31.12.1998 

Brothers in Arms

Über die heimliche Verwandtschaft von Traditionsmarxismus und Postmodernismus

aus: Jungle World 29.7.1998

Norbert Trenkle

Nichts läßt sich leichter demontieren als ein selbstkonstruierter Popanz. Wer wollte etwa widersprechen, wenn Günther Jacob (in Jungle World 6/98, S. 15) “linke Erklärungsansätze” kritisiert, “die den ökonomischen Beziehungen eine fast vollständig determinierende Wirkung auf die sozialen Strukturen der Gesellschaftsformationen zuschreiben”. Aber wen oder was meint er damit? Jacob stellt dies sogleich klar: Seine Polemik zielt ganz unmißverständlich auf die traditionsmarxistische Ideologie vom vorgeblich systemtranszendierenden oder “antagonistischen” und “objektiven” Interessenstandpunkt “der Arbeiterklasse”, die, wie er uns erläutert, eine schlechte Abstraktion ist. Nun wäre das nicht viel mehr als der x-te Aufguß einer zwar richtigen, aber nicht mehr besonders neuen Erkenntnis und daher Grund genug, den Artikel gelangweilt beiseite zu legen, verfolgte Jacob damit nicht einen ganz anderen Zweck. Wo er nämlich den Sack schlägt, meint er den Esel. Wo er (auf freilich entlarvend flache Weise) den Klassenkampfmythos kritisiert, will er in Wirklichkeit jede Form von Ökonomiekritik und vor allem jede Kritik des Warenfetischs desavouieren, ohne sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen. Und wo er gegen Determinismus und Ableitungsdenken polemisiert, da geht es in Wahrheit gegen jeden Versuch, die kapitalistische Gesellschaft als negative, vom Wert konstituierte Totalität zu denken.

Jacob scheint allen Ernstes zu glauben, damit althergebrachte linke Tabus zu brechen und womöglich gar der Gesellschaftskritik neue Horizonte zu eröffnen. Doch beweist er vor allem eines: wie sehr er selbst noch dem Traditionsmarxismus verhaftet ist. Der konnte nämlich ebenfalls noch nie etwas mit der Kritik des Warenfetischismus anfangen und hat daher dieses Zentrum der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie entweder gleich ganz ignoriert oder in grotesker Weise verkürzt. Noch der angeblich so reflektierte Althusser, auf den sich ein großer Teil der postmodernen Linken bezieht, empfahl in seinem zusammen mit Balibar verfaßten Buch Das Kapital lesen (1969), den Abschnitt über den Fetischcharakter der Ware am besten zu überspringen, da es sich dabei ohnehin nur um “metaphysisches” und “unwissenschaftliches” Gemurmel handle – was nichts über Marx, aber alles über die positivistische Metaphysik-Kritik von Strukturalismus und Poststrukturalismus aussagt. Fast der gesamte Marxismus ist schon lange vor Althusser nach dieser Devise verfahren (und mit ihm seine Kritiker), d.h. er hat die Marxsche Kritik immer erstens als positive ökonomische bzw. soziologische Theorie gelesen, die zweitens um die Frage des Klassenkampfes zentriert ist. Es würde zu weit führen, hier zu erläutern, inwiefern Marx selbst noch dieser Interpretation Vorschub geleistet hat (1); jedenfalls entsprach sie dem ideologischen Bedürfnis der Arbeiterbewegung, die als Repräsentanz der Ware Arbeitskraft (oder anders gesagt als Charaktermaske des “variablen Kapitals”) keinesfalls die gesellschaftlichen Voraussetzungen ihrer eigenen Existenz (nämlich die verallgemeinerte Warenproduktion) in Frage stellen konnte, sondern im Gegenteil als einer der wichtigsten Agenten des kapitalistischen Modernisierungsprozesses geschichtswirksam geworden ist. Am fetischistischen Wertverhältnis interessierte sie immer nur der Mehrwert, also jener Teil der im Geld inkarnierten abstrakten Arbeit, den sich die betriebswirtschaftlichen Verwertungseinheiten bzw. deren Repräsentanten aneignen. Als Skandal galt ihr nicht, daß im Kapitalismus aller gesellschaftliche Reichtum nur in der Gestalt von abstrakten “Arbeitsquanten” und deren irrationalen gesellschaftlichen Darstellungsformen erscheinen kann, daß also die Selbstzweckmaschinerie der Verwertung des Werts jedem bestimmten Inhalt gegenüber gleichgültig ist und die menschlichen Beziehungen sich in Beziehungen von Sachen verwandeln. Skandalös war für den Arbeiterbewegungsmarxismus vielmehr nur der (weitgehende) Ausschluß der Arbeiterklasse von diesem negativen und abstrakten Reichtum, also der vermeintliche Raub des mühsam erschufteten Mehrwerts.

Dieser rein auf das Problem der Wertaneignung innerhalb des als selbstverständlich vorausgesetzten warenproduzierenden Systems beschränkte Standpunkt verdient nun wirklich das Attribut “ökonomistisch”, und zwar in dem ganz engen und bornierten Sinne eines unmittelbaren Interessen-Ökonomismus: Das “Klasseninteresse” ist danach nur oder jedenfalls primär ein ökonomisches, wird also von der Stellung im Produktionsprozeß bestimmt und richtet sich auf die Aneignung der “Früchte” dieses Prozesses, von deren fetischistischer Form abgesehen wird. Genau genommen handelt es sich also nicht um “Ökonomismus” schlechthin, sondern um einen ökonomistisch verengten Klassenkampfstandpunkt, also um eine doppelt verkürzte Kapitalismuskritik, die in der Regel noch nicht einmal von einer ernstzunehmenden Analyse der ökonomischen Entwicklung flankiert wurde, sondern sich auf die schematische Wiederholung einiger weniger Passagen aus der Marxschen Theorie beschränkte, die sie meinte verstanden zu haben.

