31.12.2001 

Löcher im Ballon

Das Wirtschaftswachstum geht zurück, während die Preise steigen. Nun soll offenbar das Wunschdenken die Abwärtsentwicklung stoppen.

Ernst Lohoff

Die Börse ist nicht frei von Ironie. So nennt man es eine Gewinnwarnung, wenn Verluste ins Haus stehen. Momentan jagt eine Gewinnwarnung die andere.

»Infineon schockt die Anleger«, titelt das Handelsblatt am 21. Juni. SAP, der größte Softwarehersteller Europas, tut dasselbe, aber auch die Konkurrenz aus der Old Economy ist in den Abwärtssog geraten. Bayer gibt für seine stark konjunkturabhängige Kunststoffsparte, die ein Drittel des Gesamtumsatzes erwirtschaftet, ein operatives Ergebnis von minus 28 Prozent bekannt. BASF geht es keinen Deut besser. Philips folgt dem Beispiel von Alcatel und Ericsson und verabschiedet sich von der Handyfertigung, nachdem die Gesamtbilanz des Konzerns im laufenden Quartal mit dem Abschmieren des IT-Bereichs tief in die roten Zahlen gerutscht ist.

Nicht nur für einzelne große Konzerne haben sich die Aussichten eingetrübt, auch makroökonomisch sieht es nicht gerade rosig aus. Zuerst platzte an den Finanzmärkten die Internet-Bubble. Mit einer neunmonatigen Verzögerung haben versiegende Kapitalzuflüsse und einbrechende Umsätze die IT-Branche als realwirtschaftlichen Faktor schrumpfen lassen.

Und wiederum zeitversetzt schlägt das Elend der vermeintlichen Zukunftsindustrien auf die Gesamtökonomie durch. Monatlich müssen in Euro-Land die Wachstumsziffern nach unten korrigiert werden. Die viel beschworene Bodenbildung lässt weiter auf sich warten. Stattdessen dürfte dem Auto- und Wirtschaftskanzler Gerhard Schröder, der sein Schicksal leichtfertig mit der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen verknüpft hat, pünktlich zur Bundestagswahl die Bilanz verdorben werden.

Vor 13 Monaten prognostizierte der Internationale Währungsfonds Deutschland noch eine Wachstumsrate von 3,3 Prozent für das Jahr 2001. Im Mai dieses Jahres war nur mehr von 1,8 Prozent die Rede, und das etwas weniger höfliche Ifo-Institut ging Mitte Juni von 1,2 Prozent aus. Nur die Bundesregierung schwadroniert noch von einer Zwei vor dem Komma. Getreu der kasinokapitalistischen Lehre, dass Erwartungen die Entwicklungen bestimmen, soll offenbar das Wunschdenken die drohende Abwärtsentwicklung stoppen.

Mit dem Erlahmen der Konjunktur taucht zu allem Überfluss ein längst totgesagtes Problem wieder auf. Die Inflation klettert in Euroland auf ein seit zehn Jahren nicht mehr erreichtes Niveau. In Deutschland, wo die Teuerungsrate 1999 noch bei 0,6 Prozent lag, stieg sie im März auf 2,5 Prozent, im April auf 2,8 und im Mai schließlich auf 3,6 Prozent. Solche Zahlen waren seit dem Eintritt in die kasinokapitalistische Wunderökonomie vor zwanzig Jahren hierzulande nur während des kurzen Einigungsbooms zu verzeichnen.

Ist die europäische Wirtschaft etwa auf dem Weg zurück in die siebziger Jahre mit ihrer Stagflation, dem Nebeneinander von chronischer Wachstumsschwäche und Geldentwertung? Die Wirtschaftspresse stellt diese Frage nur, um sie sofort vom Tisch zu wischen. Wie die Europäische Zentralbank (EZB) macht man für die Steigerung der Lebenshaltungskosten allenthalben eine Reihe von Sonderfaktoren verantwortlich. Zum einen hätten BSE und die Maul- und Klauenseuche die Lebensmittelpreise in der EU hochgetrieben. Zum anderen mache sich der Anstieg des Ölpreises sukzessive bei den Folgeprodukten bemerkbar. Außerdem habe die Euro-Schwäche die Importe insgesamt verteuert.

