlichen Allgemeinheit fordernd gegenüber, sondern befindet sich auch in Frontstellung zum arbeitsgesellschaftlichen Restsektor.
Selbstorganisation bedeutet also keineswegs, daß mit der gesellschaftlichen Bewegung sich endlich eine kollektive Mutter Teresa konstituiert, die mit Nichts und aus Liebe sich für die Beladenen aufopfert; gesellschaftliche Selbstorganisation bedeutet immer auch den Kampf um ihre eigenen materiellen Voraussetzungen. Sie muß Staat und Markt dazu zwingen, den institutionalisierten und akkumulierten stofflichen Reichtum auch dort neuen gesellschaftlichen Kräften zugänglich zu machen, wo das im Widerspruch zur warengesellschaftlichen Logik und ihrem Rechtssystem steht.
Die allgemeinste Voraussetzung postarbeitsgesellschaftlicher Aneignung ist im Grunde mit der Wohnungsfrage schon benannt. Jede Aktivität, sei sie nun markt- bzw. staatsförmig oder selbstorganisiert, braucht ihren adäquaten Raum. Wo Grund und Boden einen Preis bekommt, und sich das Phänomen der Grundrente zwischen die potentiellen Nutznießer und ihre Betätigung schiebt, schafft das allein schon einen Monetarisierungszwang, der sich je nach Höhe der Immobilienpreise und des Mietniveaus genau quantifizieren läßt. Bedürfnisorientierte Tätigkeiten, die diesem Zwang nicht Genüge tun können, haben von vornherein keine Chance. Eine auf die Neuformierung der gesellschaftlichen Reproduktion gerichtete Bewegung muß daher zwar nicht die unerfüllbare Forderung stellen, daß der Staat via monetäre Zuwendungen ihr Chancengleichheit auf dem Markt beschert; sie kommt aber gar nicht umhin, stattdessen eine realistischeres, aber auch radikales Ziel zu verfolgen, nämlich die institutionelle Beseitigung des Hindernisses der Grundrente.
Wo ein selbstorganisierter Zusammenhang der Reproduktion sich formieren soll, darf Grund und Boden nicht weiterhin Ware bleiben. Die Entscheidung, was mit Nutzungsflächen zu geschehen hat, und wer sie zu welchem Zweck benutzen darf, muß von den Kriterien des Marktes und der Verwertung entkoppelt werden und selbstverwalteten kommunalen Institutionen anheimfallen. Wie für die Regimes der nachholenden Modernisierung die Nationalisierung von Grund und Boden eine zentrale Voraussetzung für die Umsetzung ihrer Entwicklungskonzepte war, ebenso muß für eine postmonetäre Gesellschaft die Kommunalisierung von Grund und Boden erkämpft werden.(26) Natürlich wird es Zwischenschritte auf diesem Wege geben. In der Krise werden auch Grund und Boden ebenso wie Gebäude außer Kurs gesetzt, und Akte wilder Aneignung drängen sich da fast von alleine auf. Die Grundorientierung muß aber zumindest in theoretischer Hinsicht klar sein, und für die soziale Bewegung wird sie sich in den praktischen Auseinandersetzungen klären.
5. Was vom Politischen bleibt oder: gesellschaftliche Selbstorganisation und Staatszerfall
Eine Bewegung, die sich anschickt, den arbeitsgesellschaftlichen Horizont zu sprengen, läßt sich strenggenommen nicht mehr als politische Bewegung bezeichnen. Weil es ihr nicht darum geht, die abstrakte staatliche Allgemeinheit zu übernehmen oder neu zu konstituieren, sondern »nur« um die Regulation des stofflichen gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs, hat sie den Standpunkt der Politik bereits hinter sich gelassen. Sie ist in ihrer ganzen Ausrichtung schon bei dem angelangt, was laut Marx das staatlich-politische Medium einmal ablösen soll, nämlich die selbstorganisierte »Verwaltung von Sachen«.
Wenn es die Bewegungen, die das »Aufhebungslager« konstituieren, nicht zur politisch-ideologischen Selbstdefinition drängt, dann bedeutet dies allerdings weder, daß die Ebene der Allgemeinheit überhaupt gegenstandslos geworden wäre, noch, daß sich jeder Bezug auf die Überreste des bestehenden Staates künftig erübrigen würde. An die Stelle des bisherigen politischen Kampfes um die Regulation der Arbeits- und Warengesellschaft tritt der postpolitische Kampf um materielle gesellschaftliche Ressourcen. Auf dem erreichten Niveau der Vergesellschaftung können sich Ansätze von Selbstorganisation natürlich nicht damit begnügen, Grund und Boden für sich zu erobern. Die »Instandbesetzung« der Gesellschaft läßt sich nur vollziehen, wenn es gelingt, bisher von Staat und Markt verwaltete Produktionsmittel auch gegen das Diktat der Verwertung in eine (nach stofflichen Gesichtspunkten umstrukturierte) autonome Reproduktion einzuspeisen. Die Selbstorganisation kann aber zunächst nicht alle notwendigen Ressourcen in ihrem eigenen Bezugsrahmen erzeugen. Postpolitischer Konflikt und postpolitische Kooperation mit den Überresten der staatlichen Instanzen müssen die Ansätze selbstbestimmter Reproduktion flankieren und den bis auf weiteres notwendigen Zugang zum warengesellschaftlichen Teil der Produktion eröffnen.(27)
In Abgrenzung zu den landläufigen dualwirtschaftlichen Vorstellungen habe ich bereits betont, daß die Beziehungen zwischen den Segmenten von Selbstorganisation und der abstrakten staatlichen Allgemeinheit von Konflikten und Kämpfen geprägt sein werden. Im letzten Abschnitt dagegen war von (partieller) Kooperation die Rede, und schon vorher brachte ich Forderungen ins Spiel, die nur staatliche Instanzen umsetzen können, aber nicht unmittelbar die Bewegung selber. Wie lassen sich derart einander scheinbar widersprechende Aussagen überhaupt zusammendenken?
