Krise und Entwicklung des Kapitals
“Die kapitalistische Produktion strebt beständig, die ihr immanenten Schranken zu überwinden, aber sie überwindet sie nur durch Mittel, die ihr diese Schranken aufs neue und auf gewaltigerem Maßstab entgegenstellen. Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst.” — MEW 25, S. 260
Ernst Lohoff
Krisenprozeß und Krisenevents
Es knirscht vernehmlich im Gebälk. Vor allem an ihren Rändern wird die heile Welt der Globalisierung und des kasinokapitalistischen Booms in immer kürzer werdenden Abständen von größeren und kleineren Kriseneinbrüchen heimgesucht. 1995 hielt die Mexikokrise und die durch sie ausgelöste Dollarschwäche die transnationalen Finanzmärkte in Atem, 1997 erlebten nacheinander die ostasiatischen “Tigerstaaten” und Lateinamerika einen jähen wirtschaftlichen Absturz. Rußland ist sowieso ein hoffnungsloser Fall. Selbst Japans Ökonomie, lange als das Erfolgsmodell schlechthin gehandelt, steckt tief im Sumpf von Rezession, explodierender Staatsverschuldung und heillos überschuldetem Bankensektor. Nur auf den ersten Blick sprechen die Erfolgsmeldungen aus der US-Ökonomie eine andere Sprache. Sie beruhen einzig und allein auf einer immer aberwitziger werdenden Defizitwirtschaft, dem größten Pyramidenspiel der Geschichte. “1998 durchbrach das Leistungsbilanzdefizit die Schwelle von 200 Milliarden Dollar, 1999 überstieg es 300 Milliarden, im Jahr 2000 wird es 400 Milliarden erreichen. Ähnlich rasant schnellt die Nettoverschuldung gegenüber dem Ausland in die Höhe: über zwei Billionen Dollar im Jahr 2000, über drei Billionen Dollar zwei Jahre später.” (“Die Zeit”, 5. Januar 2000)
Im Westen läßt man sich indes die Sektlaune nicht so schnell verderben. Notorisches Gesundbeten ist angesagt. Daran ändern auch die immer neuen Menetekel nichts. Im Gegenteil. Solange es gelingt, die aktuellen Krisenherde einzugrenzen und die partiellen Entwertungsprozesse an der Peripherie des Weltmarkts durch beschleunigte fiktive Wertschöpfung in den kapitalistischen Zentren wettzumachen, legitimieren selbst noch die Panikattacken von gestern die “Don’t worry be happy”-Stimmung von heute. Daß keine der bisherigen Turbulenzen Europa und die USA zum Absturz gebracht hat, wird sofort zum Beleg für die prinzipielle Unerschütterlichkeit des spekulativ gefütterten Booms. Da die Wunderwelt des Kasinokapitalismus nun schon zwanzig Jahre funktioniert, werde dies auch ewig so weitergehen. Während das ökonomische Widerspruchspotential, das einer gewaltsamen Entladung harrt, sich Monat für Monat schwindelerregender auftürmt, leugnet das herrschende Bewußtsein den allgemeinen historischen Krisenprozeß, indem es ihn in eine Vielzahl zusammenhangs- und damit letztlich eben bedeutungsloser Krisenevents auflöst.
Die Entsorgung der Marxschen Krisen- und Zusammenbruchstheorie
Seltsamerweise beteiligen sich auch die Reste der marxistischen Opposition am großen Entsorgungsunternehmen nach Kräften. Natürlich betont die Linke die Schattenseiten kapitalistischer Herrschaft im 21. Jahrhundert — von der Unbegrenztheit des kapitalistischen Entwicklungshorizonts ist sie jedoch, bei allen Unterschieden in der Wertung, mindestens genauso felsenfest überzeugt wie der Neoliberalismus: “Crisis, what Crisis?”, heißt es allenthalben.
Der Kontrast zur Marxschen Position könnte kaum drastischer ausfallen. Für den Gründungsvater der Kritik der Politischen Ökonomie hatte die Krise stets einen zentralen analytischen Stellenwert. Seine ökonomiekritischen Schriften folgen durchgängig einer krisentheoretischen Orientierung. Zweierlei ist dabei hervorzuheben und festzuhalten:
1. Die ökonomischen Krisen stellen bei Marx nie ein zusätzliches Thema dar — die ganze Untersuchung der logischen Genese und der Reproduktion des Kapitals ist von vornherein immer auch Krisenanalyse. Die Möglichkeit der Krise ist schon im ersten Kapitel des Kapitals mit der Reduktion von Gebrauchsgütern zur Darstellungsform abstrakter Arbeit und dem Auseinanderfallen von Kauf und Verkauf durch die Aussonderung der Geldware eingeführt und die Konkretion der Darstellung des Kapitals bedeutet auch immer eine schrittweise Konkretion der inhärenten Krisenpotenz dieser gesellschaftlichen Beziehung.
2. Die Beschäftigung mit den zyklischen Krisen ist an die Annahme einer absoluten Schranke rückgebunden. Den zyklischen Krisen kommt stets eine Doppelbedeutung zu. Sie sind einerseits, gerade indem sie den normalen Reproduktionsgang unterbrechen, unverzichtbares Moment der Erneuerung des Kapitalverhältnisses. Sie allein gestatten eine Entladung des immer wieder neu aufgestauten Widerspruchspotentials und eröffnen damit überhaupt einen Entwicklungsspielraum. Sie markieren zugleich aber Etappen in der Annäherung an die unhintergehbare historische Schranke der über den Wert vermittelten Produktionsweise: Die kapitalistische Gesellschaft überwindet Krisen immer nur “dadurch, daß sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert” (MEW 4, S. 468), so die programmatische Formulierung bereits im Kommunistischen Manifest.
