31.12.2000 

Hinter der Strahlung steht der Wert

Zwanzig Thesen zur Energetik der Warengesellschaft

Einführungsvortrag auf der Anti-AKW-Bundeskonferenz 2000 (31. März bis 2. April 2000 in Mühlheim an der Ruhr)

Ernst Lohoff

1.

Die kommende Bundeskonferenz steht unter dem Motto “hinter der Strahlung steht der Wert”. Dieser Sinnspruch wirkt vielleicht zunächst einmal ein wenig rätselhaft. Er zielt auf zwei sehr grundsätzliche, dabei aber durchaus fassbare Fragen. Welche Bedeutung hat die Energiepolitik im Allgemeinen und das Atomprogramm im Besonderen in der Entwicklung der modernen Warengesellschaft? In welchem Verhältnis steht der Widerstand gegen die sogenannte friedliche Nutzung der Atomenergie zu einer generellen Kapitalismuskritik?

2.

Der traditionelle Antikapitalismus hat zur Lösung dieser beiden eng miteinander verzahnten Probleme wenig beigetragen. Er konnte bestenfalls metaphorisch einen Zusammenhang zwischen der “Ausbeutung der Natur” und der “Ausbeutung des Menschen” herstellen, diesen aber nicht wirklich analytisch klären. Angesichts dieses Versagens wurde die Kritik der ökologischen Zerstörung und besonders der Atomenergie ohne großen Bezug auf eine weiterreichende Kapitalismuskritik entwickelt und vornehmlich als Technologiekritik formuliert. Die ökologischen Vordenker problematisierten energisch die “industriegesellschaftlichen Instrumente”; die Kritik an der warengesellschaftlichen Logik, die für die Durchsetzung und Anwendung dieser Technologien sorgt, blieb dagegen entweder moralisch oder unscharf. Der linke Flügel der Ökologiebewegung hat ein Vierteljahrhundert lang proklamiert, dass AKWs und Artverwandtes eine Ausgeburt der kapitalistischen Ausbeutungs- und Profitlogik sind; besonders weit hat ihn diese Versicherung aber nicht gebracht. Viel mehr als eine rein additive Verknüpfung von Anti-AKW-Protest und der Gegnerschaft zum kapitalistischen System kam nicht zustande.

3.

Der traditionelle Antikapitalismus hat sich um die Delegitimierung der berühmt-berüchtigen “Mehrwertproduktion” zentriert. Die Aneignung unbezahlter lebendiger Arbeit durch das Kapital galt als das entscheidende Charakteristikum der herrschenden Gesellschaftsordnung. Diese Grundausrichtung liefert keinen Ansatz, um den stofflichen Inhalt der kapitalistischen Produktion zu thematisieren und zu problematisieren.

Ein solcher Zugang eröffnet sich dagegen, wenn wir “Mehrwertproduktion” anders, nämlich als einen fetischistischen, Kapital- wie Lohnarbeitsinteresse gleichermaßen vorausgesetzten Selbstzweckbetrieb begreifen. Die Warengesellschaft läßt sich auch in dem Sinne als Mehrwert-Gesellschaft fassen, dass der Antrieb und die Existenzbedingung des kapitalistischen Systems in der Schaffung von immer mehr Wert liegt. Die Warengesellschaft kann sich nur reproduzieren, indem sie auf immer höherer technischer Stufenleiter lebendige Arbeit in tote verwandelt.

4.

Um Wert zu bilden, muss sich Arbeit in verkäuflichen Produkten darstellen. Eine Gesellschaft, deren kategorischer Imperativ in der betriebswirtschaftlichen Vernutzung von Arbeit besteht, unterliegt daher zugleich dem Zwang, um der Produktion willen zu produzieren. In allen Gesellschaften müssen Genussgegenstände hergestellt werden. Die kapitalistische Gesellschaft ist aber in einem ganz spezifischen, davon zu unterscheidenden Sinne Produktionsgesellschaft. In ihr durchbricht die Produktion den Bannkreis der konsumtiven Bedürfnisse. In der Warengesellschaft ist die Produktion nicht für die Bedürfnisse da, sondern umgekehrt. Die Konsumtion existiert für sie überhaupt nur als die Bedingung, unter der sich eine stets anschwellende Masse von Waren in der Geldform zu realisieren hat – sie ist damit nur eine abhängige Variable in der Selbstzweckbewegung der Produktion und deren ständiger Vermehrung.