Der Widerspruch, der sich hier auftut, ist nicht in den Ungereimtheiten der Idee von reproduktiver Selbstorganisation im Niedergangsprozeß der Arbeitsgesellschaft begründet, sondern in der Sache selbst; genauer gesagt: in der zwiespältigen Entwicklung, die das System der Staatsapparate unter Krisenbedingungen und in der Konfrontation mit einer neuen Bewegung sozialer Emanzipation nehmen muß. Die staatliche Apparatur kann die Krisenwellen nicht als homogene Einheit überleben, sie wird sich vielmehr spalten; und einige der inneren Konfliktlinien zeichnen sich heute schon ab. Wo der Kampf zwischen arbeitsgesellschaftlichem Pol und Selbstorganisation entbrennt, werden auch Teile des zerbrechenden Staatsapparats in dem entstehenden Spannungsfeld eine zumindest partielle Affinität zur Seite der Aufhebung entwickeln können, wenn auch nur notgedrungen.
Am offensichtlichsten ist die Möglichkeit zum Brückenschlag für die historisch jungen, dem Staat angelagerten gesellschaftlichen Rahmeninstitutionen. Bis in die 70er Jahre hinein hat sich unter der Ägide der abstrakten staatlichen Allgemeinheit eine Vielzahl von professionalisierten Einrichtungen herausgebildet, die das erreichte Vergesellschaftungsniveau nicht nur repräsentieren, sondern es auch praktisch herstellen. Vom Gesundheits- bis zum Bildungswesen, von der Altenversorgung bis zum staatlichen Umweltschutz erstrecken sich heute weite Bereiche, die entweder aus dem traditionellen lebensweltlichen Bezug ausgegliedert wurden oder völlig neu entstanden und über die Mechanismen öffentlicher monetärer Redistribution an die Arbeitswelt und ihre Funktionslogik angekoppelt wurden. Angesichts der mit der Krise der Arbeitsgesellschaft einhergehenden finanziellen Bredouille des Steuerstaates und des Zwangsversicherungswesens gerät dieser breite Sektor nachhaltig unter Druck. Einerseits wird der Trend sichtbar, gesellschaftliche Aufgaben, die sich eigentlich der Warenform sperren, krampfhaft in verkäufliche Güter zu verwandeln. So wollen die Hardcore-Privatisierer in ihren Fieberträumen selbst noch Gefängnisse in gewinnträchtige Unternehmen verwandeln. Andererseits droht dem gesamten vom Staat nicht mehr finanzierbaren Segment die Austrocknung. Dieser Druck kann polarisierend wirken. Während die einen angesichts fortschreitender Prekarisierung willfährig die vom Sachzwang inaugurierte Entgesellschaftungslogik exekutieren und nur noch dafür kämpfen, trotz insgesamt schrumpfender Töpfe den eigenen Arbeitsplatz zu sichern, könnte sich gleichzeitig der Raum für eine alternative Position herausbilden, die gewillt ist, in eigener Regie diese Aufgaben weiter sicherzustellen(28) und dabei auch gegen die monetäre Logik für die notwendigen stofflichen Ressourcenflüsse eintritt.
Wenn z.B. das Gesundheitswesen bankrottiert, wird es vielleicht medizinisches Personal geben, das so etwas wie Krankenpflege aufrechterhalten will, selbst wenn es sich persönlich für eine arbeitsgesellschaftliche Karriere nicht (mehr) rechnet.(29) Wenn der Staat bei seiner Rückzugsbewegung im Schulwesen zum Zaungast wird und sich deswegen vielleicht Ansätze zur Selbstorganisation des Bildungswesens herauskristallisieren, dann werden die ehemals und partiell auch weiterhin vom Staat besoldeten Lehrkräfte natürlich an diesem Prozeß entscheidenden Anteil haben. So könnten auch andere Staatsbedienstete zusammen mit ihrer bisherigen Klientel stillgelegte oder von Stillegung bedrohte Bereiche in eigene Regie mitübernehmen und mitorganisieren. Soweit die Angehörigen der Apparate sich also nicht widerstandlos der Krisenlogik beugen, sondern stattdessen versuchen, das erreichten Vergesellschaftungsniveau zu halten, werden sie zum »natürlichen« Bestandteil einer postmonetären sozialen Bewegung. Sie bringen in vielen Bereichen erst das notwendige Know-how mit, ohne das eine gesellschaftliche Selbstorganisation gar nicht funktionieren kann.