Von alledem will der marxistische Diskurs unserer Tage nichts wissen. Selbst wo er die Möglichkeit von Krisen einräumt, geht es ihm nur darum, das Wesentliche, den Gedanken, dem Kapital könnte eine immanente Schranke gesetzt sein, zu tabuisieren. Die innere Spannung in der Marxschen Krisenanalyse wird konsequent zugunsten des unbedingten Glaubens an die ewige Wiedergeburt des Kapitals aufgelöst. Daß kapitalistische Entwicklung stets krisenhafte Entwicklung gewesen ist, verweist nicht länger auf die Begrenztheit der bürgerlichen Produktionsweise, sie “beweist” stattdessen, wie wenig Krisen ihr anhaben können. Typisch für das heute vorherrschende, fast schon buddhistisch anmutende Krisenverständnis sind Michael Heinrichs Absonderungen im Zusammenhang mit der Misere der “Tigerstaaten”: “Die Asienkrise war, was Krisen im Kapitalismus schon immer waren: eine gewaltsame Lösung angestauter Probleme (…). Auf der geschrumpften Grundlage ist dann ein neuer Aufschwung möglich — bis sich erneut so viele Probleme und Fehlentwicklungen angestaut haben, daß es wiederum der Gewalt einer Krise bedarf, um sie zu lösen” (“Jungle World” 2/99). Das klingt irgendwie nach Marx und die Behauptung beginnt auch tatsächlich mit der Paraphrase einer Sentenz aus dem 3. Band des Kapitals. Allerdings war der Tenor doch ein klein wenig anders: “Krisen sind (…) momentane gewaltsame Lösungen der vorhandenen Widersprüche, gewaltsame Eruptionen, die das gestörte Gleichgewicht für den Augenblick wiederherstellen”, hieß es im Original (MEW 25, S.259). Was das Streichen von so harmlosen Wörtern wie “momentan” und “für den Augenblick” doch so bewirken kann!
Marxsche Krisentheorie und alte Arbeiterbewegung
Dafür, daß die letzten Marxisten heute ins krisentheoretische Nirvana entschwinden, ist nicht allein der vom Zeitgeist ausgehende Anpassungsdruck verantwortlich zu machen. Wir haben es zugleich mit dem Endpunkt einer langen Traditionslinie zu tun. Nicht erst Heinrich und Co. sind zur Entsorgung der Marxschen Zusammenbruchstheorie geschritten, schon die Theoretiker der II. Internationale und all ihre Nachbeter standen ihr verständnislos gegenüber.
Warum im Denken der Arbeiterbewegung, einer Strömung, für deren Selbstverständnis das Primat der Klasse und des Klassenkampfs konstitutiv war, die Zusammenbruchstheorie stets ein Fremdkörper blieb, liegt eigentlich auf der Hand. Wenn der Klassenkampf das eigentliche Wesen von Geschichte ausmacht und das Proletariat die historische Mission hat, mit dem Kapital Schluß zu machen, wie kann da das Kapital an sich selber scheitern? Seine wahre Grenze kann und darf es stattdessen nur im Willen und in der Macht der Arbeiterklasse finden.
Natürlich hat man verstanden, das Unvereinbare pro forma zur Deckung zu bringen. Marxens dunkel erscheinende Rede “vom Kapital als seiner eigenen Schranke” wurde in eine dem Kapital immanente Tendenz übersetzt, ein beständig an Zahl anschwellendes und an Einsicht gewinnendes Proletariat zu erzeugen.1 Auch die zyklischen Krisen zwang das Arbeiterbewegungsdenken in dieses Bezugssystem hinein. Deren Bedeutung beschränkte sich im Kern darauf, der Einsicht des Proletariats in die Unvorteilhaftigkeit des kapitalistischen Systems auf die Sprünge zu helfen — sie sollten also als Aufklärungsmittel dienen. Solche Interpretationen erlaubten es gleichzeitig, pflichtschuldig den Kotau vor den Aussagen des großen Meisterdenkers zu vollführen und deren ursprünglichen zusammenbruchstheoretischen Sinn auf den Kopf zu stellen.2
Nicht allein die theoretische Fixierung auf den Klassenkampf versperrte indes den Blick auf die seltsame Dialektik von krisenhafter Erneuerung und letztlicher Selbstzerstörung des Kapitals. Diese blieb vor allem außerhalb des Blickfelds, weil sie für die Konstellation, auf die sich die Arbeiterbewegung historisch nur beziehen konnte, nur von beschränkter Relevanz war. Die Marxsche Zusammenbruchstheorie antizipiert und unterstellt ein Kapitalverhältnis, das sich auf seinen eigenen Grundlagen bewegt und jede vormoderne Reproduktionsform bereits hat verdampfen lassen. Der empirische Kapitalismus, mit dem es Marx zu seinen Lebzeiten zu tun hatte, war von diesem Entwicklungsstand aber noch meilenweit entfernt — und damit auch von dem in den Grundrissen und im Kapital begrifflich skizzierten historischen Krisenhorizont. Während Marx bereits in den Einbruch von 1857, der ersten Wirtschaftskrise, die sich von den Mustern frühmoderner Agrarkrisen abzulösen begann, unmittelbar den Auftakt zur Endkrise des Kapitalismus hineinlesen wollte, bedurfte es realiter noch mehrerer Menschenalter, bis sich das warenproduzierende System auch praktisch an das von Marx logisch antizipierte Problemniveau herangearbeitet hatte.
