Scheinbar jenseits des obligaten Rassismus hat sich in Österreich, aber nicht nur hier, ein breiter Konsens in puncto ordentliche Einwanderungspolitik etabliert
aus: junge Welt, 6. November 2001
Franz Schandl
Was jeder Ware erlaubt ist und dem Geld sowieso, das wird den allermeisten Menschen kategorisch verweigert. Die freie Wahl des Raumes, in dem sie sich bewegen wollen, ist kein Menschenrecht, sondern Bürgerrecht. Und Bürger ist nur der Staatsbürger. Wenn Ausländer in dessen Burg, den Staat wollen, müssen sie auf nationale Gnade hoffen. Es gilt, was Kant einst sagte: »Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.«
»Einwanderungsland – das heißt nicht, daß jeder kommen kann, der will. Das heißt Festlegung von jährlichen Quoten, mit Maximalalter, bestimmten Berufen und mit der Verpflichtung zum Erlernen der deutschen Sprache.« Das schreibt Ulrich Brunner, ein ehemaliger Chefredakteur des ORF, im Kurier vom 14. Mai. Junge, gut ausgebildete und deutsch sprechende Arbeitskräfte, das ist es, was »wir«, die Identifikationsgemeinschaft der bevorrechteten Österreicher, Deutschen oder Europäer benötigen. Der ordentlichen Ausländerpolitik liegt ein Kriterienkatalog zugrunde, mit dem je nach Bedarf selektiert werden kann.
»Inder mit Kinder(n)«, wie erst vor kurzem ein Sozialwissenschafter soufflierte, wären da wohl goldrichtig, Deutsch- und Computerzertifikate made in Bombay inbegriffen. Worum es geht, ist eine »arbeitsmarktbezogene Zuwanderung« wie die bundesdeutsche Süssmuth-Kommission in ihrem Bericht feststellte. Denn die »Zuwanderung sollte die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft steigern«. Ökonomisch bedeutet das, die Ausbildungskosten der Ware Arbeitskraft zu externalisieren, deren Potenzen und Vorteile aber für den Standort zu realisieren. Was ansteht, ist eine Auswahl aufgrund prognostizierter Wertigkeit: De nemma ma. De nemma ma net.
Sagen die Freiheitlichen: Wir brauchen die Ausländer nicht!, so sagen viele Haider-Gegner: Wir brauchen die Ausländer schon – und denken dabei an diverse Drecksarbeiten oder die Sicherung der Pensionssysteme. Aus beiden Argumentationsfiguren wird aber deutlich, daß hiesige Interessen bestimmen, was gebraucht und was nicht gebraucht wird. Beide identifizieren sich mit Staat und Gesellschaft, nur interpretieren sie deren Anliegen unterschiedlich. Das »wir« hingegen bleibt vorausgesetzt und unhinterfragt. Aber wer ist denn dieses »Wir«? Aus dem Faktum einer formal-gleichen Unterworfenheit unter das Gewaltmonopol kann doch kein positives Bekenntnis irgendeines Österreichertums oder Deutschtums abgeleitet werden. Der Patriotismus entpuppt sich stets als Patrouille des Staates, reell wie ideell. Warum soll man hier partout eingemeindet sein wollen?
Ein Markt der Fluchthilfe
Das Kapital hat eine Weltordnung geschaffen, die, wäre sie nicht von Staaten in ihren jeweiligen Einflußbereichen geschützt, sofort im Chaos versinken würde. Doch die Staaten erodieren und die Migration ist sowieso nicht aufzuhalten. Im letzten Jahr sind Schätzungen zufolge eine Million »Illegaler« in den goldenen Westen geflohen. Von Jahr zu Jahr werden es mehr. Diese Welt treibt sie förmlich dazu. Dort, wo die Kapitalverwertung immer weniger gelingt, verlassen die Menschen ihre Länder gleich sinkenden Schiffen. Wollen sie nicht als »boat-people« enden, müssen sie irgendwo Anker werfen.