Bei den angesprochenen infrastrukturellen Sektoren liegt es nahe, daß sie von einer Bewegung hin zu gesellschaftlicher Selbstorganisation miterfaßt werden, ja vielleicht sogar eine Vorreiterrolle bei deren Formierung übernehmen. Ein anderes Bild bietet allerdings der Staatsapparat im eigentlichen Sinn, die Bürokratie von Bund, Ländern und Gemeinden bzw. die dazugehörigen politischen Körperschaften. Aber auch in deren Beziehungsgeflecht wirken die ökonomischen Kriseneinbrüche polarisierend, und es ergeben sich vielleicht Berührungspunkte zwischen einem Teil des Staatsapparates, der das bestehende Vergesellschaftungsniveau verteidigt, und Ansätzen gesellschaftlicher Selbstorganisation.
Wenn sich überhaupt Brücken zwischen Selbstorganisation und offizieller abstrakter Allgemeinheit schlagen lassen, dann vornehmlich auf der untersten kommunalen Ebene. Das hat seinen guten Grund. Die Simulation arbeitsgesellschaftlicher Normalität geht innerhalb des staatlichen Gesamtgefüges nämlich einseitig zu Lasten nachgeordneter Gebietskörperschaften und stellt vor allem deren Funktionsfähigkeit in Frage. Es ist kein Geheimnis, daß der laufende Sozialabbau in der Bundesrepublik ebenso wie in anderen westlichen Ländern die finanziellen Lasten für die öffentliche Hand insgesamt kaum verkleinert, sondern vornehmlich nur umverlagert hat. Es handelt sich im großen und ganzen um ein Nullsummenspiel. Einsparungen, die den Kassen der Zwangsversicherungen und den Bundes- und Länderhaushalten zugute kommen, reißen zusätzliche Löcher in die kommunalen Haushalte. Bei Maßnahmen wie der zeitlichen Befristung von Arbeitslosenhilfe, die sofort die gemeindlichen Sozialhilfelasten anschwellen lassen, liegt dieser Zusammenhang auf der Hand.(30)
Aber auch scheinbar auf einer anderen Ebene vollzogene Sparmaßnahmen wie die Privatisierung der Bundesbahn ziehen regelmäßig ganz ähnliche Nebenfolgen nach sich.(31) Den Letzten beißen die Hunde, und der Letzte ist immer die Kommune. Dieser Befund läßt sich extrapolieren. Den Zentralinstanzen steht ein umfängliches Instrumentarium zur Verfügung, um arbeitsgesellschaftliche Normalität zu mimen und den Druck der Krisenwirklichkeit an die unteren Körperschaften weiterzugeben. Den Kommunen fehlt ein solcher Spielraum nach unten. Sie können zwar versuchen, durch rigide Vermarktung städtischer Leistungen und durch brutale Schließungspolitik dem Bankrott gegenzusteuern; beides wird aber nicht nur auf Widerstand treffen, sondern selbst bei einer sehr großzügigen Auslegung des Begriffs von »überflüssigem Luxus« können solche Maßnahmen kaum mehr sein als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Was da an Ausgaben abgeschmolzen wird, ist im Handumdrehen durch zusätzliche, von den Zentralinstanzen abgewälzte Belastungen überkompensiert.
Der Staatsbankrott erwischt also zuerst gerade die Gemeinden als das schwächste Glied. Die schiere Not und die bei aller ideologischen Bornierung nicht völlig vermeidbare Praxisnähe machen es aber vorstellbar, daß einige kommunale Verwaltungen sich auch für Ideen öffnen könnten, die quer zu ihrem warengesellschaftlichen Auftrag liegen. Weil sie nicht nur mit statistischen und damit schon monetarisierten Größen hantieren können, sondern es stets auch hautnah mit der empirischen Wirklichkeit zu tun bekommen, ist es möglich, daß in den untersten Verwaltungen gewissermaßen Fraktionen entstehen, die hinsichtlich der Bewegungsfreiheit und Ressourcen-Aneignung von sozialen Bewegungen nicht nur klammheimliche Sympathie zu erkennen geben, sondern auch so etwas wie ein subkutanes Bündnis eingehen könnten.
Wie sich im Einzelnen die Interessen von Kommunen und gesellschaftlicher Selbstorganisation überlagern können, läßt sich an den verschiedensten Problemfeldern exemplifizieren. Da ich schon mehrfach das Problem des Wohnens bemüht habe, will ich auch in diesem Zusammenhang noch einmal auf diese Frage rekurrieren. Ein Staat, der angetreten ist, die arbeits- und warengesellschaftliche Ordnung sicherzustellen, überläßt natürlich auch das Gut Wohnen am liebsten dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Da der sich selbst überlassene Wohnungsmarkt aber schon immer für das soziale Gefüge fatale Ergebnisse zeitigte, blieb dem Staat allerdings schon von jeher nichts anderes übrig, als in diesen Bereich einzugreifen. Zwei marktkonforme Mittel hat er dabei entwickelt. Zum einen wurde er auf der Angebotsseite als Mitanbieter aktiv (»sozialer Wohnungsbau«), zum anderen setzte er seine monetären Redistributionspotenzen für »sozial Benachteiligte« ein und ermöglichte es ihnen, durch finanzielle Zuschüsse auf dem Markt mitzuhalten (»Wohngeld«).