Von Rosa Luxemburg, der einzigen neben Henryk Grossmann in den Reihen der alten Arbeiterbewegung, die konsequent den zusammenbruchstheoretischen Strang in der Marxschen Theorie weiterverfolgt hat statt ihn zu kappen, ist der Ausspruch überliefert, bis zum Ausbrennen der kapitalistischen Logik habe es noch Zeit, ungefähr solange wie bis zum “Erlöschen der Sonne”. Als polemische Zuspitzung hatte dieses Bonmot seine Berechtigung. In den sozialen Konflikten der Durchsetzungsphase des kapitalistischen Weltsystems, zu der noch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört, taugten die zusammenbruchstheoretischen Implikationen der Kritik der politischen Ökonomie kaum zur praktischen Orientierung, schon gar nicht ließen sich Handlungsanweisungen aus ihnen ableiten.
Neunzig Jahre später sieht die Sache allerdings ganz anders aus. Gerade weil Marx auf keinem anderen Gebiet seiner Zeit so weit vorausgeeilt ist wie auf diesem, kann die Zusammenbruchs- und Krisentheorie heute als das Moment des Marxschen Ansatzes mit der höchsten Brisanz gelten. Es hat von daher schon etwas Tragikomisches, wenn die tonangebenden Erbverwalter in den rest-marxistischen Gemeinden ausgerechnet sie zum Anachronismus erklären und jeden Rekurs darauf mit Naserümpfen quittieren. Die Marxsche Theorie wird im 21. Jahrhundert nur dann eine Renaissance erleben, wenn es gelingt, genau diesen verschütteten theoretischen Strang freizulegen und ihn fruchtbar zu machen.
Relative und absolute Verdrängung lebendiger Arbeit
So unverzichtbar die Rekonstruktion der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie und ihrer krisentheoretischen Implikationen ist, sie allein genügt nicht. 130 Jahre nachdem Marx als erster allgemein logisch die immanente Schranke der Kapitalbewegung skizziert hat, läßt sich diese nicht nur weit konkreter beschreiben als im 19. Jahrhundert. Der Reproduktions- und Krisenmechanismus des Kapitals hat sich ausdifferenziert und damit zusätzliche Widerspruchsebenen eröffnet, die Marx in seiner Analyse entweder nur streifen konnte oder die sich seinem Blickfeld vollkommen entzogen haben. Die Aktualisierung der Krisentheorie muß von daher auf eine Neuformulierung abheben, eine Neuformulierung, bei der insbesondere methodisch der Marxsche Ansatz allerdings unhintergehbar bleibt.
Die marxistische Krisen-Diskussion hat sich lange vornehmlich auf das “Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate” kapriziert. Die Veränderung der organischen Zusammensetzung des Kapitals, die Ausdehnung des konstanten Kapitalteils gegenüber dem variablen, wurde als das A und O der Marxschen Krisenanalyse gehandelt. Etwas Wesentliches blieb dabei aber stets ausgeblendet. Mit dem “Gesetz vom tendenziellen Fall” hat Marx keineswegs die absolute Schranke des Kapitals angegeben. Er umreißt mit ihm vielmehr, wie das Kapital seine strukturelle Misere provisorisch bewältigt und in eine historische Verlaufsform bringt. Der eigentliche Selbstwiderspruch kapitalistischer Vergesellschaftung besteht nicht darin, daß die lebendige (mehr)wertproduktive Arbeit relativ, also gemessen am konstanten Kapital, immer weniger wird. Das Kapital wird sich selbst zur Schranke, weil es vermittelt über die Konkurrenz dazu neigt, die vernutzte lebendige Arbeit absolut zu minimieren, während zugleich die Arbeit die einzige Quelle der Wertproduktion bleibt. Oder, um mit Marx zu sprechen: “Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch dadurch, daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren (sucht), während es andererseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt.”3
Diesem basalen Dilemma kann das Kapital nur entkommen — und genau das beschreibt das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate —, solange der gesamte gesellschaftliche Kapitalstock so schnell wächst, daß die fortschreitende Verdrängung von Arbeitskraft bezogen auf einen gegebenen Kapitalstock kompensiert wird und damit die in den Prozeß der Wertverwertung eingehende Masse lebendiger Arbeit absolut zunimmt. Marx ging es also nicht darum, irgendeine Mindestprofitrate bestimmen zu wollen, bei deren Unterschreitung der kapitalistische Betrieb zum Erliegen käme. Der Fall der Profitrate mitsamt seinen “entgegenwirkenden Ursachen” (Marx), ist vielmehr als Preis und Begleiterscheinung jener historischen Expansionsbewegung zu verstehen, ohne die das Kapitalverhältnis nicht überleben kann. Die zyklischen Krisen sind letztendlich als Unterbrechungen dieses Ausdehnungsprozesses zu fassen und das Kapital erreicht seine absolute Schranke, sobald dieser Kompensationsmechanismus sich selber zerstört.
Das Schicksal des Kapitals hängt in letzter Instanz davon ab, wieviel lebendige Arbeit es auf dem jeweiligen Produktivitätsniveau in den Vernutzungsprozeß einspeisen kann. Die einfachste Methode, die prinzipiell einen Ausgleich für den verringerten Arbeitseinsatz pro Produkteinheit erlaubt, liegt auf der Hand. Wenn heute 5 Arbeiter genauso viele Autos, Hosen oder Tomaten herstellen wie früher 10, dann muß sich eben die Menge der hergestellten Autos, Hosen oder Tomaten verdoppeln, um die vernutzte Arbeitsmasse konstant zu halten, und verdreifachen, um sie um 50 Prozent zu steigern.