Da diese Borniertheit aber selbst einem theoretisch Blinden auffallen mußte, gab es im Marxismus seit jeher eine Kritik des “Ökonomismus”, allerdings nicht als Kritik der warenförmigen Vergesellschaftung, sondern als bloß äußerliche “Ergänzung” des unhinterfragten “objektiven Klassenstandpunkts”. Als begriffliches Instrumentarium diente hierfür die Unterscheidung zwischen “Basis” und “Überbau”, die Marx selbst eingeführt hatte, um (auf eine allerdings äußerst fragwürdige und mißverständliche Art und Weise) das Verhältnis zwischen dem Wert als widersprüchlichem Vergesellschaftungsprinzip und den davon konstituierten Bewußtseinsformen zu charakterisieren. Im Main-Stream-Marxismus wurde daraus kurzerhand das Verhältnis von ökonomischer Sphäre bzw. ökonomischem Klasseninteresse und dem “Rest” der gesellschaftlichen Strukturen gemacht. Um jedoch den ökonomistischen Fallen zu entgehen, die diese Verkürzung notwendig mit sich bringt, wurde die Figur von der “relativen Selbständigkeit des Überbaus” eingeführt. Diese vom alten Engels in die Welt gesetzte Scheinlösung des Problems eröffnete den Weg für die endgültige Soziologisierung und positivistische Verplattung des Marxismus. Nun war es möglich, die zur positiven Ökonomietheorie sterilisierte Kritik der Politischen Ökonomie mehr oder weniger beliebig zu “ergänzen”, ohne sich mit der Kernfrage nach der warenförmigen Konstitution ernsthaft auseinandersetzen zu müssen (2). Der Marxismus konnte auf diese Weise sogar zu einigen Ehren im akademischen Betrieb gelangen, der ihn erst sorgfältig entschärfte, um ihn dann für obsolet zu erklären.

Mit der Zeit erwies sich, daß diese ergänzenden Anbauten genau so gut oder sogar besser für sich alleine stehen konnten, denn der Anspruch, jedes Thema (vom Geschlechterverhältnis bis zur Piraterie des 13. Jahrhunderts) immer “irgendwie” auf den “Klassenwiderspruch” beziehen zu müssen, war reichlich einengend und blockierte weitergehende Fragestellungen bzw. Orientierungen. Die bloße Addition des systemimmanenten “ökonomischen Klasseninteresses” mit anderen positivistisch konstatierten Widerspruchs- und Konfliktlinien machte umso weniger Sinn, je weiter diese selbst wieder in sich ausdifferenziert wurden. Schon der Anspruch, aus der Verknüpfung der Kategorien Klasse, “Ethnie” und Geschlecht ein einigermaßen kohärentes Emanzipationsinteresse und -subjekt zu konstruieren, erwies sich als uneinlösbar; und zwar umso mehr, je weiter diese Kategorien empirisch heruntergebrochen wurden. Doch wenn mit der Loslösung vom starren “ökonomischen” Klassenparadigma zunächst einmal tatsächlich (wenigstens partiell) neue Erkenntnisse gewonnen werden konnten, so war der Preis hierfür der Verlust gesellschaftskritischer Kohärenz, also der Übergang zu blankem Positivismus und Empirismus.

Die zunächst noch als Ausdifferenzierung und Vertiefung von bestimmten Problemkreisen gedachte Hinwendung zum Einzelnen und Besonderen wurde alsbald zum Selbstzweck und geriet zum Rückzug ins Mikrologische, zu einer der vielen Varianten von Realitätsflucht der 80er und 90er Jahre. Erkenntnistheoretisch wurde dieser Trend eingeläutet und sekundiert durch eine Kulturalisierung des Sozialen und eine Reduktion von Gesellschaftskritik auf Sprachtheorie. Der vermeintliche Ausbruch aus dem marxistischen Basis-Überbau-Schema war also nichts anderes als ein Ausweichen in eine andere Abteilung des gleichen Schemas und reproduzierte die alten Verkürzungen bloß spiegelbildlich. Es verwundert daher auch nicht, daß mit dem derzeit sich andeutenden Pendelschlag zurück in die andere Richtung ausgerechnet das unaufgearbeitete traditionsmarxistische Klassenkampfparadigma – die “Basis” – wieder zu gewissen Ehren kommt.