Diese Form der Subventionierung folgt dem üblichen arbeitsteiligen Muster. Der Bund erstellt die gesetzliche Grundlage, die Gemeinden müssen sich die Mittel aus den Rippen schneiden, um die gesetzlichen Vorgaben umzusetzen. Mittlerweile bestimmt die Entwicklung des Mietniveaus und damit der Aufwendungen für Wohngeld den Zustand der Gemeindefinanzen besonders in den großstädtischen Räumen weit mehr als jedes noch so exzessive Streichkonzert im Kultur- und Sozialetat. Liegt es da nicht im wohlverstandenen Eigeninteresse der Kommunen, Formen von selbstorganisiertem Wohnen und des Mietkampfs zu unterstützen, wenn sie die Lasten nicht mehr bezahlen können, die für sie aus dem Selbstlauf des Marktes erwachsen?
Angesichts wachsender Massenarbeitslosigkeit und der Misere des Sozialstaats fällt den herrschenden neokonservativen Verteidigern der Arbeitsgesellschaft regelmäßig nur eines ein: Das Leben im sozialen Netz muß so unattraktiv gestaltet werden, daß die Betroffenen noch jede Form von Billiglohn der Arbeitslosigkeit vorziehen. Als ultima ratio dient die Drohung mit einer sogenannten gemeinnützigen Zwangsarbeit für Sozialhilfeempfänger. Bei Städten und Gemeinden, denen ganz selbstverständlich die unmittelbare Sklavenhalterfunktion zufallen würde, erfreuen sich derartige Vorstellungen keiner sonderlichen Beliebtkeit. Für sie wäre die Disziplinierungsaufgabe nur mit zusätzlichen Kosten verbunden, während sie keinerlei Nutzen daraus ziehen könnten. Wäre es da nicht vielversprechender, zu Deals mit den Selbstorganisationen Betroffener zu kommen und reale kommunale Funktionen samt den dazu notwendigen Mitteln an diese abzutreten?
Wenn also zumindest auf der kommunalen Ebene die Aufhebungsbewegung den Staat nicht ausspart, sondern seine Ressourcenverwaltung umzubiegen sucht, könnte es dann auch als naheliegend erscheinen, sogar mit einer antipolitischen Ausrichtung am politischen Geschäft zu partizipieren und parlamentarisch mitzumischen? Diese für prinzipienhafte Gemüter vielleicht provokative Frage läßt sich nicht allgemein-strategisch, sondern nur pragmatisch-taktisch beantworten. Was in der Gründungsphase der Grünen eben wegen der mangelnden Grundsatzkritik an Markt und Staat noch Gegenstand eines Glaubenskriegs war, stellt sich im Krisenszenario und vor dem Hintergrund einer radikalen Absage an die Arbeits- und Warengesellschaft weit undramatischer dar. Wer sich klar gemacht hat, daß gesellschaftliche Selbstorganisation bereits im Ansatz qualitativ jenseits von Politik liegt, daß sie sich aber mit diesem Selbst-Bewußtsein nur in einem von der zerbröselnden abstrakten Allgemeinheit der staatlichen Apparate mitstrukturierten Raum entfalten kann, der hat sich damit nicht nur von jedem politischen Gestaltungswahn der Arbeitsgesellschaft verabschiedet, er kann gleichzeitig auch auf dessen Spiegelbild eines abstrakten Antiparlamentarismus verzichten. Eine solche Haltung kann mittlerweile durchaus am Massenbewußtsein anknüpfen. Die Krisenwirklichkeit hat dem Ende politischer Gläubigkeit fleißig vorgearbeitet und die Basis für eine politische Mobilisierung im alten Sinne gründlich untergraben. Angesichts der Blamage der Politik vertreten sowieso nur mehr Berufspolitiker und die Bewohner einiger linker Reservate einen emphatischen Politikbegriff. Dieser Erfahrungshintergrund wird wohl mit dafür sorgen, daß die Idee, (partei)politische Betätigung könne Selbstorganisation ersetzen, erst gar nicht Fuß fassen kann.
Auch dort, wo eine bewußt auf gesellschaftliche Selbstorganisation ausgerichtete soziale Bewegung das parlamentarische Parkett betreten würde, könnte sie sich schon allein deshalb, weil sie immer mit dem Staatsbankrott kalkulieren muß, nicht in ideologischen Scheinkämpfen verschleißen, sondern nur schlicht in ihrem eigenen postpolitischen Interesse Position dazu beziehen, wie Ressourcen zu verwenden und der praktische gesellschaftliche Betrieb zu organisieren ist. Die der Warenform entsprechende abstrakte Ideologisierung könnte sie freiwillig den Vertretern des Systems überlassen, und gerade dieser Verzicht würde ihrer Attraktivität in längst politik- und ideologiemüden Zeiten nur förderlich sein.