Einer solchen reinen Mengenexpansion sind indes Grenzen gesetzt. Da das Kapital bekanntlich seinen Beruf nicht einfach darin findet, möglichst viele Gebrauchswerte zu erzeugen, sondern vom kapitalistischen Standpunkt nützliche Dinge überhaupt nur als Darstellungsform von Tauschwert ein Existenzrecht haben, stellt sich unweigerlich die Frage nach der Realisation dieser Werte. Der Konsum der Arbeiterklasse bleibt, gemessen an der erzeugten Warenmasse, stets Unterkonsumtion — das ist nun einmal die Existenzbedingung von Mehrwert und Profit. Je höher die Mehrwertrate klettert und sich der Anteil des variablen Kapitals am Wert jedes einzelnen Produktes verringert, desto schärfer muß dieses Mißverhältnis zu Tage treten. Aus dieser Realisationsklemme kann sich das Kapital als gesellschaftlicher Gesamtprozeß nicht allein dadurch befreien, daß es sich quantitativ in den bestehenden Branchen ausdehnt. Ein (vorübergehender) Ausweg tut sich nur auf, wenn das Kapital seine eigene technologische Grundlage revolutioniert und sich neue Fertigungszweige (einschließlich der Produktion von Produktionsmitteln) erschließt, die zusätzlich massenhaft lebendige Arbeit absorbieren.
Prozeß- und Produktinnovation
Marx hat eine enge Beziehung zwischen den Konjunkturzyklen und den Umschlagszyklen des fixen Kapitals hergestellt. Denkt man die qualitativen Sprünge in der Produktivkraftentwicklung mit, so läßt sich dieser Zusammenhang weiter fassen. Solange die Produktivkraftentwicklung ihren Niederschlag vornehmlich in der Rationalisierung bestehender Fertigungszweige findet, muß das Kapital in eine Phase der Stagnation und der Krisen hineingeraten. Wenn sie hingegen in erster Linie neue, zusätzliche Felder der massenhaften Vernutzung lebendiger Arbeit eröffnet, kann das Kapital in eine Phase des Aufschwungs und der beschleunigten Akkumulation eintreten. Der Eisenbahnbau und der damit verbundene Aufschwung der Stahl- und Kohleindustrie hat die Krisen der dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts beendet. Das Aufblühen der chemischen Industrie und die Elektrifizierung haben die Überwindung der “großen Depression” ermöglicht, in die das Kapital nach dem Gründerboom mehr als zwei Jahrzehnte gestürzt war. Der Sieg des Fordismus endlich, mit der Automobilproduktion als Schlüsselindustrie, hat den Weg von der Weltwirtschaftskrise zum “Wirtschaftswunder” geebnet.
Der Siegeszug der Warengesellschaft läßt sich als eine beständige, von Krisen unterbrochene und durch sie wiederum angeregte Flucht nach vorn beschreiben, auf der die technologischen Innovationsschübe Epoche machten. Das sollte allerdings nicht dazu verführen, dieses Muster ad ultimo zu verlängern und eine simple Gleichung Innovation = Boom zu unterstellen, wie es sich insbesondere in der Diskussion um die sogenannten “langen Wellen” eingebürgert hat. Wenn die technologischen Revolutionen der Vergangenheit das kapitalistische System der Arbeitsvernutzung neu fundieren konnten, dann liegt das nicht daran, daß sie die Produktionsbedingungen überhaupt umgewälzt haben, sondern daß sie dies in einer ganz spezifischen Weise taten. Die Entdeckungen der großen Handwerker-Erfinder des 19. Jahrhunderts (von Siemens über Bell bis Edison) und die Eisenbahnkonjunktur konnten zusätzliche Anlagesphären erschließen, weil sie vornehmlich produktinnovativ wirkten, also Märkte für Waren schufen, die es vorher nicht gegeben hatte. Der Übergang zum Fordismus bedeutete zwar in erster Linie eine Veränderung von Fertigungsabläufen (Einführung des Fließbands, tayloristische Zergliederung der Arbeitsvorgänge), diese Prozeßinnovation ermöglichte es aber überhaupt erst, die Fabrikation von Automobilen, Elektrogeräten usw. über die Nische einer handwerklichen Luxusproduktion hinaus auszuweiten und in den kapitalistischen Vernutzungszyklus einzugliedern.
Ganz anders ist es aber gerade um die Basisinnovation der dritten industriellen Revolution bestellt. Als direkte Ausgeburt der Anwendung der Produktivkraft Wissenschaft besteht die Hauptwirkung der Mikroelektronik weniger darin, neue Anlagesphären zu schaffen. In erster Linie wirkt sie — und das quer durch alle bestehenden Industriezweige — als die Rationalisierungstechnologie par excellence. Was bei der Produktion von Computern, Chips, Glasfaserkabeln usw. an zusätzlicher Arbeitsvernutzung anfällt, steht in keinem Verhältnis zu der durch die flächendeckende Anwendung der Mikroelektronik freigesetzten Masse an Arbeitskraft. Anders als ihre Vorgänger kann die dritte industrielle Revolution von daher keinen neuen selbsttragenden Akkumulationsschub in Gang setzen, sondern vervielfacht die durch das Auslaufen des fordistischen Booms freigesetzten Krisenpotenzen. In diesem Kontext wirkt auch die beständige Verbilligung der neuen Trägertechnologie nicht wie ehedem krisenhemmend, indem sie den Wert der Elemente des konstanten Kapitals senkt, sondern sogar krisenverschärfend, weil sie deren Omnipräsenz noch fördert.