5.

Die kapitalistische Produktionsweise unterliegt aber nicht nur dem Zwang, möglichst viel Arbeit betriebswirtschaftlich zu vernutzen und deshalb möglichst viel zu produzieren. Die betriebswirtschaftliche Konkurrenz zwingt zugleich zu einer beständigen Ökonomisierung jeder einzelnen Arbeit. Wer im kapitalistischen Wettbewerb bestehen will, muss die in jedes einzelne Produkt eingehende Arbeitsmasse beständig minimieren. Das kapitalistische System kann den Widerspruch, möglichst viel Arbeit profitträchtig zu vernutzen und bei der Herstellung jedes einzelnen Produkts so wenig Arbeit wie irgendmöglich anzuwenden, nur auf einem Wege lösen: Es muss eine an Umfang beständig zunehmende Warenlawine lostreten, also gewissermaßen die Welt unter seinen Erzeugnissen begraben, während der Produktionsprozess auf immer mehr Naturressourcen zugreift. Die Ökonomisierung der Arbeit findet damit ihre Entsprechung in einem beständig anschwellenden Verbrauch von Rohstoffen und Energie.

6.

Diese Gesellschaft verfährt mit der Arbeit ausgesprochen ökonomisch-knausrig und pflegt gleichzeitig einen höchst verschwenderischen Umgang mit allen Ressourcen, die das Kapital ohne Arbeitsvermittlung vorfindet und die deshalb keinen Wert darstellen. Das ist kein Widerspruch. Es handelt sich vielmehr um die beiden Seiten derselben Medaille. Der Akkumulationsprozess funktioniert zugleich als ein Prozess systemischer Kostenexternalisierung und kann überhaupt nur so funktionieren. Natürlich bekommen Rohstoffe und Energie durch die zu ihrer Gewinnung notwendige Arbeit einen Preis. Von daher unterliegen sie einem Prozess sekundärer Ökonomisierung. Das ändert an dem grundlegenden primären Zusammenhang aber genausowenig wie die gutgemeinten Pläne, dem Verbrauch “wertloser Natur” im nachhinein einen Preis zuzurechnen. Würden den betriebswirtschaftlichen Einheiten in ihrer eigenen Währung, sprich in Geld, auch nur ein Bruchteil der Kosten zwangsweise internalisiert, die der kapitalistische Prozess beständig externalisiert, so käme der ganze Verwertungsbetrieb zum Erliegen.

7.

Die selbstzweckhafte Entfesselung der Produktion und ihre Ablösung vom menschlichen Bedürfnishorizont macht die Energieversorgung für die Warengesellschaft zu einem strukturellen Problem. Allen traditionellen Gesellschaften genügte die Nutzung regenerativer Energien und auch einer nachwarenförmigen Gesellschaft wird sie selbstverständlich genügen. Die Warengesellschaft dagegen ist auf ein exponentielles Wachstum der zur Verfügung stehenden Primärenergie angewiesen. Sie hätte sich auf dieser für sie viel zu schmalen Basis gar nicht entfalten können.

8.

Ihre energetische Laufbahn eröffnete die kapitalistische Produktionsmaschine damit, dass sie die regenerativen Energien über ihren Regenerationspunkt hinaus nutzte. Das betraf in erster Linie das Holz, den traditionell wichtigsten Energielieferanten in Europa. Das Vorreiterland der Industrialisierung, Großbritannien, hat seine hegemoniale Position mit der Entwaldung der britischen Insel und Irlands bezahlt; und auch in Deutschland verschwanden im 18. und 19. Jahrhundert vor allem die Mittelgebirgswälder, um als Holzkohle bei der Metallverhüttung zu dienen. Auch wenn heute immer noch, beispielsweise in Brasilien, hochmoderne Stahlwerke ausschließlich mit Holzkohle befeuert werden, so war für den industriekapitalistischen take off doch wesentlich mehr Energie vonnöten, als der Raubbau an einem nachwachsenden Rohstoff liefern konnte.

9.

Die Warengesellschaft löste das energetische Problem, vor dem sie stand, indem sie sich den Energiespielraum, den die Ausbeutung der aktuell vorhandenen Biomasse nicht zur Verfügung stellte, durch den Rückgriff auf die gespeicherte Biomasse der geologischen Vergangenheit verschaffte. Die kapitalistische Entwicklung kam auf Touren, indem sie damit begann, fossile Brennstoffe zu verfeuern. Im 19. Jahrhundert hatte dabei die Kohle den Schlüsselpart des alles entscheidenden Energieträgers inne.