Wie wenig sich die postmoderne Linke von den ideologischen Essentials des systemimmanenten Modernisierungs-Marxismus je lösen konnte, und sei es nur als Karikatur, veranschaulicht auf geradezu amüsante Weise Günther Jacob, wenn er mit der größten Selbstverständlichkeit die ebenso alte wie platte Engelssche Floskel von der “relativen Selbständigkeit des Überbaus” bemüht: “Einerseits gründet sich auf der Form, in der unbezahlte Mehrarbeit abgepreßt wird, die ganze Gestaltung des Gemeinwesens, andererseits können auf derselben ökonomischen Basis ganz verschiedene Varianten von Gesellschaft existieren, die nur durch Analyse dieser empirisch gegebenen Umstände zu begreifen sind” (a.a.O.; Hervorheb. N.T.). Diese “Basis” freilich, so erfahren wir gegen Ende des Artikels, ist eigentlich nichts anderes als ein Produkt des “Überbaus”, denn die “Gegenstände der Politischen Ökonomie stecken nicht etwa in den von ihr benannten Objekten (etwa >Wachstum<), sondern sie werden durch den Diskurs der Ökonomen (Universität, Bücher, Wirtschaftsteil der Zeitung etc.) erst definiert und objektiviert” (ebd.; Hervorheb. N.T.). Eine derartige einfache Umstülpung des Basis-Überbau-Schemas übertrifft nun wirklich an Absurdität alles, was selbst noch die neoklassische Volkswirtschaftslehre behauptet, für die der Wert einer Ware sich aus individuellen Nutzenkalkülen, subjektiven Wertschätzungen und dem freien relativistischen Spiel von Angebot und Nachfrage ergibt; eine harmonistische Weltsicht, in der die objektivierten inneren Widersprüche, die Destruktivität und die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus selbstverständlich keinen Platz haben.

Jacob sitzt noch der dümmsten Apologetik des Kasinokapitalismus auf, wonach “alles Psychologie ist”, und verpaßt ihr mit seiner diskurstheoretischen Saisonfarbe auch noch den Anstrich von Gesellschaftskritik. Der Selbstverwertungszwang des Kapitals und die Zurichtung von Mensch und Natur auf die Anhäufung abstrakter “Arbeitsquanten” sollen demnach nur das Resultat bestimmter Vorstellungen sein, die es folglich durch eine “fortwährende Aktivität kommunikativer Praxen” (ebd.) zu verändern gilt (3). Soweit waren die grünen Realos der 80er Jahre auch schon mal, als sie nicht mehr von den fetischistisch objektivierten kapitalistischen Zwangsgesetzlichkeiten reden wollten, nur um sie endlich selbst exekutieren zu dürfen. Freilich fragt sich dann, wieso Jacob überhaupt noch von “Basis” und “Überbau” schwadroniert, wo er doch selber die in diesen Begriffen auf allerdings schräge Weise angedeutete Ebenendifferenz bereits im allgegenwärtigen “Diskurs” auslöscht und damit bloß eine zum Ableitungsdenken des Traditionsmarxismus seitenverkehrte Position einnimmt, ohne die alte positivistisch-soziologische Verkürzung überwinden zu können.

Es könnte nun dem ökonomiekritisch abgerüsteten postmodernen Bewußtsein vielleicht so erscheinen, als sei die Kritik des Warenfetischismus nur eine Art Ökonomismus für Anspruchsvolle. Diese apologetische, am entscheidenden Problem vorbeizielende Sichtweise, die Main-Stream-Marxismus und Postmodernismus verbindet und die auch Jacob wie selbstverständlich vertritt (so sehr unterscheiden sich die beiden “Universen” also doch wieder nicht), verwechselt jedoch die eigene theoretische Ignoranz mit der abgewehrten Position der Wertkritik. Wert und Warenform sind nämlich keinesfalls einfach ökonomische Kategorien, die auf die entsprechende Sphäre beschränkt wären, sondern das allgemeine, übergreifende Konstitutionsprinzip einer spezifischen Form der Vergesellschaftung, deren Grundcharakter es ist, ein in sich zerissener Zusammenhang zu sein – das Paradoxon einer ungesellschaftlichen Gesellschaftlichkeit, das sich eben nicht bloß als “ökonomischer” Widerspruch darstellt.

Diese vor jedem “Diskurs” objektivierte strukturelle Zerrissenheit zieht sich ausnahmslos durch alle gesellschaftlichen Sphären. Sie drückt sich erstens im Auseinanderfallen der Gesellschaft in gegeneinander isolierte abstrakte Individuen aus, die zwar aufeinander angewiesen sind und bezogen bleiben, aber nur in der negativen Form der Konkurrenz und der wechselseitigen Instrumentalisierung. Voraussetzung dieser abstrakten Individualität ist die Verwandlung aller Menschen in Käufer- und Verkäufersubjekte; und dies wiederum ist nur auf kapitalistischer Grundlage möglich, also unter der allgemeinen Bedingung, daß die Arbeitskraft in eine Ware verwandelt worden ist. Weit davon entfernt, eine reduzierte “wirtschaftliche” Interessenform zu sein, erscheint die abstrakte Individualität in der Politik wie in der Ökonomie, in der Wissenschaft wie in der Massenkultur, im Sport wie in der Liebe. Sie ist die allgemeine Subjektform und macht die gesellschaftliche Totalität der verschiedenen Handlungsbereiche aus, die eben nicht als ein zusammenhangloses Sammelsurium von “Sektoren” eklektisch nebeneinander herwursteln, sondern lediglich qualitativ verschiedene Gegenstandsbereiche derselben Subjektivität darstellen.