Angesichts dieser Entwicklung gewinnt die These von Marx, die Verwissenschaftlichung der Produktion müsse die warengesellschaftliche Form sprengen, ein empirisches Substrat. Die berühmten einschlägigen Aussagen aus den Grundrissen rücken auf die historische Tagesordnung: “Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte (…). Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert das Maß des Gebrauchswerts (…). Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhende Produktion zusammen.”4
Staatsverschuldung, Inflation und Akkumulation
In letzter Instanz hängt die Überlebensfähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise davon ab, ob es ihr gelingt, hinlänglich lebendige Arbeit in den Zyklus wertproduktiver Vernutzung zu integrieren. Bereits in der Weltwirtschaftskrise der 1920er und 1930er Jahre geriet diese Abhängigkeit über einen historisch bis dato einmalig langen Zeitraum zum manifesten Strukturproblem. So tief war der Einschnitt, daß die Entwertung der bestehenden Kapitalien allein, auch in Verbindung mit entsprechenden innovativen Schüben, nicht mehr hinreichte, um einen neuen selbstläufigen ökonomischen Aufschwung einzuleiten. Erst die sprunghafte Ausdehnung der Staatstätigkeit, die sich zunächst im Zeichen von Aufrüstung und Weltkrieg vollzog, konnte den paralytischen Zustand beenden und für den Anschub sorgen, der die kapitalistische Ökonomie wieder auf Wachstumskurs brachte.
Der konsequente Abschied vom passiven Nachtwächterstaat war für das Ingangkommen des fordistischen Booms schon deshalb unerläßlich, weil die Ausbreitung der neuen Trägerindustrien eine breite gesamtgesellschaftliche Infrastruktur erforderlich machte, die selber nicht oder nur sehr bedingt die Form von profitträchtigen Waren annehmen kann. Wie hätte sich eine blühende Automobilindustrie entwickeln sollen, wenn der Staat nicht immense Mittel in den Straßenbau gesteckt hätte? Wie hätten die elektrischen Haushaltsgeräte und die Unterhaltungselektronik ihren Siegeszug antreten können, ohne enorme Investionen in eine flächendeckende Energieversorgung, die für sich genommen unprofitabel waren und daher in die Regie des Staates fielen? Im weiteren Sinn fällt auch der Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Absicherungen in diese Rubrik notwendiger staatlicher Vor- bzw. Parallelleistungen.
In einem bis dahin unvorstellbaren Grad ökonomisch in die Pflicht genommen wurde der Staat aber nicht nur, weil ihm angesichts der zunehmenden vergesellschaftenden Wirkung der Produktivkraftentwicklung eine neue Verantwortung in Sachen Bereitstellung der materiellen Rahmenbedingungen der Warenproduktion zufiel. Mindestens im gleichen Maße war er auch durch die Entwicklung auf der Wertseite gefordert. Schon auf der betrieblichen Ebene waren an der Schwelle zum fordistischen Zeitalter die Vorauskosten der Arbeitsvernutzung nämlich zu hoch, um sie allein aus den regulären Rückflüssen der Kapitalverwertung aufzubringen. Es bedurfte dazu schon der zusätzlichen, über die laufenden Steuereinnahmen hinausgehenden Nachfragemacht des Staates und vor allem der Erweiterung des allgemeinen kreditären Spielraums. Beides ließ sich nur durch eine radikale Umwälzung des Geldwesens und der staatlichen Finanzpolitik insgesamt bewerkstelligen.
Der Reproduktionprozeß des Kapitals schließt notwendig die Verwandlung der vielen besonderen Waren in die allgemeine Ware, das Geld, ein. Solange es sich beim Geld selber um eine reale Geldware (Edelmetall) oder deren unmittelbare Repräsentanten (Golddeckung) handelte und die Realisierung des Werts damit eng an andernorts bereits vollzogene und realisierte produktive Arbeitsvernutzung rückgekoppelt blieb, mußte sie sich ein ums andere mal als Nadelöhr erweisen. Die Krisen — darauf hat Marx schon hingewiesen — nahmen immer auch die Form einer akuten oder im Falle der Weltwirtschaftskrise chronischen Zahlungsmittelverknappung an, deren Ausgangspunkt das Reißen privatwirtschaftlicher Kreditketten war. Der Krisenverlauf ließ sich als deflationäre Abwärtsspirale beschreiben. Der Abschied vom “barbarischen Metall” (Keynes), der Übergang zu einem politisch regulierten Geld, das keinen wirklich vorhandenen, mühsam aufakkumulierten Reichtum repräsentiert, sondern letztlich allein durch die Aussicht auf künftige Wertschöpfung gedeckt war, erlaubte es, die Engstelle durch “deficit spending” zu umschiffen und die Stockung zu beseitigen. Der über den Staat und das von ihm geschaffene Geld vermittelte Vorgriff versetzte die vielen Kapitalien nun in die Lage, sich auf erweiterter Stufenleiter in allgemeines Äquivalent zu verwandeln und einen neuen Produktions- und Verwertungszyklus einzuleiten. Das ermöglichte die Überwindung der Depression.
