Die Krise der Arbeitsgesellschaft ist offensichtlich geworden. Der Glaube an neue Beschäftigung für Hunderttausende ist irreal.
Ernst Lohoff
In den späten siebziger und frühen achtziger Jahren galt es nicht nur im linksalternativen Milieu, sondern auch auf Soziologentagungen als ausgemacht: Der Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus. Die Revolution der Mikroelektronik verwandle nicht allein mechanische Schreibmaschinen, sondern auch die Ware Arbeitskraft in einen unverkäuflichen Anachronismus.
Die Entkoppelung der Reichtumsproduktion von der Arbeit müsse zu einem grundlegenden gesellschaftlichen »Wertewandel« führen. Allenthalben wollte man bereits eine neue, »postmaterielle Orientierung« (Ronald Inglehart) erkennen. Es schien sich die Entstehung einer »Tätigkeitsgesellschaft« (Ralf Dahrendorf) abzuzeichnen, die bewusst mit dem Primat der Erwerbsarbeit breche.
Überflüssige Menschen
Ein Vierteljahrhundert später hat sich der erste Teil der Prognose zwar bestätigt, aber nur um die damit verknüpfte Hoffnung gründlich zu blamieren. Unabhängig vom wirtschaftlichen Zyklus wächst die Masse des für das globalisierte Kapital unverwertbaren und damit vom arbeitsgesellschaftlichen Standpunkt überflüssigen Menschenmaterials.
Statt mit einer Relativierung des Diktats der Arbeitsgesellschaft ging diese Entwicklung aber mit dessen Verschärfung einher. Noch nie war die Arbeitsgesellschaft so sehr Arbeitsgesellschaft wie heute. Je prekärer langfristig die Perspektive für die Anbieter auf dem Arbeitsmarkt, desto entschiedener fühlt sich jeder verpflichtet, das größte Glück auf Erden im erfolgreichen Management seines »Humankapitals« zu sehen. Die Krise der Arbeitsgesellschaft ist Wirklichkeit geworden, um aus der öffentlichen Debatte zu verschwinden.
Das herrschende Bewusstsein erkennt überall Unflexibilität und Sozialschmarotzertum. Es spricht von »Nieten in Nadelstreifen«, die Unternehmen in Sackgassen geführt hätten, und von verkrusteten sozialstaatlichen Strukturen, die unbedingt aufgebrochen werden müssten. Der nahe liegende Gedanke, der arbeitsgesellschaftliche Imperativ könne das eigentliche Problem sein und nicht die mangelnde Bereitschaft, ihm Genüge zu tun, aber darf nicht mehr ausgesprochen werden.
Dass die politische Klasse mit Leerformeln und Lügen hantiert, ist man seit jeher gewohnt. Heute ist sie aber einen Schritt weiter und bezieht sich nur noch halluzinierend auf die soziale Realität. Die Regierung, die Opposition und die assistierenden »Experten« kennen nur noch einen Modus operandi, den Irrealis. Die Dekonstruktivisten haben die Krisenwelt nur weginterpretiert, unter Gerhard Schröder und Peter Hartz wird die Entsorgung der Wirklichkeit zur unmittelbaren materiellen Gewalt.
Das weltwirtschaftliche Gefüge kracht, in Deutschland indes hat man davon offenbar noch nichts gehört und führt unverdrossen die denkbar provinziellste Standortdebatte. Seit dem Ende der New Economy wird sichtbar, dass der Arbeitsgesellschaft längst der Boden unter den Füßen weggebrochen ist, die wild gewordenen Reformer indes schwadronieren von neuer Beschäftigung für Hunderttausende.
Ausgerechnet in der Rezession soll der erste Arbeitsmarkt jetzt die Menschen aufnehmen, die schon während des kasinokapitalistischen Booms bestenfalls auf dem zweiten noch Platz fanden. Die Regierung erklärt der Arbeitslosigkeit den Krieg, einen Krieg freilich, der, soweit er nicht auf einen Kampf gegen die Arbeitslosen hinausläuft, sich auf seltsame Umbenennungen reduziert. Der Kanzler lässt die Arbeitsämter schließen, um sie als Job-Center neu zu eröffnen. Er kennt keine Arbeitslosen, sondern nur noch Ich-AGs und Angestellte der Personal-Sevice-Agenturen. Dass dabei die Wochenarbeitszeit in der Regel bei null Stunden liegen dürfte, verschwindet im Kleingedruckten.