Zweitens sind die abstrakten Individuen aber auch in sich selbst zerrissen, und zwar grundsätzlich zunächst einmal in ein rationales, kalkulierendes und konkurrentes Öffentlichkeits-Subjekt einerseits und in ein “irrationales”, emotionales und “formloses” Privatheitswesen andererseits: eine Spaltung, die in einer langen geistes- und realgeschichtlichen Entwicklung jeweils die Gender-Kategorien “männlich” und “weiblich” besetzt hat und so zum Grundraster der dichotom-hierarchischen modernen Geschlechterordnung geworden ist (4). Drittens, ergänzend und parallel zu diesen beiden ersten Spaltungen, zerfällt schließlich das, was in nicht-warenförmigen Gesellschaften die mehr oder weniger kohärente Einheit des Lebenszusammenhangs bildete, erst in jene separaten und doch zusammengehörigen, gegeneinander verselbständigten und doch aufeinander bezogenen, in sich wiederum zersplitterten und sich gleichzeitig überlappenden Sphären wie Arbeit, Freizeit, Religion, Kultur, Politik, Ökonomie, Öfffentlichkeit und Privatheit etc.(5) Was also dem positivistischen Bewußtsein, das den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, als eine Ansammlung von ebensovielen unabhängigen gesellschaftlichen Feldern erscheint, ist in Wahrheit eine aus dem übergreifenden Wertverhältnis und seiner Dynamik heraus gesetzte Aufspaltung.

Nachdem sie einmal herausgebildet wurden, besitzen diese gesellschaftlichen Sphären zwar eine gewisse Eigenlogik; aber sie bleiben Momente einer gesamtgesellschaftlichen Bewegungsdynamik des Werts, auch wenn sie niemals in der unmittelbaren Warenproduktion aufgehen. Das Charakteristische dieser gesellschaftlichen Konstitution ist gerade ihre innere Widersprüchlichkeit und Gebrochenheit. Das heißt zunächst einmal, daß keinesfalls immer alle Ereignisse oder Entwicklungen in einem direkten Sinne funktional oder zweckrational auf den real-abstrakten Zweck der Verwertung des Werts ausgerichtet sein müssen; und dies nicht, weil Menschen sich nun mal irren können, sondern weil die verschiedenen Sphären als getrennte nur vermittelt aufeinander bezogen sein und sich zumindest partiell gegeneinander verselbständigen können, ohne deshalb aufzuhören, Momente eines Ganzen zu sein. Die Ignoranz des Postmodernismus besteht gerade darin, daß er dieses Ganze wegblendet und sich nur noch für die diversen “Eigenlogiken” interessiert.

Sicherlich können bestimmte politische Entscheidungen oder Prioritätensetzungen durchaus gegen die Gesetze der warenökonomischen Vernunft verstoßen – ohne daß sie freilich in der Lage wären, diese selbst außer Kraft zu setzen und sich nicht mehr an ihr messen zu lassen. Ebenso können bestimmte ideologische Muster und kollektiv-identitäre Fixierungen wie Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus, obwohl strukturell kapitalistisch konstituiert, in bestimmten historischen Konstellationen und Situationen durchaus dysfunktional für den reibungslosen Verwertungsablauf werden; insbesondere dort, wo sie sich (etwa in Reaktion auf eine ökonomische, politische oder soziale Krise) “fundamentalistisch” verselbständigen und eine unkontrollierte Eigendynamik gewinnen. Das einbrechende Irrationale ist aber, wie wir spätestens seit der Dialektik der Aufklärung wissen, nicht etwa die Rückkehr eines phantasierten “Archaischen”, das durch “Vernunft” gebannt werden könnte, sondern nur die andere, abgespaltene Seite dieser Vernunft selbst, die ihrerseits nichts anderes ist als die Binnenrationalität eines auf einen irren Selbstzweck programmierten historischen Systems. Dennoch oder vielmehr gerade als solches bleibt das Irrationale der bürgerlichen Rationalität letztlich unberechenbar und irreduzibel.

Hinzu kommt noch, daß die verschiedenen warengesellschaftlichen Momente und Sphären in sich und in ihrem Verhältnis untereinander keinesfalls fixiert sind. Sie bildeten sich in einem langen historischen Prozeß erst heraus, in dessen Verlauf sie durchaus immer wieder qualitativen Veränderungen unterlagen. So kann man etwa sagen, daß die Spaltung in Privatheit und Öffentlichkeit (und damit einhergehend der Prototyp des bürgerlichen Geschlechterverhältnisses) bereits in den Handelsstädten des europäischen Mittelalters entstand; dennoch ist die bürgerliche Familie dieser Zeit selbstverständlich nicht identisch mit der metropolitanen Kleinfamilie des 20. Jahrhunderts. Das Resultat des Durchsetzungsprozesses der Warenform stand zwar keinesfalls von Anbeginn an fest, wie es den Begriffen der Hegelschen Geschichtsphilosophie entspräche, dennoch verlief dieser Prozeß auch nicht einfach kontingent. Je mehr ideologische und institutionelle Weichen gestellt wurden, desto schneller und unaufhaltsamer kam der kapitalistische Zug ins Rollen, desto enger wurde der Spielraum für abweichende Entwicklungen, bis schließlich etwa gegen Mitte des 19. Jahrhunderts in West- und Mitteleuropa eine innere warengesellschaftliche Kohärenz weitgehend hergestellt war. Damit freilich war nun keinesfalls das “Ende der Geschichte” erreicht. Auch auf seiner eigenen Grundlage bleibt der Kapitalismus eine historische Formation, denn er ist seinem Wesen nach beständige Bewegung. Stillstand wäre sein Ende; und gerade diese Rastlosigkeit des “automatischen Subjekts” (Marx) macht seine Destruktivität aus – verweist zugleich aber auch auf die historischen Grenzen dieser Vergesellschaftungsform.