Wer nur ein wenig stochert, stößt sofort auf einen gewaltigen Misch- und Graubereich, in dem Ansätze von Selbstorganisation nicht nur manövrieren, sondern auch eine enorme Dynamik entwickeln könnten. Das neue Terrain hat natürlich auch seine Untiefen, die es auszuloten gilt. So mancher Kompromiß und so mancher halbherzige Schritt wird zunächst in Vereinnahmung enden oder sich ad absurdum führen. Die möglichen Entwicklungen lassen sich a priori nur bedingt antizipieren. Mein unsystematischer Schweinsgalopp quer durchs weite Feld des Aufhebungsproblems kann natürlich die nötige Ausdifferenzierung noch nicht leisten. Ich habe sicherlich mehr Fragen aufgeworfen, als vorerst beantwortet werden können. Eines ist aber vielleicht klar geworden: Wenn es nur gelingt, die Selbstverständlichkeit des arbeitsgesellschaftlichen Diktats zu brechen, dann wird das Gefühl völliger Lähmung weichen, das im Augenblick nicht nur den notorisch oppositionellen Teil der Gesellschaft beherrscht, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes.
Das Kaninchen, das die arbeitsgesellschaftliche Ordnung fixiert und darüber in Starre verfällt, wird seine Handlungs- und Bewegungsfähigkeit wieder erlangen, sobald die Schlange nur für alle sichtbar und nachvollziehbar attackiert wird. Am Anfang verändernder Praxis steht die ideelle Offensive. Die Konfliktformulierung geht den realen Aufhebungskämpfen voraus.
(1) Solange in der Arbeiterbewegung genossenschaftliche Vorstellungen eine zentrale Rolle spielten, in denen die Selbstorganisation noch als Alternative zum Markt und nicht als alternative Form der Marktteilnahme verstanden wurden, lagen ihre Anstrengungen quer zur Verallgemeinerung des warengesellschaftlichen Formdiktats. Indem die antikapitalistische Bewegung zum Synonym für gewerkschaftliche Bestrebungen und den Aufbau von Arbeiterparteien schrumpfte, räumte sie dieses Hindernis selber fort. Mit der selbstverständlichen Anerkennung der Dichotomie von Gewerkschaft und Partei reproduzierte sie auf ihrem eigenen Boden die Doppelexistenz des bürgerlichen Subjekts als »Citoyen« und »Bourgeois« und sorgte für die beschleunigte formadäquate Selbstzurichtung der traditionellen Unterklassen.
(2) Das gilt natürlich nicht für den Anarchismus. Zu einer radikalen Kritik gelangte aber auch diese Strömung keineswegs. Einseitig auf die Staatsfeindschaft fixiert, boten der Anarchosyndikalismus und artverwandte Positionen eher der Marktapologie Ansatzpunkte und wiederholten insofern lediglich spiegelverkehrt die dem Marxismus immanente Verkürzung von Gesellschaftskritik.
(3) Dieses Schema liegt nicht nur der Abrechnung der 3. Internationale mit der Sozialdemokratie zugrunde; es fand später auch bei der Beurteilung des »Realsozialismus« wieder exzessive Anwendung. Spätestens mit Trotzkys Kritik an Stalin gewöhnten sich jene Linken, die auf Distanz zum sowjetischen Vorbild gingen, an eine Argumentation, in der die »Entartung des Sozialismus« als Übergang zur ausbeuterischen Herrschaft einer bürokratischen Klasse erschien, die aus dem Proletariat hervorgegangen sei und die Arbeiterschaft nun selber knechte, um mit allen Mitteln ihre Privilegien zu sichern.
(4) Man denke in diesem Zusammenhang an die alte Endlos-Debatte um die Frage, ob (und wie) Revolutionäre am parlamentarischen System partizipieren oder sich besser in Abstinenz üben sollen.
(5) Natürlich kann die Warengesellschaft und ihre abstrakte staatliche Allgemeinheit nach wie vor Gegenbewegungen eingemeinden und tut das auch. Die Entwicklung der im Gefolge der ersten ökologischen Bewegungswelle entstandenen Grünen ist nur ein Beispiel dafür. Diese Absorption kann das aufgeworfene Problem aber dennoch nicht aus der Welt schaffen. Es bleibt virulent und wird über kurz oder lang erneut auf gesamtgesellschaftlicher Ebene thematisiert werden. Das mittlerweile parteiübergreifende Bekenntnis zum ökologischen Umbau der Marktwirtschaft ändert nichts daran, daß sich die ökologische Problematik der Logik von Staatlichkeit und Geld schlicht und einfach sperrt. Versteht man unter »sozial« nichts anderes als monetäre Redistribution und den Interessenausgleich zwischen Kapital und Arbeit, dann kann es wenigstens in der Expansionsphase des warenproduzierenden Systems tatsächlich so etwas wie eine »soziale Marktwirtschaft« geben. Ein »Ökokapitalismus« jedoch ist allen Regentänzen und Beschwörungsformeln von Politikern und Wirtschaftsmoralisten zum Trotz ein Widerspruch in sich. Es kann und wird ihn nie geben.