Jeder neue Mechanismus der Krisenüberwindung treibt indes neue Krisenpotenzen hervor. Gerade in diesem Fall ist das handgreiflich. Die monetäre Vorwegnahme wertproduktiver Arbeitsvernutzung kann im Nachhinein ihre Bestätigung finden, sie muß es aber natürlich nicht zwangsläufig. Wo der über die staatliche Geldschöpfung vermittelte Wechsel auf die Zukunft sich teilweise oder gänzlich als ungedeckt erweist, treten zwei Phänomene auf, die dem kapitalistischen Entwicklungsstadium des 19. Jahrhunderts völlig fremd waren. Zum einen findet der beständige Vorgriff auf erst zu schaffenden Reichtum in einer wachsenden Staatsverschuldung seinen Niederschlag — der Verschuldungsprozeß kann aber nicht ad ultimo fortgesetzt werden, ohne daß der kapitalistische Verwertungsprozeß von dieser Altlast schließlich erdrückt würde.5 Abbrechen läßt er sich allerdings genauso wenig, denn das würde mit dem sofortigen Umschlag der chronischen Wachstumsschwäche in eine akute Depression und mit der Wiederkehr der alten deflationären Mechanismen in verschärfter Form bezahlt.6 Zum anderen tritt neben die Entwertung von Realkapital und Geldkapital durch die Krise die Entwertung des Geldmediums selber. Wo die antizipierte Arbeitsvernutzung nur unvollständig gelingt, kommt es zur schleichenden Inflation. Wird die Arbeit einer Volkswirtschaft im Nachhinein vom Weltmarkt im großen Maßstab für ungültig erklärt, kann die Nationalökonomie sogar in einen hyperinflationären Prozeß geraten.
In den 1950er und 1960er Jahren, dem goldenen Zeitalter des Kapitalismus mit seinen exorbitanten Wachstumsraten, funktionierte das System nachträglicher Deckung im wesentlichen: sowohl die Staatsverschuldung als auch die Inflation blieben daher moderat. Das mußte sich allerdings im selben Maße ändern, wie der fordistische Wachstumsschub im Laufe der siebziger Jahre sein Ende fand. Nicht nur die basale Problematik, die abnehmende Fähigkeit des Kapitals, wertproduktive Arbeit im notwendigen Maßstab zu absorbieren, begann wieder zu Tage zu treten: damit wurde zugleich auch die Krisenlösung von gestern immer mehr zum Zusatzproblem, und drohte krisenverstärkend zu wirken. An einigen wichtigen statistischen Indikatoren läßt sich die wenig erbauliche Perspektive, die sich der Weltwirtschaft an der Schwelle zu den achtziger Jahren bot, ablesen. Die durchschnittlichen Wachstumsziffern in den OECD-Staaten waren trotz verstärktem deficit spending auf 1,4 Prozent gesunken (zwischen 1967 und 1976 waren sie noch bei 4,9 Prozent gelegen), die Inflationrate erreichte dafür 12,6 Prozent (gegenüber 6,1 Prozent im Vergleichszeitraum). Immer neue historische Höchststände bei der Staatsverschuldung (43,6 Prozent des jährlichen BSP im Durchschnitt bei den OECD-Staaten), zeigten ebenfalls an, daß es allmählich eng zu werden begann.
Die kasinokapitalistische Krisenverschiebung
Schon Anfang der achtziger Jahre standen wichtige Ingredienzen für einen großen Entwertungsschub und eine neue Depression bereit. Dennoch fanden die kapitalistischen Staaten aus der “Stagflation”, dem Nebeneinander von Geldentwertung und Wachstumsschwäche, heraus und auch die Staatsverschuldung der OECD Staaten gilt, nachdem sie sich in den letzten zwanzig Jahren mehr als verdoppelt hat, heute als halb so wild. Einen Ausgleich haben die basalen Widersprüche freilich nicht gefunden. “Gelöst” hat sie der Übergang zum Globalisierungskapitalismus nur, insofern er sie noch einmal auf eine ganz neue Stufenleiter hob. Stieß der über eine expansive Geldpolitik und keynesianische Konjunkturprogramme vermittelte Vorgriff auf die künftige gesamtgesellschaftliche Wertmasse an seine Grenzen, so wurden diese von der Dynamik privater Schöpfung fiktiven Kapitals überwunden. Vorab angezapft wird nicht mehr nur die staatlich eingehegte volkswirtschaftliche Gesamtzukunft, vielmehr wird gleich die Hoffnung auf die kommenden Erfolge der vielen Einzelkapitalien verwertet und zum Rohstoff des gegenwärtigen Reichtums gemacht. Das kollektive private Reichrechnen ist zur Basis der Ökonomie geworden und die reale Arbeitsvernutzung lebt nur mehr als Anhängsel der fiktiven Kapitalverwertung fort. Das klingt nicht nur verrückt, das ist völlig verrückt. Auf dieser Verrücktheit beruht aber seit rund zwanzig Jahren die ganze kapitalistische Sumpfblüte!