Es ist »zu akzeptieren, daß sich angesichts der Globalisierungsprozesse die Frage nicht stellt, ob es künftig Zuwanderung geben wird oder soll. Es wird sie geben, denn die Mobilität von Gütern, Dienstleistungen, Kapital, Kultur und Menschen sind untrennbar miteinander verbunden.« »Verschärfte Grenzkontrollen bremsen die Zuwanderung nicht«, schreibt der Wiener Migrationsforscher Christof Parnreiter in der Schweizer Zeitschrift Widerspruch (Nr. 37/99). »Nicht die Zahl der Zuwanderer wird reguliert, sondern ihr rechtlicher Status.«
Die Zahl der Aufgriffe und Abschiebungen kann nicht einfach von den illegalen Eintritten abgezogen werden. Jene errichten zwar Hürden, schrecken ab und töten, aber sie vermögen nicht Entwicklungen Halt zu gebieten, die stärker sind als alle Strafgesetze und Stacheldrähte, Mauern und Meere zusammen.
Was allerdings sich erhöht, sind die Wanderungskosten, die Fluchthilfe wird teurer. Je mehr Staaten Menschen illegalisieren, desto krimineller wird das Fluchtwesen werden, desto kriminellere Elemente werden sich in diesem Geschäftszweig etablieren. Es kann gar nicht anders sein. Je höher die Strafen, desto größer die Verbrechen.
Die jeweilige nationale Verschärfung folgt der Konkurrenz der Verschärfung. Je restriktiver die einen sind, desto restriktiver müssen die anderen sein. Denn eines stimmt zweifellos: Dort, wo die Schlupflöcher am größten sind, werden noch mehr durchschlüpfen als sowieso gekommen wären. Schließlich ist es ja die hervorragende Aufgabe der Fluchthelfer, die Porösitäten sorgfältig zu studieren und diese Information als integrierten Bestandteil ihrer Geschäftstätigkeit mitzuverkaufen.
Fluchthilfe ist zu einer Dienstleistung geworden. »Je komplizierter und schwieriger es wird, Grenzen zu überwinden, desto mehr sind diejenigen, die diese Grenzen überwinden müssen, darauf angewiesen, entsprechendes »Know how« einzukaufen. Es hat sich ein »Markt der Fluchthilfe« gebildet, der als das unmittelbare Resultat der Grenzabschottung begriffen werden muß. Anders ausgedrückt: So lange es Menschen gibt, die – aus welchen Gründen auch immer – gezwungen sind, Grenzen zu überwinden, diese Grenzen aber für sie geschlossen werden, so lange wird es das Phänomen der kommerziellen Fluchthilfe geben,« schreibt die FFM – Forschungsgesellschaft Flucht und Migration.
Nicht die Schlepper genannten Fluchthelfer illegalisieren die Menschen. Daß sie geschmuggelt werden müssen, ist Folge staatlicher Gesetze. Der Staat erzeugt den Schmuggler. Schlepperbanden sind so nicht die Ursache des Flüchtlingselends, sondern sie füllen bloß eine Marktlücke. Sie sind Folge räumlich-sozialer Disparitäten im Zeitalter der Globalisierung. Während die Zonen des Reichtums sich zusammenziehen, dehnen sich die Gebiete des Elends aus. Da kein Elend elendiglich genug ist, um nicht geschäftsfähig zu werden, ist hier ein Markt entstanden. Je schärfere Maßnahmen sodann ein Staat trifft, desto teurer werden die Fluchthelfer, da deren Risiko steigt.
Die Schlepper sind so keineswegs das Letzte, allerhöchstens das Vorletzte; das Letzte ist der Staat, der den Flüchtlingen die Aufnahme aus Gründen staatsbürgerlicher Exklusivität verweigert. Wenn er gegen die Schlepper einwendet, sie wollen von der Not profitieren, dann beschreibt er seine eigenen Absichten korrekt. Auch der Staat will aus ausgesuchten Asylsuchenden und Wirtschaftsflüchtlingen einiges herausholen.
Ein schmutziges Geschäft?