(6) Wenn diese Differenz auch vielen von denjenigen unklar ist, die mit der krisentheoretischen Position der »Krisis« d’accord gehen, dann ist das natürlich weniger ihrem persönlichen Unvermögen, sondern mehr dem Diskussionsstand geschuldet. Solange die Aufhebungsfrage nicht selber als expliziter Gegenstand behandelt wird, liegt es nur allzu nahe, dieses vernachlässigte Problem behelfsmäßig mit Konzeptionen und Erfahrungshintergründen auszustaffieren, die aus der verblichenen linksradikalen Diskussion stammen. Es entgeht einem dann relativ leicht, daß die zunächst scheinbar altvertrauten und angeblich ärmlichen Forderungen, wie sie im Postulat der Selbstorganisation erscheinen, heute möglicherweise in einem anderen, noch genauer auszuformulierenden Kontext stehen und damit auch eine neue Bedeutung gewinnen können.
(7) Das heißt allerdings nicht, daß der »geschichtsphilosophischen Ebene« keinerlei Bedeutung zukommt. Gerade der Perspektivwechsel schafft ein plastisches, mehrdimensionales Bild der Wirklichkeit. Der Kontext, in dem die Detailfragen stehen, wird oft erst deutlich, wenn wir den planetaren Schauplatz von außen betrachten, und dann Strukturen erkennen, die für uns, solange wir uns in ihnen bewegen, unsichtbar bleiben.
(8) Mehrfach wurde schon vorgerechnet, daß die Umweltgesamtbilanz von Autos mit Katalysator im Vergleich zu solchen ohne keineswegs positiv ausfällt. Das Weniger an emittierten Schadstoffen wird durch die bei der Produktion dieser Geräte angerichteten Schäden kompensiert. Allein die für den Katalysatorenbau notwendige landschaftszerstörende und energieaufwendige Platingewinnung dürfte aufs Ganze gesehen die vielgepriesene technische Lösung zum ökologischen Nullsummenspiel machen.
(9) Diese Tatsache haben die westlichen Regierungen inzwischen fast allesamt de facto anerkannt, indem sie ihre Atomprogramme heruntergefahren haben.
(10) Wenn die Befürworter des Atomprogramms das berühmte Arbeitsplatzargument ins Feld führten, so konnten die Gegner noch immanent gegenhalten und unschwer nachweisen, daß dieser Einwand gesamtgesellschaftlich gesehen schlicht und einfach unberechtigt war. Im Streit um den Sinn und Unsinn des Automobils ist eine solche Argumentation nicht mehr möglich, zumindest nicht plausibel. Wer das Auto attackiert, kann nur gewaltsam Ersatzarbeitsplätze herbeischwindeln. Wer also einigermaßen redlich und erfolgreich debattieren will, muß schon bereit sein, die Arbeitsplatzfrage selber in Frage zu stellen.
(11) Diesen Zusammenhang hat übrigens eine millionenstarke, offen terroristische Vereinigung schon lange auf den Punkt gebracht. Eine ihrer Selbstbezichtigungsparolen lautet bekanntlich: »Freie Fahrt für freie Bürger«.
(12) Der vereinzelte einzelne erlebt sich selber als ein punktförmiges, dem gesellschaftlichen Ensemble äußerlich gegenüberstehendes Wesen. Dieser Daseinsweise entsprechend, die ihnen angetan wird und die sie sich selber antun, gestalten die Monaden auch ihr Lebensterritorium um. Der offene gesellschaftliche Raum wird tendenziell vernichtet und in voneinander isolierte Raumpunkte aufgelöst. Was einmal allgemein zugänglicher Raum und Teil der Lebenswelt war, schrumpft zum Zwischenraum, den es möglichst schnell und reibungslos zu passieren gilt, und der entsprechend lieblos zugerichtet wird. Das »Leben« findet in eng umgrenzten, nach außen abgeschirmten und funktional zugeordneten Inseln (Beruf, Wohnen, Freizeit) statt. Dem Automobil kommt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Bedeutung zu. Die Automobilmachung wird gleich in doppelter Weise wirksam. Einerseits »löst« sie das neue Mobilitätsbedürfnis und ermöglicht es überhaupt erst, daß die funktionale Differenzierung sich als räumliche Trennung realisieren kann. Andererseits spielt es die Hauptrolle bei der Zerstörung des Zwischenraums. Wo Autos zwischen den eingeigelten Lebensinseln verkehren und die Durchfahrt Vorfahrt hat, da kann es keinen Grund mehr zum Verweilen geben. Das Problem ist an sich altbekannt. Autoren wie Sennett (»Die Tyrannei der Intimität«), ja sogar schon Mitscherlich (»Die Unwirtlichkeit unserer Städte«) und viele andere haben es beschrieben. An Brisanz hat es deswegen aber nichts verloren, im Gegenteil.