Den Begriff des fiktiven Kapitals hat Marx im dritten Band des Kapitals im Kontext des Kreditgeldes entwickelt und seine Bedeutung für den Krisenzyklus herausgearbeitet. Die Quintessenz dieser Überlegungen sieht folgendermaßen aus: Die relative Verselbständigung der Kreisläufe des Geldkapitals und die damit einhergehende Verlängerung von Kreditketten und Anhäufung von Ansprüchen ist das Resultat einer zunehmenden Verknappung realer Anlagemöglichkeiten. Die Aufblähung des Finanzüberbaus versetzt das fungierende Kapital, indem es noch zu erzielende Profite ins Akkumulationsspiel einbringt, in die Lage, auch dann noch weiterzuakkumulieren, wenn es eigentlich bereits in ein Stadium der Überproduktion eingetreten ist und die Realisierung des Werts ins Stocken gerät. Schreitet dieser Prozeß indes voran und wachsen die Zweifel, ob die antizipierten Rückflüsse sich auch tatsächlich einstellen werden, dann setzt früher oder später ein Run auf Geld ein und die Kreditketten reißen. Mit der Panik setzt eine schlagartige Kontraktion aller wirtschaftlichen Aktivitäten ein, alle aufakkumulierten Ansprüche, aber auch das Realkapital werden entwertet. Weil die allgemeine Geldklemme zum Ausgangspunkt des akuten Krisenschubs wird, nimmt die Krise überhaupt die Form einer Finanzkrise an.
Dem krisenverzögernden und gleichzeitig krisenverschärfenden Abheben des Finanzüberbaus waren im 19. Jahrhundert freilich enge Grenzen gesetzt. Solange Geld noch unmittelbar für gediegenes Gold stand, fand das spekulative Moment seinen Platz innerhalb der jeweiligen Konjunkturzyklen und markierte im Kern bereits den Umschlagspunkt zur Krise. Dieses Grundmuster ist im wesentlichen bis zum Ende der 1970er Jahre erhalten geblieben. Das läßt sich unter anderem daran ablesen, daß sich die Realakkumulation und der Wert von Anteilscheinen langfristig gesehen, parallel entwickelt haben. Mit den Reaganomics aber hat sich die spekulative Bewegung vom konjunkturellen Zyklus entkoppelt und ist damit zum eigentlichen konjunkturübergreifenden Wachstumsmotor geworden.
Diese Entkopplung dokumentiert recht drastisch die Entwicklung des Dow-Jones. Von seiner Einführung im Jahr 1897 an wuchs er, vorübergehende Schwankungen herausgerechnet, synchron mit der US-Wirtschaft. Dementsprechend dauerte es immerhin 66 Jahre, bis der amerikanische Aktienindex das erste Mal an der 1.000 Punkte-Schwelle kratzte. Erst 1982 wurde diese Barriere dauerhaft genommen. In den nächsten 13 Jahren vervierfachte er dafür seinen Wert. 1996 kletterte er dann sogar bereits auf 6.000 und erreichte 1999 schließlich 11.000 Punkte. Damit kann er in knapp 20 Jahren einen Zuwachs von 1.100 Prozent verzeichnen, das offizielle Wachstum des amerikanischen Bruttosozialprodukts erreichte im selben Zeitraum nicht einmal 50 Prozent!
Die spekulative Selbstvermehrung des Geldkapitals ist mit den Reaganomics epochemachend geworden. Das läßt sich nicht nur deshalb mit Fug und Recht sagen, weil in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die letztlich unvermeidliche Wertberichtigung ein ums andere mal hinausgeschoben wurde, das fiktive Kapital hat für den gesamten ökonomischen Prozeß eine Bedeutung gewonnen, die mit keiner Phase kapitalistischer Entwicklung auch nur annähernd zu vergleichen wäre.
Der Kasinokapitalismus hat zwei eng zusammenhängende historische Leistungen zuwege gebracht. Zunächst einmal ist er für das schlagartige Verschwinden der manifesten Geldentwertung (Inflation auf den Gütermärkten) verantwortlich. Fand die expansive staatliche Geldpolitik der siebziger Jahre ihren Niederschlag noch in einem Mißverhältnis von realwirtschaftlichem Angebot und monetärer Nachfrage, so hat der einsetzende kasinokapitalistische Boom diesen Überschuß an Zirkulationsmitteln durch seine Verwandlung in Geldkapital in großem Stil gebunden. Erhebliche Teile potentieller Konsumnachfrage sind durch sich beständig vermehrende monetäre Ansprüche (Aktienbesitz, Schuldverschreibungen) ersetzt, die erst einmal im Finanzüberbau verharren, statt sich unmittelbar gegen Gebrauchsgüter auszutauschen. An die Stelle einer allgemeinen Teuerung trat das, was man im Amerikanischen bezeichnenderweise “asset-inflation” nennt, nämlich die spezielle Verteuerung der Aktienwerte, aber auch von Immobilien und anderen Spekulationsobjekten. Die OECD Statistiken sprechen in dieser Hinsicht eine äußerst deutliche Sprache. Sie weisen den logischen Zusammenhang chronologisch aus. 1980 hatte die Inflationsrate in den USA ihren Spitzenwert mit 13,5 Prozent erreicht. Drei Jahre später war sie im Vorreiterland des Spekulationskapitalismus bis auf 3,2 Prozent gesunken. In Europa kam die Wirkung verzögert, fiel aber deswegen nicht weniger dramatisch aus. In Frankreich etwa sank die Steigerungsrate der Verbraucherpreise vom gleichem Ausgangsniveau in 1980 (13,6 Prozent) bis 1986 auf deutlich unter 3 Prozent.
Indem reales Anlagekapital via Aktienemission auf Unmengen von Geldkapital zugreifen kann und Aktienbesitz gleichzeitig im großen Stil zur Grundlage für Konsumentenkredite wird, funktioniert die Selbstvermehrung des fiktiven Kapitals sowohl von der Nachfrage- als auch von der Angebotsseite her als ungeheures Konjukturprogramm. Solange die Kreditketten halten und der Finanzüberbau sich weiter aufbläht, lassen sich von den spekulativ erwirtschafteten Gewinnen genauso Luxusgüter und Maschinen kaufen, wie von den Profiten aus tatsächlicher Arbeitsvernutzung.