Das Wachstum der Geldmenge M3 jedenfalls, die als Indikator für mögliche künftige inflationäre Tendenzen angesehen wird, habe sich wegen der größeren Zurückhaltung der privaten Banken bei der Kreditvergabe im Euro-Raum sogar verlangsamt. Also doch alles im grünen Bereich?

So viel ist an solchen Entwarnungen richtig: Euroland liegt nicht im Epizentrum der vom Zusammenbruch der New Economy ausgehenden weltwirtschaftlichen Erschütterungen. Genauso wenig wie die relativ günstige Konjunkturentwicklung in den letzten beiden Jahren das Ergebnis von Schröders glorreichen Reformen war, geht die Wirtschaftsflaute auf originär europäische Entwicklungen zurück. Ob die Kernregionen des warenproduzierenden Weltsystems in eine Inflations-Deflations-Spirale hineingeraten oder nicht, entscheidet sich im Wesentlichen auf der anderen Seite des Atlantik.

Vor allem aus zwei Gründen trifft der Absturz der Neuen Märkte erst einmal die USA härter als Europa. Zum einen ist die Nachfrage in den USA viel enger mit dem Börsengeschehen verbunden als in Europa. Dass sich von den weltweit fünf Billiarden Dollar an Aktienwerten, die sich in den letzten 15 Monaten in ihre Ursubstanz, nämlich in heiße Luft, aufgelöst haben, ein ganz erklecklicher Teil aus den Taschen amerikanischer Anleger verflüchtigt hat, ist dabei nur das halbe Problem. Da in den USA in großem Umfang Aktien als Sicherheiten für Konsumkredite benutzt und akzeptiert werden, geht dieser Verlust von fiktivem Kapital unmittelbar mit der massenhaften Vernichtung zahlungsfähiger Nachfrage einher.

Zum anderen kommt dem IT-Sektor in den USA auch bei den realwirtschaftlichen Aktivitäten ein höheres Gewicht zu als im Euro-Raum, von Nokiastan, dem ehemaligen Finnland, einmal abgesehen. Dort ist die Industrieproduktion im ersten Quartal 2001 denn auch gleich um 6,6 Prozent zurückgegangen. Die Nachzüglerrolle Europas in den vermeintlichen Zukunftsindustrien gereicht dem alten Kontinent momentan noch zum Vorteil.

Das Wachstum der US-Wirtschaft lag 2000, für das gesamte Jahr berechnet, noch bei 4,2 Prozent. Die offiziellen Prognosen für das laufende Jahr gehen nur noch von 0,7 Prozent aus. Ob diese bescheidene Erwartung angesichts eines Rückgangs der Industrieproduktion um 2,8 Prozent im Mai sich erfüllen wird, ist fraglich.

Die Bilanz würde aber noch viel verheerender ausfallen, wäre die Bush-Administration nicht dazu übergegangen, ohne Rücksicht auf den Staatshaushalt mit vorgezogenen Rüstungsausgaben und aberwitzigen Steuersenkungen die Konjunktur zu stützen. Am Ende des kasinokapitalistischen Booms steht in dieser Hinsicht die gleiche Politik, mit der Reagan und Co. in den achtziger Jahren dem neuen Wunderkapitalismus den Weg geebnet hatten.

Der blühende Spekulationskapitalismus und die durch ihn hervorgerufene Scheinprosperität hatte dem US-amerikanischen Haushalt auf seinem Höhepunkt sogar Überschüsse beschert; nach dem Abflauen der kasinokapitalistischen Dynamik ist wieder die Rückkehr zum deficit spending angesagt, diesmal allerdings auf höherem Niveau. Fast noch wichtiger und folgenreicher als der haushaltspolitische Kurswechsel ist indes der geldpolitische. Sechsmal hat die amerikanische Notenbank (Fed) innerhalb des letzten halben Jahres die Leitzinsen bereits gesenkt, insgesamt von 6,5 auf vier Prozent. »Notenbankchef Alan Greenspan ist auf dem besten Wege, die Wirtschaft monetär zu fluten«, kommentierte das Handelsblatt.

Die ultra-expansive Geldpolitik hat innerhalb des herrschenden Irrsinns durchaus ihren Sinn. Die massenhafte Liquiditätsschöpfung läuft auf den Versuch hinaus, in den löchrigen Spekulationsballon um jeden Preis neue Luft hineinzupumpen. Die Bereitstellung von zusätzlichen, auf die Verwandlung in fiktives Kapital drängenden Geldmassen soll die Entwertung des vorhandenen fiktiven Kapitals stoppen und damit auch deren realökonomische Folgen abwenden.