(13) Wer versucht, sich mit Hilfe einer Rohrzange die Hose anzuziehen, wird spätestens beim Versuch, den Knopf zu schließen, vor argen Schwierigkeiten stehen und aller Wahrscheinlichkeit nach entmutigt seine Tage mit heruntergelassener Hose verbringen. Kritikansätze, die sich damit abmühen, den Realabstraktionen Geld und Staat sinnliche Vernunft einzublasen, also die bösen Folgen der blinden Verwertungsbewegung mit deren eigenen Instrumenten zu beheben, stehen vor einer ganz ähnlichen Situation. Der Wechsel von hektischer Betriebsamkeit und abgrundtiefer Resignation ist vorgezeichnet. Der Hinweis darauf, daß es vielleicht legitim und möglich sei, die Hose mit bloßen Händen hochzuziehen und zu schließen, kann in dieser innerhalb des schildaesken Bezugssystems schier »ausweglosen Lage« etwas Befreiendes haben. Zwar werden die meisten den ungewöhnlichen Vorschlag zunächst äußerst verwundert zur Kenntnis nehmen, und die hartgesottenen Realisten, die eine gewisse theoretische Virtuosität im Umgang mit der Rohrzange entwickelt haben, werden in vielseitigen Traktaten nachweisen, wie lachhaft und weltfremd doch die Zumutung zangenlosen Kleiderwechsels sei, aber revolutionäre Ideen brauchen nun einmal eine gewisse Anlaufzeit, und hysterische Abwehr kündet für gewöhnlich schon vom schließlichen Erfolg dessen, was da vehement abgewehrt wird.
(14) Orio Giarini, Ökologie, Ökonomie und was darin Wert trägt, in: Joseph Huber (Hrsg.), Anders arbeiten – anders wirtschaften, Frankfurt 1979, S.195.
(15) Peter Glotz, Die Zuspitzung der Arbeit, in: Hans-Ulrich Klose, Michael Müller (Hrsg.), Befreiung der Arbeit, Bonn 1986.
(16) André Gorz, Wege ins Paradies, Berlin/West 1983, S.69 f.
(17) André Gorz, Abschied vom Proletariat, Frankfurt 1988, S.162.
(18) Peter Glotz, Die Zuspitzung der Arbeit, in: Hans Ulrich Klose, Michael Müller (Hrsg.), Befreiung der Arbeit, Bonn 1986, S.44.
(19) Wo die Sozialdemokratie das Pech hat, durch die Verkettung unglücklicher Umstände in den Besitz der Regierungsgewalt zu geraten, sieht sie sich inzwischen genötigt, den neokonservativen Streichpart gleich mit zu übernehmen.
(20) Angesichts der destruktiven Folgen, die eine arbeitsgesellschaftliche Zurichtung von Mensch und Natur nach sich zieht, drängt sich der Verdacht auf, daß dieser Verlust realiter auch ein Gewinn sein könnte. Was zunächst als Notlösung erscheint, birgt emanzipative Potentiale.
(21) Bei diesem Werk wirkten übrigens beide Hauptflügel der Bewegung einträchtig zusammen. Die »Schöner Wohnen«-Fraktion versackte in alternativer Häuslebauermentalität, behandelte den Stadtteilzusammenhang nur mehr als schickes Ambiente und wurde so letztlich zum Vorreiter der Yuppiefizierungs-Tendenzen im Kiez. Der militante Flügel andererseits benutzte den Stadtteil als bloße Bühne, auf der er seine selbstinszenierte abstrakte Widerstandssubjektivität zelebrieren konnte. Gerade diese Ankopplung des Bewegungsimpulses an den Zeitgeist der Simulations-Ära verunmöglichte aber eine weiterreichende gesellschaftliche Ausstrahlung.
(22) Das schließt die Kooperation mit der ländlichen Bevölkerung bei der Produktion von Nahrungsmitteln natürlich ein.
(23) Diese Disparitäten existieren natürlich auch heute schon. Sie werden allerdings in der Warengesellschaft durch die Medien Recht und Geld, von denen die sozialen Beziehungen monopolisiert sind, verniemandet. Als unmittelbar personale Auseinandersetzung treten sie nur in Form gelegentlicher Gewaltakte in Erscheinung. Die Selbstorganisation wird mit der ganzen ausgeblendeten und angestauten Alltagsbrutalität konfrontiert werden. Sexistische und rassistische Haltungen lösen sich ebensowenig über Nacht auf wie andere häßliche Bestandteile der Warensubjektivität.
(24) Praktisch bleiben diese Aufgaben schlicht und einfach unerledigt, sobald der Sozialstaat bei gleichzeitig weiterlaufender Totalabhängigkeit von Geldeinkommen zurückgefahren wird.
(25) Wo von der Verantwortung der Familie gesprochen wird, sind de facto natürlich nichts anderes als die subsidiären Mühen der Frau gemeint.