Der Vorgriff auf künftige Wertschöpfung, der in den Kreditbeziehungen der kapitalistischen Subjekte sein Vehikel findet, hat Dimensionen angenommen, die den Vorgriff über die staatliche Geldschöpfung im keynesianischen Zeitalter nachträglich fast als Kinkerlitzchen erscheinen lassen. Je weiter hinauf der Aufstieg führt, desto tiefer aber ist natürlich der anschließende Fall. Die Entkopplung des fiktiven Kapitals von der realen Wertverwertung bleibt relativ, auch wo sich der Finanzüberbau zur Basis der Realwirtschaft verkehrt, und kann nicht absolut werden. Früher oder später muß die Uneinlösbarkeit des Verwertungsversprechens das ganze gigantische spekulative Gebäude zum Einsturz bringen. Dies bedeutet keineswegs nur eine Rückkehr zum Status quo ante. Mit dem Ende des kasinokapitalistischen Booms muß der gesamte über viele Jahrzehnte angestaute Entwertungsbedarf auf allen Ebenen zu Tage treten und die überspielten strukturellen Schranken der weiteren Kapitalverwertung werden schlagartig spürbar werden. Die Politik kann die anstehende Entwertung nicht aufhalten, sondern allenfalls verzögern und die Verlaufsform der Entwertung beeinflußen. So kann sie vor allem auf das Mischungsverhältnis deflationärer und inflationärer Prozesse einwirken, also auf die Frage, ob in erster Linie fiktives Geldkapital vernichtet oder, durch den Versuch, die Verluste zu sozialisieren, das Geldmedium selber beschleunigt entwertet wird.
Die Spekulationswellen, die Marx beschrieben hat, verhalten sich zum modernen Kasinokapitalismus wie die erste Dampflok zur Challenger-Raumfähre. Gerade deshalb sollten Marxisten sich angesichts der skizzierten Perspektive ins Stammbuch schreiben, was Marx anläßlich der aktuellen Handelskrise von 1857 in der “New York Daily Tribune” damals zu Papier gebacht hat: “Wenn Spekulation gegen Ende einer bestimmten Handelsperiode als unmittelbarer Vorläufer des Zusammenbruchs (crash) auftritt, sollte man nicht vergessen, daß die Spekulation selbst in den vorausgehenden Phasen der Periode erzeugt worden ist und daher selbst ein Resultat und eine Erscheinung (accident) und nicht den letzten Grund und das Wesen (the final cause and the substance) darstellt. Die politischen Ökonomen, die vorgeben, die regelmäßigen Zuckungen (spasms) von Industrie und Handel durch Spekulation zu erklären, ähneln der jetzt ausgestorbenen Schule von Naturphilosophen, die das Fieber als den wahren Grund aller Krankheiten ansehen.”7
Ernst Lohoff ist Publizist und Mitherausgeber der “Krisis” in Nürnberg.
Anmerkungen
1 Karl Kautsky, der Gralshüter der marxistischen Orthodoxie, hat den realen Gegensatz von zusammenbruchstheoretisch orientierter Krisenanalyse und soziologistischer Grundhaltung auf den Punkt gebracht: “Nicht von der Möglichkeit oder Notwendigkeit eines kommenden Zusammenbruchs oder Niedergangs des Kapitalismus hängen die Aussichten des Sozialismus ab, sondern von der Erwartung, die wir hegen dürfen, daß das Proletariat genügend erstarkt.” (Zitiert nach Henryk Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Frankfurt/M., 1970, S. 73).
2 Selbst wo Marx in seinen Schriften selber dem Soziologismus den Weg ebnet, bleibt ein zusammenbruchstheoretisches Moment gegenwärtig, das dazu nicht recht passen will. Das gilt namentlich fürs Kommunistische Manifest. Während dort einerseits die Klassenkampfemphase ihre klassische Gestalt gewinnt (“alle bisherige Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen”) und die Arbeiterklasse in den Stand des neuen Demiurgen erhoben wird, bemüht Marx andererseits für das Proletariat die Metapher des “Totengräbers”. Totengräber bringen in der Regel aber nur unter die Erde, was ohne ihr Zutun vorher gestorben ist.
3 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1974, S. 593.
4 Marx, Grundrisse, a.a.O., S. 593.
5 Staatsbankrotte kamen in der Frühgeschichte des Kapitals regelmäßig vor. Es macht allerdings einen gewaltigen Unterschied, ob ein Staat, der nur als Luxuskonsument auftrat (Militär, Hofhaltung) und weniger als 5 Prozent des vorhandenen Reichtums an sich zog, Konkurs anmeldet, oder ein moderner, für die alltägliche gesellschaftliche Reproduktion unverzichtbarer Staat, der 40 bis 50 Prozent des Bruttosozialprodukts verwaltet.
6 Nur scheinbar widersprechen dieser Feststellung die gegenwärtigen Budgetüberschüsse in den USA. Denn sie sind nur das Produkt einer Verlagerung der ungedeckten Geldschöpfung in die transnationalen Finanzmärkte und damit einer Zuspitzung in der Entwicklung des fiktiven Kapitals, wie gleich noch gezeigt werden soll.
7 MEW 12, S. 336f.