Dieses Heilmittel zeitigt allerdings gewisse Nebenwirkungen. Die aus dem Spekulationsballon wieder entweichende Liquidität, also das Geld, das angesichts der trüben Aussichten der Unternehmen nicht mehr den Weg auf die Finanzmärkte findet, muss letztlich, über welche Umwege auch immer, als inflationstreibende, weil durch keine realwirtschaftliche Aktivität gedeckte Kaufkraft zu Buche schlagen.

Es ist unwahrscheinlich, dass es gelingt, eine noch größere spekulative Blase herbeizureden als die im letzten Jahr geplatzte, in der die zusätzliche Liquidität verschwinden könnte. Entwertung steht demnach auf der Tagesordnung. Die Frage ist allerdings, was in erster Linie entwertet wird: die privaten Besitztitel und Ansprüche oder das Geldmedium als solches. Über das Mischungsverhältnis sowie den zeitlichen Horizont entscheidet die Geldpolitik.

Erste Anzeichen dafür, dass auch die »demokratische« Form der Wertberichtigung, also die Inflation, eine wesentliche Rolle spielen dürfte, werden bereits sichtbar. Für Europa mag es ja noch angehen, die Preissteigerung der letzten Monate auf besondere Faktoren zurückzuführen. In den USA aber hat sich die Inflationsrate seit 1999 mehr als verdreifacht und liegt jetzt bereits mit 5,6 Prozent deutlich über dem europäischen Niveau.

Das sticht umso mehr ins Auge, als die hierzulande so gern zitierten einmaligen Einflüsse – mit Ausnahme der gestiegenen Rohölpreise – in den USA keine Rolle spielen oder sogar in die entgegengesetzte Richtung wirken. So verbilligten sich in den USA die Importe wegen der Verschiebungen in den Wechselkursrelationen.

Dass Euroland nicht im Mittelpunkt der Krise steht, macht es noch lange nicht zu einer Insel der Seligen. Nicht nur die rezessive Entwicklung beschleunigt sich. Die Frankfurter Währungshüter der EZB haben ebenso wenig eine Chance, ihren Einflussbereich mittelfristig, geschweige denn langfristig vor inflationären Tendenzen abzuschirmen. Nicht nur das Verlangen nach einer Lockerung der Geldpolitik muss sich in dem Maße verstärken, in dem die »Wachstumsdelle« (Schröder) auch in der Eurozone zu einer veritablen Wachstumsschwäche wird.

Ebenso dürfte die Sorge um die Weltwirtschaft die EZB dazu zwingen, in das große Geldschöpfungsspiel einzusteigen. Das gesamte kasinokapitalistische Gefüge konnte sich nur herausbilden, weil die USA trotz eines beständig wachsenden Leistungsbilanzdefizits stets in der Lage waren, die Liquidität anderer Länder anzusaugen. Eine Umkehr der monetären Flüsse könnte der arg gebeutelten kasinokapitalistischen Ordnung den Todesstoß versetzen.

Die Richtung dieser Ströme hängt indes nicht allein von dem erstaunlich zähen Glauben an die Solidität des amerikanischen Weltschuldners ab. Sie wird auch von dem Umstand bestimmt, dass das Realzinsniveau in den USA höher liegt als bei den Partnern und Konkurrenten. Die Nullzinspolitik des seit einem Dezennium bereits wachstumsschwachen Japan war und ist in dieser Hinsicht zweifellos ideal. Die Geldschöpfung der japanischen Notenbank hat das Zentralorgan des Weltkapitalismus, die amerikanische Spekulationsblase, mit Nachschub versorgt.

Im Gefolge von Greenspans wiederholten Leitzinssenkungen ist aber der Zinsabstand zum Euro-Raum deutlich geschrumpft. Der Tag ist absehbar, an dem die Fed weitere Zinssenkungen nur vornehmen kann, wenn die EZB dasselbe tut. Mit einer einzigen geringen Leitzinssenkung wie im Juni kommen die Frankfurter kaum davon. Man darf davon ausgehen, dass hinter den Kulissen das Hauen und Stechen, das Ziehen und Zerren längst begonnen hat.