In diesem Sinne könnte man Jacob wenigstens insofern recht geben, als er gegenüber Positionen, von denen die Historizität des Kapitalismus (und seine Binnengeschichte qualitativer Veränderungen) zugunsten einer starren wesenslogischen Analyse ausgestrichen wird, scheinbar eine Art historische Sichtweise einklagt. Solche Positionen, wie sie etwa in der Zeitschrift Bahamas oder von der Freiburger Initiative Sozialistisches Forum (ISF) vertreten werden, beschreiben die Warengesellschaft als eine immer schon hermetisch in sich abgedichtete Totalität, die “geschichtslos vor sich hinstolpert” (Nachtmann)(6). Geschichte existiert für sie nur als oberflächliche Ereignisgeschichte innerhalb der selbst-identischen Warentotalität; deren Struktur und Konstitutionsprinzipien bleiben jedoch (nachdem sie einmal irgendwie in die Welt kamen) von jeder historischen Entwicklung unberührt. Daher erübrigen sich dann auch konkrete Untersuchungen der warengesellschaftlichen Wirklichkeit und ihrer Veränderungen. Was es über sie zu sagen gibt, wurde schon lange vorher gesagt (insbesondere von Marx und Adorno, deren Schriften Clemens Nachtmann in Bahamas 22 und Jungle World 9/98 zur “Orthodoxie” erklärt) und kann daher auch immer nur wiederholt werden. Ideologiekritik verkommt so zu Aufklärung im schlechtesten Sinne des Wortes, zur Verkündigung immer schon gültiger Wahrheiten; was zu tun bleibt, ist, die Menschen immer wieder mit der Nase darauf zu stoßen. Ein notwendiges Moment von Emanzipation, nämlich die Einsicht in die Verrücktheit der Verhältnisse, wird so aus jeder Vermittlung mit realgesellschaftlichen historischen Prozessen herausgelöst und damit entwirklicht.

Diese altaufklärerische Variante einer unhistorischen Wertkritik verhält sich im Grunde genommen nur spiegelbildlich zu dem von ihr so heftig attackierten Positivismus. Der braucht bloß die hermetische wesenslogische Begrifforthodoxie wegzustreichen – und schon befindet er sich auf der damit unvermittelten Ebene der blanken Ereignisgeschichte; jenseits dieser Ebene gibt es für ihn ex definitione ohnehin nichts. Jacob eliminiert das Wesen und wird scheinhistorisch nur auf der Ebene der “vor sich hinstolpernden” Erscheinungen. Damit wird aber Geschichte nicht etwa in die Betrachtung zurückgeholt, sondern in der zusammenhangslosen Differenzierung ausgelöscht. Sie zerfällt in lauter für sich seiende und prinzipiell kontingente Jeweiligkeiten, über die sich allenfalls noch sagen läßt, wie sie mikrologisch und an der Oberfläche miteinander verkettet sind. Nach ihrer Beziehung zum warengesellschaftlichen Gesamtprozeß kann aber nicht mehr gefragt werden. Wie Bahamas/ISF einen ahistorischen Hermetismus des Wesens vertreten und die Geschichte zur vernachlässigenswerten Unerheblichkeit bloß äußerer Erscheinungen herabstufen, so verfährt Jacob umgekehrt, ohne die Polarität der gemeinsamen ideologischen Konstellation zu verlassen.

Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist, wie Jacob mit dem Phänomen des Rassismus umgeht. Dieser gerät ihm zum unmittelbaren Produkt von “Diskursen”, die aus anscheinend völlig schleierhaften Gründen gegen Mitte des 19. Jahrhunderts aufkamen. Aus der kapitalistischen Durchsetzungslogik, so erfahren wir, lassen sie sich nicht “ableiten” (was bei Jakob immer heißt, sie überhaupt stringent darauf zu beziehen), denn dann könnten angeblich die ständigen historischen Veränderungen des Rassismus in den letzten 150 Jahren nicht erklärt werden. Das ist aber nur ein ziemlich billig konstruiertes Scheinargument. Denn wenn wir den Kapitalismus als historische Wesensbewegung statt als hermetisch-starres Wesen begreifen, dann versteht es sich von selbst, daß auch der Rassismus bestimmten Wandlungen unterliegt, ohne doch deshalb aufzuhören, kapitalistisch konstituiert zu sein. Der Rassismus der 1980er und 1990er Jahre unterscheidet sich sicherlich in mancher Hinsicht von dem des 19. Jahrhunderts, doch seinem Wesen nach bleibt er die “identitätspolitische” Verlängerung und Projektion der verallgemeinerten Konkurrenzbeziehung. Gerade seine ideologischen Akzentverschiebungen verweisen darauf. Kein Zufall ist es etwa, daß der rassistische Diskurs im Zeitalter der globalen Verwertungskrise und der sozial-ökonomischen Abkopplung riesiger Weltregionen auf Ausschluß und Segregierung und nicht mehr auf altimperialistische Unterwerfung bzw. Annektion zielt.

