31.12.2002 

Mehr Phantasie für Germany

Über die wirtschaftlichen Probleme des ehemaligen Musterschülers Deutschland

aus: Jungle World 09/2002

Ernst Lohoff

Kein Politiker, kein Wirtschaftswissenschaftler, der in seinen Sonntagsreden nicht regelmäßig und pflichtschuldig die Globalisierung und das Ende der Nationalökonomien predigte. Unter der Woche behandeln dieselben Gestalten seltsamerweise die eben auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgten nationalen Wirtschaftsräume aber nach wie vor als entscheidenden ökonomischen Bezugsrahmen. Selbst in dem mittlerweile mit einer einheitlichen Währung ausgestatteten Euro-Raum gilt der Platz, den das eigene Land im Ranking der Teilnehmerstaaten einnimmt, als das zentrale Kriterium, an dem die Qualität der Wirtschaftspolitik der jeweiligen Regierungen abzulesen sein soll. Noch nie tobte der nationale Standortwettbewerb so heftig wie im postnationalen Zeitalter.

Die Bundesrepublik, einst Europas Musterschülerin, ist in der offiziellen Rangliste nach unten gerutscht. Was das Wirtschaftswachstum und die Neuverschuldung des Staates angeht, rangiert sie mittlerweile in den Statistiken an letzter Stelle. Nur mit Mühe und Not konnten Bundeskanzler Gerhard Schröder und Finanzminister Hans Eichel verhindern, dass der Bundesregierung wegen schlechter Noten in diesem zweiten Hauptfach ein blauer Brief der Brüsseler EU-Kommission auf den Tisch flatterte.

Der Vorgang entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Der Stabilitätspakt, der solche Warnungen vorsieht, wenn in Mitgliedsstaaten der Währungsunion die laufende Verschuldung die Dreiprozentmarke zu überschreiten droht, ging auf eine Initiative der Regierung Kohl zurück. Diese hatte ihn im Dezember 1996 in Dublin den widerstrebenden Partnern aufgenötigt, um stabilitätspolitische Entschlossenheit zu simulieren. Jetzt muss ausgerechnet das Urheberland das Verfahren blockieren, um nicht zusammen mit Portugal in der Ecke der unsicheren Kantonisten zu stehen. Nach diesem Präzedenzfall ist der glorreiche Stabilitätspakt Makulatur, was freilich schon bei dessen Verabschiedung absehbar war. Die Bereitwilligkeit, mit der die südeuropäischen Kollegen dem deutschen Finanzminister beisprangen, hat ihren Preis. Silvio Berlusconi hat bereits angekündigt, die Kriterien verändern zu wollen.

Wie die interessierten Kreise hierzulande die ungewohnte Rolle der Bundesrepublik als Schlusslicht in den offiziellen Statistiken interpretieren, ist bekannt. Dass die hiesigen Wachstumsziffern im letzten Jahr mit 0,4 Prozent unter dem EU-Durchschnitt von 1,3 Prozent lagen und die Neuverschuldung mit 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts über der Durchschnittsmarge von 1,4 Prozent, zeige den Nachholbedarf der Bundesrepublik bei Reformen an. Der verkrustete Arbeitsmarkt und die überdimensionierten sozialen Ansprüche ruinierten das Wachstum und den Staatshaushalt. Was aber verbirgt sich wirklich hinter den miesen Ziffern?

Zunächst einmal trifft die Bundesrepublik die globale Rezession stärker als weniger exportorientierte Länder. Wenn die USA und Japan trotz eines deutlichen deficit spending dauernd negative Wachstumsziffern schreiben, dann kann die deutsche Wirtschaft nicht in Blüte stehen. Die Zunahme der Staatsverschuldung in der Bundesrepublik spiegelt getreulich den Verlauf der Weltkonjunktur wieder.

Für das im Vergleich zu den europäischen Nachbarn schlechte Abschneiden der Bundesrepublik sind aber noch andere, strukturelle Gründe verantwortlich. Auf den ersten Blick mag es seltsam anmuten, aber ein entscheidender Nachteil der Bundesrepublik in der innereuropäischen Standortkonkurrenz ist die Größe des Landes. Nicht zufällig weisen bevölkerungsarme Staaten wie Finnland, Luxemburg und Irland sogar Haushaltsüberschüsse aus, während die großen Flächenstaaten die unteren Plätze in der Tabelle einnehmen. Unter den Bedingungen von entgrenzten Kapitalmärkten und Steuerdumping haben die kleineren Länder im Gegensatz zum nationalökonomischen Zeitalter in der Standortkonkurrenz die bessere Ausgangsposition. Der Fiskus kann dort großzügig Abgaben und Steuern senken und doch mehr Einnahmen verbuchen, wenn die günstigen Bedingungen nur genügend ausländische Steuerzahler und Geldanleger über die Grenzen locken.