10.

Das 20. Jahrhundert, inbesondere die “Wirtschaftswunderära” nach dem 2. Weltkrieg, brachte zwei Veränderungen mit sich. Zum einen begann das Erdöl der Kohle den Rang abzulaufen. Mit der Automobilmachung der Gesellschaft übernahm es die Hauptrolle und die Kohle trat in den Hintergrund. Zum andern erreichte der Raubbau an der Vergangenheit seither recht eindrucksvolle Dimensionen. In jedem Jahr wurden Mengen an fossilen Brennstoffen verbraucht, für deren Ansammlung die Natur mehrere Millionen Jahre gebraucht hatte. Der Energiebedarf wuchs im Gleichklang mit dem Bruttosozialprodukt, ja zum Teil noch schneller.

11.

Dass sich der Raubbau am energetischen Potential der gespeicherten Vergangenheit nicht unbegrenzt fortsetzen läßt, erkannten selbst die kapitalistischen Planer. Lange bevor die ökologischen Folgen der Verbrennungswirtschaft (CO2, Treibhauseffekt) zum Thema wurden, machte die Angst die Runde, der Brenn-Stoff könnte über kurz oder lang ausgehen. In dieser Situation schien sich aber die Nutzung der Atomenergie als ein Art Königsweg anzubieten und wurde dementsprechend als strategische Option nach Kräften durchgesetzt. Sie bot nämlich die Möglichkeit, künftig zur Befriedigung der warengesellschaftlichen Energiesucht neben der geologischen Vergangenheit auch noch indirekt die Zukunft heranzuziehen und zu verbrauchen: Der kapitalistische Betrieb nutzt billigen Atomstrom und hinterläßt den nachfolgenden Generationen bekanntlich eine strahlende Zukunft.

12.

Kapitalistische Reichtumsproduktion beruht grundsätzlich, also quer durch alle Produktionssektoren, auf dem Prinzip der Lastenexternalisierung. Das hat auch eine monetäre Dimension. Die klassische fordistische Industrie, die Automobilindustrie, hätte beispielsweise nie ohne immense staatliche Vorleistungen in den Straßenbau aufblühen können, von der Externalisierung der Folgekosten ganz zu schweigen. Die Atomenergie kann als wirtschaftlich und konkurrenzfähig nur gelten, weil sie dieses Grundprinzip gleich in doppelter Hinsicht wie keine andere Industrie verkörpert. Zum einen verschiebt sie die Folgekosten für den Nutzen von heute in eine unbestimmte Zukunft. Zum anderen fielen und fallen die enormen Vorkosten dem Staat und damit der Allgemeinheit anheim; sie kommen daher in der betriebswirtschaftlichen Kalkulation nicht vor. Sie erscheinen überhaupt nur vom Standpunkt einer virtuellen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, der in einer auf der Konkurrenz von Privatproduzenten beruhenden Gesellschaft allerdings keine praktische Bedeutung zukommt. Die “friedliche Nutzung der Kernenergie” wäre bekanntlich überhaupt nie ernsthaft ins Auge gefasst worden, wenn die Protagonisten nicht mehr oder minder kostenlos auf die im Rahmen des Wettrüstens geleistete und vom Staat finanzierte Grundlagenforschung und auf die in diesem Zusammenhang entwickelten Schlüsseltechnologien hätten zurückgreifen können. Aber auch in ihrem Fortgang beruht die “Wirtschaftlichkeit” der Atomenergie darauf, dass auf der betriebswirtschaftlichen Kostenseite der Kraftwerksunternehmen mehr oder minder nur die laufenden Betriebskosten erscheinen.

13.

Beim Atomprogramm handelte es sich um eine strategische Option der 60er und 70er Jahre. Wenn man einmal von der engen Verflechtung mit der militärischen Nutzung absieht, läßt sie sich nur im Kontext der damaligen Erwartungen in Hinblick auf die weitere Entwicklung des Energieverbrauchs verstehen. Die staatlichen Administrationen setzten auf die Atomenergie, weil sie die Zuwachsraten der Wirtschaftwunderjahre beim Primärenergiebedarf einfach in die Zukunft verlängerten und (insbesondere im Gefolge des Ölpreisschocks) eine Verknappung der fossilen Brennstoffe und damit eine anhaltende Verteuerung befürchteten.

