In der Krise nützt auch die beste Macherideologie nichts. Gefühltes Rot-Grün VI: die Wirtschaftspolitik.
aus: Jungle World 29/2002
Von Ernst Lohoff
Traditionell pflegen die Wirtschaft und die Sozialdemokratie kein allzu intimes Verhältnis. Mit Gerhard Schröder als Bundeskanzler hat sich das bekanntlich verändert. Der »Genosse der Bosse« konnte Helmut Kohl nicht trotz, sondern wegen seiner Wirtschaftsnähe ablösen. Der Kanzler mag bei jeder Gelegenheit betonen, wie sehr ihm der Standort Deutschland am Herzen liegt, bestenfalls sozialdemokratische Propagandisten bescheinigen der amtierenden Regierung deswegen eine kohärente Wirtschaftspolitik.
Mit der Steuerreform hatte Rot-Grün das Pulver schon verschossen. Ansonsten profilierte sich die Bundesregierung lediglich mit populären Ad-hoc-Maßnahmen, wie der einstweiligen Rettung des Holzmannkonzerns.
Das kommt nicht von ungefähr. Im heutigen Stadium des Kasinokapitalismus ist die klassische staatliche Wirtschaftspolitik auf ihre Simulation zusammengeschrumpft. Mit Ausnahme der Weltmachtökonomie der USA hatten die großen entwickelten Flächenstaaten wie die Bundesrepublik in den achtziger und neunziger Jahren überhaupt nur bedingt die Chance, auf der historischen Deregulierungswelle zu surfen.
Sie liefen stets Gefahr, unmittelbare Wettbewerbsvorteile beim Anlocken transnationalen Kapitals mit enormen Haushaltsdefiziten und der Zerstörung der eigenen Infrastruktur zu erkaufen und mittelfristig die Konkurrenzbedingungen eher zu verschlechtern als zu verbessern.
Dabei ist die rot-grüne Regierung mit der ihr eigenen Mischung aus Macherideologie und einer Wirtschaftspolitik des Als-ob erst einmal gar nicht so schlecht gefahren. So wenig Einfluss die Bundesregierung auf die Wechselfälle der Weltkonjunktur hatte, die weltwirtschaftliche Entwicklung kam ihr während der ersten Hälfte der Legislaturperiode sehr entgegen.
Nicht nur die durch die Aufnahme der 630-Mark-Jobs in die offizielle Statistik erschwindelte Beschäftigungssteigerung fand in den Arbeitsmarktzahlen ihren Niederschlag. Der Boom der New Economy brachte zumindest in einigen Bereichen neue Arbeitsplätze mit sich. Das weltweite spekulative Anzapfen künftiger Profite, die es nie geben wird, spülte gleichzeitig direkt oder indirekt auch Geld in die deutsche Staatskasse. Allein der Verkauf der UMTS-Rechte brachte dem Fiskus im Jahr 2000 rund 50 Milliarden Euro ein – auf den einzelnen Einwohner umgerechnet immerhin ein einmaliger Geldregen von 614 Euro.
Die Bundesregierung feierte diese glücklichen Umstände als Resultat ihrer Konsolidierungspolitik. Einen kleinen Haken aber hatte dieser Trick. Denn das Wahlvolk könnte nicht nur den Aufschwung auf dem Konto der rot-grünen Regierung verbuchen, sondern auch den folgenden Abschwung. Vom Stimmungshoch, dessen sich die amtierende Regierung zur Mitte der Legislaturperiode erfreute, ist heute nichts mehr übrig. Der Ausgang der Wahlen im September dürfte denn auch wesentlich davon abhängen, ob die von der Exportkonjunktur getragene Zwischenerholung, die in diesem Jahr einsetzte, schon zu Ende ist oder noch eine Weile dauert.
Die rot-grüne Regierung hat ihr Schicksal von Beginn an mit der Entwicklung der Arbeitslosenziffern verknüpft. Wirtschaftspolitik betrieb sie vor allem als ein Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. In diesem Sinn hat auch die sozialdemokratische Wählerschaft 1998 die Wirtschaftsnähe des Automanns aus Hannover goutiert. Der direkte Draht zwischen dem Bundeskanzler und den Unternehmern, so die Hoffnung, würde die Lage auf dem Arbeitsmarkt entspannen und einen Beitrag zur Fortsetzung der Sozialpartnerschaft auch im Zeitalter der Globalisierung leisten.
Mit der Verdüsterung der wirtschaftlichen Gesamtperspektive vollzog sich eine ebenso entscheidende wie nachhaltige Veränderung. Der vermeintliche Zweck der Wirtschaftspolitik, die Senkung der Arbeitslosenzahlen, mutierte zu ihrem zentralen Inhalt. Mit der Jahrtausendwende verlor das neoliberale Programm der Deregulierung und Privatisierung in der ganzen Welt seinen Schwung.
Angesichts fallender Aktienkurse drängt kein Staatsunternehmen mehr an die Börse. Und nach jedem neuen Bilanzfälschungsskandal ertönt allenthalben der Ruf nach mehr statt nach weniger staatlicher Aufsicht. Aus der viel bewunderten Leitfigur der neunziger Jahre, dem dynamischen Manager, der schnelles Geld macht, wird zusehends eine Hassfigur. Der Aufstieg des Telekomchefs Ron Sommer zum Sündenbock der Nation der Kleinanleger spricht in dieser Hinsicht Bände.
Auf dem Gebiet der Arbeitsmarktpolitik hingegen kommt das neoliberale »Reformprogramm« unter sozialdemokratischer Federführung erst richtig auf Touren. Kaum begannen die offiziellen Arbeitslosenziffern im Jahr 2001 wieder zu steigen, machte Schröder mit seiner berüchtigten Kampagne gegen die Faulheit die Arbeitslosen mobil. Spätestens mit den Vorschlägen der Hartz-Kommission wurde klar, wohin die Reise geht: Die Schutzräume, die der zweite Arbeitsmarkt bisher bietet, haben zu verschwinden. Verschärfte Repression soll dafür sorgen, dass ein zunehmend deregulierter, um einen Billiglohnsektor erweiterter erster Arbeitsmarkt die im Sinne der Kapitalverwertung Überflüssigen aufnimmt.
Realökonomisch gesehen taugt der Feldzug gegen die Arbeitslosen keinesfalls als Basis für eine Neuformierung des Standorts. Auch wenn es gelingt, den working poor nach Deutschland zu importieren, auf dieser Figur lässt sich weder ein neuer Wachstumszyklus gründen, noch hat die Bundesrepublik die geringste Chance, im allgemeinen Dumpingwettbewerb einen der vorderen Plätze zu erringen. Am Ende reicht es bestenfalls für eine Reduzierung der Sozialausgaben, und selbst das scheint noch fraglich.
Das heißt aber keineswegs, dass die neue Arbeitsmarktpolitik folgenlos bliebe. Auf jeden Fall zeigt sie einen grundlegenden gesellschaftlichen Klimawechsel an und treibt ihn voran. Mit dem Angriff auf den zweiten Arbeitsmarkt verändern sich auch die Bedingungen auf dem ersten nachhaltig.
In anderen Ländern vollzog sich der große Vereinzelungsschub und die Zersetzung der traditionellen kollektiven Arbeitnehmervertretungen bereits im Zeichen des neoliberalen Wohlstandsversprechens. Hierzulande entwickelt der gleiche Prozess erst mit der kasinokapitalistischen Krise seine ganze Wucht. Unabhängig davon, wie die nächsten Bundestagswahlen ausgehen.