Dem postmodernen linken Positivismus, der sich von dem eines honorigen Sir Karl Popper letztlich nur durch das buntscheckigere Outfit und die sprachtheoretische Schlagseite unterscheidet, mögen solche Erwägungen als “metaphysisch” erscheinen. Doch zeigt er damit nur, daß er längst vor dem historisch höchst realen Fetischismus der kapitalistischen Wirklichkeit kapituliert hat. Den immer wieder beschworenen Anspruch der “Kontextualisierung” kann er nie einlösen, weil er den wesentlichen Kontext, die warenförmige Vergesellschaftung, nicht mehr radikal kritisch benennen will und kann, sondern deren völlig unaufgearbeitete, verkürzte Begrifflichkeit als Entsorgungsmasse seiner eigenen traditionsmarxistischen Vergangenheit im Hinterkopf versenkt hat. Von wo aus sie dann gelegentlich ins postmoderne Diskursgeplapper einsickert, was dann halt auch wieder nur irgendeine Diskursverschiebung bedeutet; man/frau kommt ganz schön herum dabei. In diesem Sinne werden Jacob u.a. neuerdings geständig, wenn sie (in Jungle World 15/98, S. 16 f.) z.B. den Marxschen Substanzbegriff der abstrakten Arbeit, mit dem die Kritik der politischen Ökonomie steht und fällt, ausdrücklich als Produkt einer “scholastischen Disputationskunst” verwerfen (das Wort “Substanz” ist von Übel, da ist der bierernste Dekonstruktivist dogmatischer als jeder Stalinist) – gleichzeitig aber gut altmarxistisch “interessenökonomisch” es sich pragmatischerweise nicht nehmen lassen wollen, daß “alle kapitalistische Zivilisation auf der Abpressung von Mehrarbeitszeit beruht” (ebd.).

Da wird die eigene späte Entdeckung, daß jede Theorie begrenzt, unabgeschlossen usw. ist, zur Rechtfertigung einer “gelassenen” Inkohärenz im beliebigen Umgang “mit den Fragmenten von Marx bis Foucault” (ebd.) – also genau der Haltung, die theoretische Kritik verunmöglicht und den Begriff banal subjektiviert wie die Grenznutzenschule den Wert. Die systematische Unfähigkeit, die radikale Kritik auf die Ebene des “automatischen Subjekts” zu heben, verwandelt sich in ein neckisches Spielchen, das diesen Begriff mit positivistischem Zwinkern zum “totalen Unsinn” (ebd.) erklärt, ihn aber gleichzeitig als diskursives “Rätsel” goutiert, das “neugierig macht” (ebd.) und vielleicht einen gewissen Unterhaltungswert zur Vertreibung der gähnenden Langeweile haben könnte. Welches Narrenhütchen darf es denn sonst noch sein? Und vor dieser theoretischen Vogelscheuche eines Mitleid erregenden Eklektizismus soll die “Furcht” umgehen (Jungle World 11/98, S. 15)? Da pfeifen wohl eher die kleinen Postmodernisten, die ihr mangelndes Abstraktionsvermögen zur Tugend der neuen theoretischen Bescheidenheit verklärt haben, selber im finsteren Wald.

So verwundert es auch nicht, daß die “Dekonstruktion” schließlich doch immer wieder verschämt und gewunden jene erzbürgerlichen Prinzipien beschwört, die sie doch vorgeblich längst verworfen hat. Wie drückt es Derrida in der Zeit vom 5.3.98 aus? “Es gibt eine irreduzible Kluft, eine unwiderlegbare Unangemessenheit zwischen der Idee der Demokratie und dem, was sich in Wirklichkeit unter diesem Namen darbietet. […] Wenn ich trotzdem an diesem alten Namen der Demokratie festhalte und häufig von der kommenden Demokratie spreche, dann aus folgendem Grund: Es ist der einzige Name einer politischen Regierungsform, die in ihrem Begriff die Dimension des Inkommensurablen und des Zu-Kommenden trägt. Die Demokratie ist eine Regierungsform, die damit ihre Historizität und ihre Perfektibilität zum Ausdruck bringt. Sie erlaubt uns im Prinzip, diese beiden Öffnungen in aller Freiheit öffentlich anzusprechen. So können wir den aktuellen Zustand der sogenannten Demokratie kritisieren”. Willkommen zuhause in der ewigen Warengesellschaft, alles so schön bunt hier!

Exkurs: Die Dekonstruktion der Gesellschaftskritik

Ihrer inneren Logik gemäß strebt die kapitalistisch verallgemeinerte Wert- und Warenform danach, sich die gesamte Welt einzuverleiben und sie in ein Produkt ihrer selbst zu verwandeln. Und das bedeutet der Bewegungsrichtung nach nichts anderes als den absurden Versuch, jeden qualitativen Inhalt auszulöschen und die Welt in reine abstrakte Form zu verwandeln. Dies macht den negativen, gespenstischen und dennoch höchst realen Universalismus von Ware und Wert aus. Die Universalismuskritik des Dekonstruktivismus scheint so gesehen zunächst einmal durchaus berechtigt, doch verkehrt sie sich sogleich wieder in Affirmation. Denn ein “Zentrum der Struktur” (genauer müßte man sagen: ein gesellschaftliches Konstitutionsprinzip) existiert für Derrida und seine modephilosophischen Rezipienten nicht in objektivierter Form, sondern nur in den “metaphysischen Diskursen” der abendländischen Moderne, die sie zu “dekonstruieren” ja angetreten sind. Das “nur” muß hier übrigens in Anführungsstriche gesetzt werden, da es den erkenntnistheoretischen Prämissen des Dekonstruktivismus gemäß gar keine vordiskursive bzw. außersprachliche Realität gibt oder wir zumindest nichts darüber aussagen können. Der sprachlichen “Konstruktion” des “metaphysischen Zentrums” und der daraus abgeleiteten Universalismen wird daher durchaus reale Wirkung zugesprochen. Ganz in idealistischer Tradition wird diese zur Ursache des Problems: sie zeichnet verantwortlich für die Auslöschung von “Differenz”. Nicht weiter problematisch wäre es, beschränkte der Dekonstruktivismus sich dabei auf immanente philosophie- und theoriegeschichtliche Untersuchungen. Denn selbstverständlich wird der Wert auch in der Sphäre des philosophischen und theoretischen Denkens wirksam, und zwar nicht in jenem grobschlächtigen Sinne der traditionsmarxistischen “Widerspiegelungstheorie”, sondern als Konstitutionsprinzip auch einer spezifischen Denkform. Insofern ist diese Sphäre des reflexiven Denkens ein durchaus aktives Moment der warengesellschaftlichen Durchsetzungs- und Totalisierungsbewegung und muß deshalb als solches ernstgenommen und in die Kritik einbezogen werden.