(26) Für ein Entwicklungsregime, das einen auf abstraktes Wachstum und die Erzeugung monetarisierten Reichtums ausgerichteten Modernisierungsprozeß in Gang setzte, war das Nationaleigentum an Grund und Boden die adäquate Form. Für jede zentralstaatlich operierende Administration kam es nur darauf an, »parasitäre« feudale Schichten auszuschalten und gleichzeitig Grund und Boden in ein überall gleichermaßen der (staatlich organisierten) arbeitsgesellschaftlichen Entjungferung zugängliches Terrain zu verwandeln. Eine Gesellschaft, die nicht ihre eigene Unterwerfung unter die überall gleiche Abstraktion plant, sondern ihren konkreten stofflichen Vernetzungszusammenhang, muß dagegen die Verfügungsgewalt über Grund und Boden im wesentlichen auf die Ebene kommunaler Selbstorganisation verlegen. Die Kommune bildet die Grundeinheit bei der Regulation des gesellschaftlichen Vernetzungszusammenhangs, und in ihre Kompetenz muß daher auch die Zuteilung der allgemeinsten Produktions- und Lebensgrundlage fallen. Kommune meint hier natürlich nicht allein die städtische Agglomeration, sondern auch das dazugehörige ländliche Umfeld.
(27) Wahrscheinlich können die Ansätze von Selbstorganisation nicht nur mit dem ungleichen Partner der staatlichen Notstandsverwaltung partiell kooperieren, sondern auch mit krisengeschüttelten, auf Warenproduktion ausgerichteten Unternehmen. Es würde an dieser Stelle allerdings zu weit vorgreifen, die sich dabei ergebenden Möglichkeiten und Schwierigkeiten auch nur zu skizzieren.
(28) Selbstredend würde sich auf solch einer Grundlage auch das Verhältnis zwischen Klientel und professionell Beschäftigten gründlich verändern. Wo heute auch im sozialen Bereich Exekutoren an ihren Arbeitsgegenständen Arbeitsquanten verrichten, also die allgemeine arbeitsgesellschaftliche Logik selbst auf diesem Gebiet noch Urständ feiert, fällt ohne diesen von der Geldlogik aufgeherrschten Bezugsrahmen die fixierte Rollenzuteilung von Arbeitssubjekt und Arbeitsgegenstand in vielen Bereichen fort.
(29) Dieser Gesichtspunkt ist nicht mit der edlen, jedoch seltenen Gabe des Altruismus gleichzusetzen. Zu den notwendigen Ressourcenflüssen gehört natürlich auch das Auskommen der in diesen Bereichen Beschäftigten selber. Es ist selbstverständlich, daß für sie eine angemessene Lebensführung möglich sein muß, und wo das gesellschaftliche Umfeld sich in vieler Hinsicht nach wie vor über Geld vermittelt, schließt das ebenso wie auf der Ebene des Gesamtbetriebs auch in der individuellen Reproduktion monetäre Zuflüsse ein. Dennoch könnte ein radikaler Bruch mit dem abstrakten Leistungsdenken und mit der abstrakten Selbstverwertung stattfinden. Das Krankenhauspersonal in unserem Beispiel kämpft nicht um »seine Arbeitsplätze«, um das Recht also, bloß irgendwie weiterhin an der Vernutzungsbewegung zu partizipieren; vielmehr geht es darum, alle Voraussetzungen einer stofflich notwendigen gesellschaftlichen Funktion zu gewährleisten. Das beginnt aber eben gerade auch mit der Reproduktion der engagierten Menschen.
(30) Die Proportionen lassen sich an einem Beispiel verdeutlichen. Die Stadt Nürnberg muß derzeit 104 Millionen Mark für die Hilfe zum Lebensunterhalt aufbringen. Die Stadtverwaltung schätzt, daß mit der Befristung der Arbeitslosenhilfe während des Jahres 1995 in ihrem Zuständigkeitsbereich 2400 Personen zusätzlich in die Sozialhilfe abrutschen und daher eine Belastung von weiteren 24 Millionen Mark auf den Stadtsäckel zukommt (dabei hat die Stadtverwaltung die zusätzlichen jährlichen Durchschnittsausgaben auf nur 10.000 DM pro Kopf veranschlagt!). Für das Jahr 1996, wenn voraussichtlich noch einmal 1300 Langzeitarbeitslose in den Sozialhilfebereich fallen, rechnet sie mit Mehrausgaben von bereits 44 Millionen DM.
(31) Solange die Bundesbahn als Staatsunternehmen firmierte, fiel ihr die Aufgabe zu, Bahnunterführungen und -übergänge instandzuhalten. Sie mußte diesen Ausgabenposten aus ihren laufenden Einnahmen bzw. aus Bundeszuschüssen bestreiten. Mit der Privatisierung ist das nunmehr auf marktwirtschaftliche Windschnittigkeit getrimmte Unternehmen Deutsche Bahn-AG aus dieser Verpflichtung entlassen, und an seiner Stelle müssen die Gemeinden in die Bresche springen. Für eine größere Stadt bedeutet das jährliche Mehrausgaben in Millionenhöhe. Für eine Kommune, deren finanzieller Manövrierspielraum längst gegen Null geht, ist das kein Kinkerlitzchen.