Die sogenannten Schlepper sind deshalb beim Staat so unbeliebt, weil sie den Flüchtlingshandel privatisieren und daher in Konkurrenz zur ideellen Apparatur der zivilen Gesellschaft treten. Daß die Flüchtlinge den Schlepperbanden oft mehr trauen als den Staaten, in die sie wollen, sagt wohl einiges über die Zustände auf diesem Planeten aus. Doch der Unterschied zwischen Staaten und Schlepperbanden ist kleiner, als man meint. Beide sind für den Menschenhandel, beide wollen Beute machen, beide sind in ihren Methoden nicht zimperlich. Menschliche Objekte sind ihnen Ware, auf Zahlungsfähigkeit und Wertigkeit zu prüfen. Verhält sich der Schlepper wie ein schlauer Einzelkapitalist, so der Staat wie ein oberschlauer Gesamtkapitalist
»Ist Fluchthilfe ein schmutziges Geschäft?«, wird da oft gefragt. – Ja, insofern jedes Geschäft schmutzig ist, ist auch dieses schmutzig. Aber eben nicht mehr. Die Fluchthilfe ist so seriös wie jedes andere Geschäft. Pause. Also ziemlich unseriös. Ende. Wichtig wäre es, sich zur Erkenntnis durchzuringen, daß das Geschäft an und für sich eine schmutzige Kommunikationsform darstellt, bei manchen Geschäften fällt das deutlicher auf, bei anderen wird es erfolgreich verdrängt. Warum sollte gerade Anwesenheit nicht kaufbar und verkaufbar sein, ist doch jedes Anwesen ebenfalls prinzipiell veräußerbar.
Wenn nun eingewandt wird, daß hier eine Notsituation ausgenützt wird, dann ist dem zu entgegnen, daß die Not oder der Mangel Voraussetzung jedes Geschäftes, d.h. jeder Transaktion durch den Tausch ist. Der Tischler lebt von der Not der Menschen, die keine Möbel haben, der Journalist vom Mangel des Publikums an Nachrichten, der Arzt ist Spezialist für gesundheitliche Mängel, der Schlepper Experte für die Nöte der Menschen, die einen bestimmten Aufenthaltsort ohne seine Hilfe nicht erreichen können. Das ist so normal wie grausam. Aber diese Grausamkeit kann nur abgeschafft werden, wenn das System, auf dem sie gedeiht, beseitigt wird. Will der Staat die Grausamkeiten selektiv ausräumen, geht es meist noch grausamer zu.
Der Transportgehilfe kann gut sein oder schlecht sein, wie eben der Tischler ein guter oder ein schlechter sein kann. Daß es bei den Schleppern vielleicht mehr schlechte gibt, hängt mit ihrer Kriminalisierung zusammen. Je mehr man sie kriminalisiert, desto krimineller werden sie, weil sie krimineller werden müssen. Ihr Risiko ist groß, und das wollen sie, wie jeder »vernünftige« Unternehmer, an ihre Kunden, die Flüchtlinge weiterreichen. Das Problem der Flüchtlinge ist nur, daß sie, ungleich anderen Kunden, eine mangelhafte Dienstleistung bei Gericht und Konsumentenschutz nicht einklagen können, weil sie Unbürger sind. Untermenschen, staatlich nicht zugelassen, nicht Mensch, sondern Flüchtling und Schübling.
Wenn der vielseits beliebte österreichische Innenminister Strasser (ÖVP) vom »profitablen und abscheulichen Geschäft des Menschenschmuggels« spricht und diesen »mit allen Mitteln bekämpfen« (Kurier, 14. Mai 2001) will, dann ist jedenfalls nichts anderes gemeint als: Grenzen dicht! Der Eiserne Vorhang, den man jahrzehntelang beklagte, soll nun anders herum funktionieren. Was ansteht, ist die Militarisierung der EU-Außengrenzen. Notfalls wird geschossen. Denn wer hierher will, muß schon einen Grund haben, der »uns«, und nur uns, paßt. Sonst könnte ja wirklich jeder kommen.
Die ausschließliche Betonung der negativen Aspekte der Flucht, das konsensuale Gerede von Schleppern, Schleusern, Schmugglern, geschieht in der Absicht, uns in ideologische Geiselhaft zu nehmen, zu Spießgesellen der entsolidarisierenden Fluchtverhinderungs- und Abschottungspolitik des Nordens zu machen, indem es in perfider Manier die tragischen Schicksale der Flüchtlinge als Folge des Schlepperwesens (was völlig falsch ist) und nicht des Staatswesens (was völlig richtig wäre) demaskiert. Mitleid wird so zum Fallstrick. Die Geschleppten sind im Normalfall keine Verschleppten, sieht man von bestimmten Fällen (z.B. Prostitution oder Kinderhandel) ab.