Diese Erwartungen haben sich bekanntlich nicht erfüllt. In Europa wuchs der Primärenergieverbrauch zwischen 1987 und 1996 nur mehr um 18%. In den USA lag die Zuwachsrate im gleichen Zeitraum sogar nur bei 8%. Die damit einhergehenden Dauertiefpreise für fossile Energien haben den Drang, das Atomprogramm um jeden Preis weiter auszubauen, merklich gebremst. Von einem zügigen Ausbau der Atomwirtschaft kann weltweit seit Mitte der 80er Jahre nicht mehr die Rede sein.

14.

Die rückläufigen Zuwachsraten beim Primärenergieverbrauch der OECD-Staaten in den letzten 20 Jahren dienen oft als Beleg dafür, dass die Marktgesellschaften heute im Übergang von einem energetisch verschwenderischen Industriekapitalismus zu einem energetisch bescheideneren, aber blühenden Dienstleistungskapitalismus begriffen wären. Diese Vorstellung vereint gleich zwei Illusionen in sich. Zum einen bleibt auch im Übergang zur “Dienstleistungsgesellschaft” das industrielle Schneeballsystem die stoffliche Grundlage der Warengesellschaft. Zum andern untergräbt das Kapital, indem es die lebendige Arbeit aus der unmittelbaren Warenproduktion eliminiert, seine eigenen Voraussetzungen. In einer “Dienstleistungsgesellschaft” findet das Kapital keine neue, auf Dauer tragfähige Basis. Für die sinkenden Zuwachsraten beim Primärenergieverbrauch in den OECD-Staaten sind in Wirklichkeit vornehmlich zwei Faktoren verantwortlich: Eine strukturelle Wachstumsschwäche der Weltökonomie und die Verlagerung besonders energieintensiver Fertigungszweige in die “Schwellenländer”.

15.

Zwar ist der Anteil des produzierenden Gewerbes am Arbeitsmarkt tatsächlich zusehends gesunken. Das heißt aber keineswegs, dass die industriell fabrizierte Warenlawine deswegen grundsätzlich weniger an Wucht zunehmen muss als in früheren Phasen kapitalistischer Entwicklung. Denn die verbliebenen Beschäftigten stellen zwar mit weniger Arbeit, aber vervielfachtem Ressourcen- und Energieaufwand mehr Industriegüter her denn je; und solange der warengesellschaftliche Laden überhaupt läuft, ist gar nichts anderes möglich. Im postfordistischen Zeitalter rollen mehr und energieintensiver produzierte Autos über die Straßen als während des Hochfordismus. Die Zahl der elektrischen Geräte, die angeschafft, in Haushalten betrieben und dann entsorgt werden müssen, steigt. Auch wenn der Energiebedarf des einzelnen Exemplars (sekundäre Ökonomisierung) gesunken sein mag, der Gesamtbedarf klettert weiter. Wenn sich dieser Anstieg relativ verlangsamt hat, dann vor allem wegen der krisenhaften Wachstumsschwäche des Realkapitals. Wo reale Rückgänge im Verbrauch stattgefunden haben (Russland), geschah dies nur im Gefolge von nationalökonomischen Zusammenbrüchen.

16.

Der fordistische Boom hat in den 70er Jahren ein Ende gefunden. Die Realakkumulation, die produktive Vernutzung lebendiger Arbeit, ist ins Stocken geraten. Damit hat sich auf der energetischen Seite die Flucht in die Vernutzung der Zukunft im nachhinein als voreilig erwiesen. Trotz dieser Entwicklung ist zumindest den Zentren des warengesellschafltichen Weltsystems ein manifester Kriseneinbruch bislang erspart geblieben. Dieses Mirakel wurde dadurch ermöglicht, dass es dem Kapital gelang, die Zukunft in einer anderen Weise anzuzapfen. Im Kasinokapitalismus ist an die Stelle der Vernutzung realer gegenwärtiger Arbeit der Vorgriff auf fiktive künftige Arbeitsmengen getreten, die nie mehr tatsächlich nachfolgen werden. Die Ausdehnung von Kreditketten, das Auftürmen von Schulden und monetären Besitztiteln und die allgemeine Tendenz, sich qua Börsenkapitalisierung reich zu rechnen (also durch die Bildung von fiktivem Kapital im Aktienboom), ist zum Ersatzmotor der Weltwirtschaft geworden.