Doch das ist gerade nicht das Programm des Dekonstruktivismus. Klammheimlich repressiv und antiemanzipatorisch wird er darüber, daß er seine Halb- und Viertelwahrheiten zu einem durchaus selber wieder universalistisch und totalitär zu nennenden Paradigma verdichtet. Sein selbstgefälliges Differenz- und Offenheitsgerede ist durch und durch verlogen, denn ganz selbstverständlich setzt er das eigene theoretische Universum bereits tautologisch voraus, das er obendrein (auf freilich durchsichtige Weise) gegen Kritik immunisiert, indem er jeden Allgemeinheitsanspruch von sich weist .(7) Wo dieses Universum kritisiert wird, wo er sich in seiner (angeblich längst dekonstruierten) Identität bedroht fühlt, versteht der Dekonstruktivismus keinen Spaß. Wer etwa darauf beharrt, daß der abendländische abstrakte Universalismus keinesfalls im “Diskurs” aufgeht (wie weit man diesen auch fassen mag), sondern in der objektivierten Warenform sein historisch gewordenes und daher auch praktisch aufhebbares Konstitutionsprinzip findet, hat sich der postmodernistischen Immunisierungsstrategie gemäß bereits als Liebhaber, ja als diskursiver Komplize und Mitverursacher dieses Prinzips entlarvt (bei Jacob sind ja auch die Kritiker der kapitalistischen Zwangsgesetze gerade durch die Formulierung der Kritik auf der Ebene des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs für diese Zwänge “diskursiv” verantwortlich). Im Endeffekt läuft dies darauf hinaus, daß der gesellschaftliche Skandal negativer Totalität nicht benannt werden darf und daher auch weder theoretisch noch praktisch angegriffen werden kann. Die Dunkelheit in den Formulierungen von Derrida oder Judith Butler ist nicht den Schwierigkeiten der Annäherung an ein in der Tat schwer zu begreifendes Problem geschuldet, sondern im Gegenteil Ausdruck einer großangelegten Tabuisierungsaktion. Die dekonstruktivistischen Diskursschwaden vernebeln, was bloßzustellen und anzugreifen wäre. Die Hermetik, die der dekonstruktivistische linke Modediskurs an der Wertkritik anzugreifen behauptet, ist seine eigene. Sie reflektiert affirmativ die totalisierte Durchsetzung des warenförmigen Prinzips, das nicht mehr gesehen wird, weil es überall ist.

Nicht gesehen werden dann freilich auch die inneren Widersprüche und die Brüche innerhalb dieses totalisierten Verhältnisses. Wollten wir dem “automatischen Subjekt” (Marx) des Werts ironisch ein Bewußtsein unterstellen, so wäre sein größtes Leidwesen, daß es ihm nie gelingen will, die gesamte Welt tatsächlich sich einzuverleiben. Sein selbstherrlicher Anspruch bleibt uneinlösbar, der Widerspruch zwischen Stoff und Form unaufhebbar. Dies ist, auf einer abstrakten Ebene, der entscheidende Unterschied zwischen der Kritik des Warenfetischismus und der Hegelschen Apologie der bürgerlichen Gesellschaft. Bei Hegel ist die geschichtliche Entwicklung nichts als das Zu-Sich-kommen des Geistes, der immer schon das Ganze ist, aber erst noch einen Prozeß der Selbstbewußtwerdung durchlaufen muß. Hermetisch ist dieses philosophische System deshalb, weil es nichts außerhalb von ihm gibt und selbst noch das Nicht-Identische in der Identität des Ganzen (“Identität von Identität und Nicht-Identität”) aufgehoben ist. Moishe Postone hat in seinem Buch Time, Labor, and Social Domination (8) sehr richtig gezeigt, daß der Marxismus noch in seiner reflektiertesten Version, wie sie der junge Lukács in Geschichte und Klassenbewußtsein vorlegt, diese Sichtweise adaptiert; nur daß er statt des “Geistes” das Proletariat zum Subjekt-Objekt der Geschichte erklärt. Damit nimmt er aber nicht nur prinzipiell einen affirmativen Standpunkt gegenüber der abstrakten Arbeit (und damit der Warenproduktion) ein und reflektiert so philosophisch den immanent bleibenden Bezug der Arbeiterbewegung auf dieses System; zugleich reproduziert er die Hermetik der Hegelschen Philosophie, indem er diese bloß “materialistisch” wendet (und also das wirklich tut, was Marx aufgrund seiner programmatischen Äußerung, Hegel vom Kopf auf die Füße stellen zu wollen, von Anhängern wie Kritikern immer unterstellt wurde)(9). Die Geschichte wird bei Lukács zu einem Prozeß des Zu-Sich-Kommens der Arbeit.