Irre Realität
Wer auf den Staat als unbedingte Instanz setzt, muß letztlich auch die Folgen mittragen. Realpolitik endet dann bei Ausländer jagenden Grenztruppen und bei der Abschiebung, bei den »Regelungen der Einwanderung«, den »subjektiven Härten«. Man kann sich also nicht konsequenzlos der Logik staatlicher Macht verschreiben. Eine Identifikation mit ihr ist allerdings Bedingung des allseitig eingeforderten Zwangs zur »Konstruktivität«. Warum man sich als Gegner der kapitalistischen Verwertung ausgerechnet ihren staatlichen Selektionskriterien anschließen soll, ist aber ein Rätsel. Die eingeforderte Realitätstüchtigkeit erinnert frappierend an den Grafen Leinsdorf in »Der Mann ohne Eigenschaften«. Ihn läßt Robert Musil sagen: »Realpolitik heißt: Gerade das nicht tun, was man gern möchte«.
Irreal heißt, daß die Realität irre ist, und nicht, daß die an ihr (Ver)Zweifelnden irre sind. Die Realität ist daher nicht als positiver Bezugspunkt zu verstehen, sondern als negative Referenz. Mag die Realität mich, oder schlimmer noch: die vielen Flüchtlinge einholen, so besteht doch kein Bedarf nach jener Realität, bloß weil sie meist die Oberhand behält. Geschichte kennt übrigens nicht nur die Illegalisierung der Fremden, sie kennt auch die Legalisierung der Illegalen. Davon gehen viele Migranten zu recht aus, und ob sie aktuell Recht brechen, ist ihnen recht egal, wenn sie absehbar Recht be- und erhalten.
Natürlich könnte man jetzt einwenden, daß eine Forderung nach Öffnung der Grenzen ganz irreal ist, und im Kapitalismus nicht verwirklicht werden kann. Genau so ist es. Aber was sagt dies anderes, als daß die Herrschaft des Kapitals – und zwar immer dringlicher – beseitigt werden muß. Jeder Realismus, der sich hingegen auf Regelungen und Quoten einläßt, diskriminiert konkrete Menschen im Namen von Staat und Nation. Einer solchen Logik verpflichtet, muß man deren Gemeinheiten teilen, auch wenn man sie nicht sympathisch finden mag.
Man muß die Realität erkennen, aber man muß sie deswegen nicht anerkennen. Ansonsten führt das über kurz oder lang dazu, nur noch die Realität für realistisch zu halten, ja ihr geradezu eine Aura der Ewigkeit zuzuweisen. Indes, Staatsbürgerschaft, Paß und Grenze sind jüngeren Datums, erst im 19. Jahrhundert konnten sie sich »endgültig« (so zumindest der hartnäckige Schein) durchsetzen. Sie sind Kennzeichen eines sich etablierenden Verfassungswesens, das sich nunmehr als absolut begreift.
»Das Konzept des Staatsbürgers macht nur Sinn, wenn einige davon ausgeschlossen bleiben. Und diese Auszuschließenden müssen letztlich eine willkürlich ausgewählte Gruppe sein. Es gibt kein überzeugendes Argument für die Grenzziehung bei den Kategorien des Ausschlusses. Zudem ist das Konzept des Staatsbürgers an die Grundstruktur der kapitalistischen Weltwirtschaft gebunden.« Dies schreibt Immanuel Wallerstein im Widerspruch. Was aber in der Konsequenz auch hieße: Die Leute, die auf diesem Planeten leben, sind Menschen. Nicht Bürger, Inländer, Ausländer, Migranten, Asylsuchende, Angestammte, Entwurzelte, Verwurzelte etc. -, nein, ganz einfach: Menschen. Homo homini homo.
Nicht »Alle Grenzen auf« ist die Forderung, sondern »Alle Grenzen weg«. Natürlich, solange es Staaten gibt, gibt es Einwanderungsgesetze. Aber muß es Staaten geben? Und vor allem: Weshalb? Der Gedanke, daß der Mensch erst Mensch sein darf, wenn ihn ein Staat als Bürger für zulässig erklärt, ist eine Zumutung sondergleichen. Eine, die freilich also solche gar nicht mehr auffallen will. Indes: »Alle Vereinigung muß ganz freiwillig sein«, sagt Oscar Wilde. »Nur in freiwilligen Vereinigungen ist der Mensch schön.«
Es gilt, Verhältnisse zu schaffen, wo niemand auswandern muß, aber alle hin- und herziehen können, wie sie wollen. Wo die Herkunft zu nichts zwingt und die Abkunft nichts besagt. Wo es keine Zugehörigkeiten mehr gibt, die aus irgendeiner nationalen Geworfenheit herrühren. Mit Staat und Kapital ist das nicht zu haben.