Der Boom beispielsweise in einem der einstigen Armenhäuser Europas, in Irland, beruht wesentlich darauf, dass große europäische Firmen Teile ihrer Verwaltung ausgelagert haben und ihre Gewinne lieber auf der Insel versteuern als in ihren Ursprungsländern. Ein Staat mit 80 Millionen Einwohnern, der auf diese Überkompensationsmethode setzten wollte, betröge sich dagegen selbst. Der relative Einnahmenverzicht würde nie und nimmer durch entsprechenden Kapitalzuzug ausgeglichen.

Die Bundesrepublik ist freilich nicht nur gegenüber den kleineren Mitgliedsstaaten ins Hintertreffen geraten. Auch Frankreich, das mit ganz ähnlichen Strukturproblemen zu kämpfen hat, ist an Deutschland vorbeigezogen. Die offiziellen Wachstumsziffern liegen dort seit Mitte der neunziger Jahre im Schnitt um rund 0,5 Prozent höher als hier.

Der Unterschied hat freilich weniger mit der wirtschaftlichen Realität als mit divergierenden Bilanzierungsmethoden zu tun. Anders als die deutschen Statistiken beruhen die französischen auf dem so genannten »hedonischen Preisindex«. Unternehmensinvestitionen gehen nicht einfach nur mit ihrem tatsächlichen Geldwert in die Bruttosozialproduktberechnung ein, auch gesteigerte Kapitalproduktivität wird als Wohlstandsvermehrung mitkalkuliert. Insbesondere durch den Siegeszug der Mikroelektronik, mit seiner Kombination von Preisverfall und Leistungsexplosion, ist dieser Berechnungsunterschied zu einer entscheidenden Größe geworden.

In Deutschland vermehrt eine Computeranlage das Bruttosozialprodukt nur um ihren Anschaffungswert, auch wenn sie weit effektiver ist als ihre Vorgängerin. In Frankreich dagegen erscheint der technische Fortschritt als zusätzliche Wertsteigerung in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Kurt Richebächer hat bereits 1999 in der Börsenzeitung für die USA vorgerechnet, dass in jenem Jahr etwa die Hälfte des ausgewiesenen Wachstums von 3,9 Prozent auf diesen Effekt zurückging. Überträgt man das auf die innereuropäischen Verhältnisse, dann verflüchtigt sich Frankreichs Vorsprung.

Auf eine an den international mittlerweile erreichten Standards gemessen allzu phantasiearme Bilanzierung geht erst recht der Spitzenplatz Deutschlands beim Haushaltsdefizit zurück. Schon bei der Einführung des Euro war es ein offenes Geheimnis, dass es bei der Einhaltung des Dreiprozentkriteriums in vielen Staaten nicht mit rechten Dingen zuging. Nur die Erlöse aus dem Verkauf von Staatsunternehmen und die Auslagerung von Kosten in ein System von Schattenhaushalten erlaubten es Italien und Frankreich, ihre Defizite unter die magische Grenze zu drücken. In Frankreich wurden beispielsweise Schulden der staatlichen Haushalte zu den Sozialkassen verschoben. Je mehr die Zahlen der verschiedenen Staaten verglichen werden, desto unvergleichbarer werden sie.

Nach dem Ende des Booms der neunziger Jahre scheint der Westen aus der These, die Hälfte der Wirtschaft sei Psychologie, nun die logische Konsequenz zu ziehen. Die guten Nachrichten, die sich sonst nicht einstellen, werden erfunden und die schlechten wegretuschiert. Die Privatwirtschaft hat die Vorreiterfunktion in dieser Disziplin bereits übernommen.

Aber auch die Staaten liegen nicht schlecht im Rennen. Das Überleben der japanischen Wirtschaft hängt schon seit zehn Jahren an der konzertierten Aktion des Schuldenversteckens der Banken und der Regierung. Auf die Lernfähigkeit der Bundesregierung dürfte Verlass sein. Sie wird es schon noch verstehen, ihren größten Standortnachteil, den zurückgebliebenen Phantasiekoeffizienten, auf internationales Niveau zu heben. Das wichtigste Instrument postmoderner Wirtschaftspolitik im 21. Jahrhundert ist nun einmal der kreative Umgang mit Statistiken, auch im Land der bisher Biederen.