Das Erbe des Kasinokapitalismus
Aber nicht nur die politische Klasse flüchtet sich in die Verleugnung der Realität. Insgesamt gilt: Was gestern noch abgedrehte Theorie war, ist heute vulgäre gesellschaftliche Praxis. Nicht dass der auf den Verkäuferverstand zusammengeschrumpfte durchschnittliche Warenverstand die von Jean Baudrillard ausgegebene Parole von der »Substituierung des Realen durch das Zeichen des Realen« schon mal gehört hätte, in Fleisch und Blut übergegangen ist sie ihm dennoch. Er versteht es, alle Wirklichkeit in der Diskurswirklichkeit aufzulösen. Wirtschaft beruhe zur Hälfte auf Psychologie, schallt es aus jedem Kindergarten. Also heißt es positiv denken, auf dass sich die andere Hälfte von alleine finde.
Es sind schlechte Zeiten für Satiriker, denn ein Volk von Realsatirikern macht sie überflüssig. Und es sind schlechte Zeiten für Ideologiekritiker, solange Ideologie notwendig falsches Bewusstsein bezeichnet. Denn der Zeitgeist hat viel von einer Gespensterparade, aber wenig mit Bewusstsein zu tun.
Dieser amnesisch-halluzinatorische Zustand lässt sich nicht auf eine einzige Ursache zurückführen, sondern nur als Mischung verschiedener Betäubungsmittel und als das Ergebnis eines ganzen Motivcocktails beschreiben. Zu den Hauptzutaten gehört sicherlich das Erbe der kasinokapitalistischen Phase. In den achtziger und neunziger Jahren gelang es der Arbeitsgesellschaft, ihre fundamentale Krise, zumindest für ihr Kernsegment, zu überspielen. Damals brachte sie das Kunststück fertig, den Vorgriff auf künftige Arbeit, Arbeit die realiter nie verausgabt werden wird, zur Grundlage gegenwärtiger Arbeit zu machen.
Die Luftschlösser der IT-Branche sorgten nicht nur in den vermeintlichen Zukunftssektoren selbst für einen beispiellosen Boom und für eine ganze Menge lukrativer Jobs. Die von diesen Sektoren getragene Dynamik fiktiver Kapitalverwertung, also die Kapitalisierung ungedeckter Erwartungen, schuf ein erkleckliches wirtschaftliches Wachstum und damit künstliche Beschäftigung.
Mit diesem eigentlichen Wirtschaftswunder des 20. Jahrhunderts ist es vorbei. Das materielle Substrat der Simulation ist in Auflösung begriffen, nämlich der in der privaten Kreditschöpfung sich monetarisierende Glaube an die Zukunft der Arbeitsgesellschaft.
Damit lösen sich die entsprechenden Bewusstseinsformen aber noch lange nicht in Wohlgefallen auf. In der Wendung zum Halluzinieren erhebt sich das simulative Denken über seinen realen Bedingungszusammenhang und findet einen Ersatz und eine Fortsetzung. Nachdem sich der Traum des neuen Kapitalismus, die Entfesselung der totalen, individualisierten Konkurrenz werde einen ewigen kapitalistischen Frühling bescheren, in den Sektoren der Avantgarde blamiert hat, soll das Phantasma durch die Verallgemeinerung erneuert werden. Wenn unterschiedslos alle, vor allem die vergessenen Verlierer, sich auf die vollständige Selbstzurichtung als Marktsubjekte verpflichten, was bisher das besondere Privileg der so genannten Gewinner war, dann wird alles doch noch gut!
Die neuen Selbständigen
In der postkasinokapitalistischen Geistertanzbewegung schwingt ein sadistisches Moment mit. Was der »Leistungsträger« sich angetan hat und weiter antut, soll sich gefälligst jeder antun müssen, und zwar – wie die früheren Gewinner immer öfter auch – ohne Gratifikationen. Rache für die geplatzten, von Alpträumen kaum unterscheidbaren Hoffnungen, Rache, egal an wem.
Das allein erklärt freilich noch nicht die aberwitzige Bereitschaft, Schnitte ins soziale Netz zu akzeptieren und zu fordern. Wichtiger ist die Autosuggestion. In einer Gesellschaft, deren Mitgliedern die Pose des autistischen Siegers und der Zwang, sich zu verkaufen, zur zweiten Natur geworden sind, verkehrt sich selbst noch die Niederlage zu einem Sieg.