17.

Für die energetische Seite ergibt sich daraus wohl folgende Perspektive: Solange die kasinokapitalistische Dynamik trägt und die Realwirtschaft nur notdürftig auf Touren hält, dürfte der Primärenergiebedarf weiterhin vergleichsweise moderat steigen. Auch die Tendenz, dass der Energiebedarf der Industrie relativ zum Anteil von Verkehr und Transport zurückgeht, wird sich wohl fortsetzen. Gerade die energetischen Wachstumsbereiche (Luft- und Straßenverkehr) sind aber an den Einsatz von Erdöl gebunden und taugen nicht als Einsatzgebiet für Atomstrom. Sobald die kasinokapitalistische Blase platzt und ihr Ende auf die Realakkumulation zurückschlägt, ist mit einer massiven Rezession und entsprechend einem deutlich rückläufigen Energiebedarf zu rechnen.

18.

Eine Renaissance der Atomenergie im Sinne eines breit angelegten Neubauprogramms steht weder an der Weltmarktperipherie noch in den kapitalistischen Zentren zu erwarten. Für die Anti-AKW-Bewegung heißt das allerdings keineswegs, dass sie deswegen mangels Gegner überflüssig würde. Sie wird noch über Jahrzehnte damit zu tun haben, gegen den unbegrenzten Weiterbetrieb der bestehenden atomindustriellen Anlagen zu kämpfen.

19.

Die Atomindustrie unterscheidet sich nämlich von den meisten anderen kapitalistischen Fertigungszweigen in einem ganz wesentlichen Aspekt. Endprodukte, aber auch Produktionsmittel unterliegen normalerweise fast überall dem, was Marx als “moralischen Verschleiß” bezeichnet. Lange bevor eine Maschine ihre technische Funktionsfähigkeit eingebüßt hat, verliert sie ihre technische Konkurrenzfähigkeit und wird durch eine neue, produktivere ersetzt. Lange bevor ein Produkt seinen Dienst versagt, ist es durch das Auftreten neuer konkurrierender Waren entwertet und wird ausrangiert. Die Atomindustrie dagegen ist diesem Prozess enthoben, ja er verkehrt sich bei ihr ins genaue Gegenteil. Ihr Erzeugnis, der Strom, veraltet nicht; und je länger ein Kernkraftwerk betrieben wird, desto rentabler und wettbewerbsfähiger wird es. Der betriebswirtschaftliche Standpunkt gebietet es, Atomanlagen nicht vor der Zeit, sondern erst lange nach ihrer Zeit auszurangieren.

20.

Technische Standards bei Atomanlagen sind im Kern Sicherheitsstandards. Sicherheitsstandards enthalten ein “kulturell-moralisches Moment”, sie lassen sich so oder so definieren. Wir werden noch hübsche Überraschungen erleben, mit welchen Manövern Politik und Betreiber versuchen werden, zugunsten der nun einmal vorhandenen Atomindustrie eine neue “Risikokultur” zu installieren. Der ökonomische Imperativ ist klar: Vorhandene Atomanlagen, bei denen die laufenden Betriebskosten nun einmal die geringste finanzielle Belastung ausmachen, haben sich nicht nur zu amortisieren, sondern überzuamortisieren. In diesem Kontext gewinnt der Begriff der Amortisation seine wortwörtliche lateinische Bedeutung zurück. Die Anlagen werden bis zu ihrem Tode, und nicht nur ihrem eigenen, weiterbetrieben. Alles andere wäre vom warengesellschaftlichen Standpunkt aus Verschwendung.

In den östlichen Zusammenbruchsökonomien läßt sich bereits seit langem studieren, was das heißen kann. Ohne entsprechenden Gegendruck ist in Sachen “Verschlankung” der “überzogenen Sicherheitsansprüche” aber auch in den kapitalistischen Zentren sehr viel möglich. Gerade als Auslaufmodell entfaltet die Atomwirtschaft ihre ganzes Gefahrenpotential. Je mehr die Atomindustrie dabei ist, im wahrsten Sinne des Wortes abzuwirtschaften, desto mehr werden sich die kleinen und großen nuklearen Zwischenfälle häufen. Die als “Einstieg in den Ausstieg” verkaufte reale Bestandsgarantie, wie sie die rot-grüne Regierung der Atomwirtschaft gewähren will, ist vor genau diesem Hintergrund zu sehen.