Ganz anders stellt sich das Problem dar, wenn wir die historische Durchsetzung von Ware und Wert als den Durchsetzungsprozeß einer negativen Totalität begreifen, der es nie gelingt und nie gelingen kann, sich die gesellschaftliche Wirklichkeit vollständig einzuverleiben und deren innere Widersprüche sich beständig reproduzieren und zuspitzen. Wenn wir von einem Zu-Sich-Kommen der Warengesellschaft sprechen können, dann nur als deren Krise, als dem leibhaftigen und höchst barbarischen Beweis ihrer Unhaltbarkeit. Dies ist nicht das “Ende der Geschichte”, sondern stellt im Gegenteil die Menschheit vor die Aufgabe, endlich ihre eigene Geschichte zu machen, indem sie sich der invisible hand entwindet und ihre Geschicke in die eigene Hand nimmt.

(1) Vgl. dazu etwa Robert Kurz: Postmarxismus und Arbeitsfetisch. Zum historischen Widerspruch in der Marxschen Theorie, in Krisis Nr. 15, Bad Honnef 1995

(2) Zu besonderer Eloquenz auf diesem Gebiet hat es Antonio Gramsci gebracht, und dies ist auch der Grund für seine anhaltende Beliebtheit unter den akademischen Rest-Marxisten (vgl. die ausführliche Kritik von Robert Bösch: Die wundersame Renaissance des Antonio Gramsci, in Krisis 13, Bad Honnef 1993).

(3) Jacobs Stichwortgeber, Jacques Derrida, dagegen plaudert, sobald er den gegen Kritik immunisierten, weil hermetisch abgedichteten Raum seiner Diskurstheorie verläßt, munter aus, daß man “die Zwänge der Marktgesetze nicht übersehen (sollte)”, die er freilich als so selbstverständlich voraussetzt, daß er an eine Kritik gar nicht erst denkt (von einer Aufhebung ganz zu schweigen), sondern sie ganz im Sinne des neoliberal gewandelten Sozialdemokratismus durch eine Kombination aus staatlicher Regulation, Aufklärung und “zivilem Engagement” ein wenig bändigen möchte. Wer noch einen Zweifel an der elenden staats- und marktkonformen Haltung des Dekonstruktivismus hegt, möge sich dieses Geschwätz des gesunden Menschenverstandes (nachzulesen im Zeit-Interview vom 6.3.98, aber auch in Derridas Marx’ Gespenster) einmal zu Gemüte führen.

(4) Vgl. dazu den Aufsatz von Roswitha Scholz: Der Wert ist der Mann, in Krisis 12, Bad Honnef 1992 sowie auch die anderen Aufsätze in dieser Nummer.

(5) Die Ökonomie ist also keinesfalls die “Basis” des warenförmigen Zusammenhangs, sondern eine seiner Sphären. Eine Sphäre, die allerdings insofern einen Sonderstatus genießt, als hier die Verwertung des Kapitals stattfindet. Größere Störungen in diesem Prozeß führen immer zu allgemeinen gesellschaftlichen Erschütterungen; und wo die Akkumulation an ihre absoluten Grenzen stößt, da untergräbt dies die Existenzfähigkeit des Gesamtsystems. Das aber bedeutet keinesfalls, daß sich die Reaktionsweisen darauf aus der ökonomischen Krisenentwicklung als solcher deduzieren ließen.

(6) Dies betrifft dort allerdings weniger den Holocaust und den Nationalsozialismus, wie Jakob unterstellt. Diese sollen vielmehr, in einer ziemlich verqueren theoretischen Wendung, die endgültige Abdichtung der hermetischen Totalität, nämlich die “negative Aufhebung des Kapitals auf seiner eigenen Grundlage” markieren, was die kleine Frage aufwirft, ob die Nazis etwa den Krieg gewonnen haben und die Welt beherrschen (also Bahamas/ISF sich womöglich auf eine Parallelwelt beziehen). Vgl. dazu und allgemein zur Kritik dieser unhistorisch-sterilen Wertkritik Ernst Lohoff: Hello Mr. Postman, in Krisis 20, Bad Honnef 1998.

(7) Insofern entspricht die “theoriepolitische Strategie” dieser philosophischen Strömung voll und ganz dem marktwirtschafts-demokratischen Zeitgeist, der sich gar nicht genug mit seiner “Offenheit” zu schmücken weiß; eine “Offenheit”, die selbstverständlich jede grundsätzliche (nicht bloß partikulare und oberflächliche) Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer selbst ausschließt. Marcuses Verdikt von der “repressiven Toleranz” ist angesichts des Dekonstruktivismus aktueller denn je.

(8) Cambridge/New York 1993. Eine deutsche Übersetzung dieses theoretisch sehr wichtigen Buches soll laut Ankündigung des ca-ira-Verlags in diesem Herbst erscheinen.

(9) Bei Marx bleibt der Bezug auf die Arbeit als Kategorie und auf die Arbeiterklasse, wie oben bereits angedeutet, viel ambivalenter als bei Lukács. Letzterer formuliert, wie Postone zu Recht feststellt, eine Kritik vom Standpunkt der Arbeit aus, nicht aber eine Kritik am Standpunkt der Arbeit.