Gerade die »neuen Selbständigen« der Avantgardesektoren lehren uns heute, nicht nur im Beruf, auch beim Konsum machten Höchstleistungen in Sachen Flexibilität den wahren Erfolgsmenschen aus. Klassische Arbeitnehmer mögen bei Einkommensverlusten von ein paar läppischen Prozent gleich auf die Barrikaden gehen. Der neue IT-Selbständige bleibt cool und sitzt eine Halbierung seines Einkommens locker aus. Wahrscheinlich würde er selbst noch beim Fressen aus der Mülltonne eine souveräne Figur machen, und mit ihm auch der eine oder andere Autor dieser Zeitung.
Die Werbung hat die Zeichen der Zeit längst erkannt. Die Figur des »neuen Loser«, wie ihn die Frankfurter Allgemeine Zeitung nennt, unter allen Umständen fähig sich in eine »Win-Win-Situation« hineinzuphantasieren, macht Karriere. Ikea präsentiert derzeit stolz, wie der Krise angepasstes Wohnen es erlaubt, auf der Grundfläche einer Gefängniszelle problemlos und nett einen Singlehaushalt unterzubringen. Der Elektronikhändler Saturn gibt die Parole aus: »Geiz ist geil«. Noch viel gruseliger als diese ästhetisierenden neoasketischen Darbietungen ist aber, dass sich diese neue Kunst der Autosuggestion im Alltag tatsächlich »eins zu eins« breit macht.
Vor zwei Jahren habe ich mich noch auf einer Geburtstagsfeier über einen in der Werbebranche tätigen Gastgeber geärgert, weil er penetrant betonte, keiner der ausgeschenkten Weine habe weniger als 30 Mark gekostet. Man gönnt sich ja sonst nichts, hieß es damals. Einen Konkurs später erzählte derselbe Mensch im selben Duktus am vergangenen Wochenende, dass er die durchaus trinkbaren Weine für die Fete für 1,99 Euro die Flasche erstanden hätte. Die frisch formatierte Bio-Festplatte spuckt jetzt die Information aus: Das Geld, das ich nicht mehr verdiene, habe ich auch noch nie ausgeben wollen.
Am linken Katzentisch
Im antiken Griechenland bezeichnete der Begriff »Idiot« Menschen, die sich nur um ihre persönlichen Angelegenheiten kümmerten und sich gegenüber allen weitergehenden, die Polis betreffenden Fragen gleichgültig verhielten. Dieser Idiotismusbegriff in seiner alten Bedeutung verdient unbedingt die Wiederentdeckung.
Als analytische Kategorie fasst er nämlich präzise die für das postmoderne Subjekt charakteristische Fähigkeit, im Denken alle größeren Zusammenhänge auszublenden und im Fühlen alles eigene, nicht mit dem Standpunkt des Selbstverkäufers vermittelbare Erleben als nicht existent zu behandeln. Der Ausdruck bringt auf den Punkt, was der für gewöhnlich als Individualisierung gefeierte Prozess gesellschaftlicher Gleichschaltung durch Vereinzelung auf der Ebene der Bewusstseinsformen bedeutet.
Die Verwandlung der Kirche der Arbeit in die größte Esoteriksekte aller Zeiten und der galoppierende Idiotisierungsprozess schreien geradezu nach einer entschiedenen Gegenpositionierung. Deren erste Aufgaben lägen eigentlich auf der Hand und wären simpel. Sie hätte darauf hinzuweisen, was viele wissen, aber niemand wissen wollen darf: Der Kaiser ist splitternackt. Die Arbeitsgesellschaft ist nicht zu retten, und es gibt auch nicht den geringsten Grund, sie zu retten.
Der Zwang, sich zu verkaufen, reimt sich nicht auf Glück und Selbstverwirklichung. Ein gutes Leben fängt dort an, wo das Gewinnergrinsen aufhört. Die vor 20 Jahren abgerissene Debatte um die Krise der Arbeitsgesellschaft wäre wieder zu beleben, aber diesmal nicht, um die Herrschaft der Arbeit zu relativieren, sondern als Angriff auf die Logik der Konkurrenz, der betriebswirtschaftlichen Vernutzung und der Arbeit.
Durch die Besetzung der sozialen Frage unter dem Vorzeichen der Kritik an der Arbeit könnte die Linke aus ihrer andauernden Defensive und ihrer Marginalisierung herausfinden. Doch sie versäumt diese Chance. Selbst der Arbeitsreligion verpflichtet, scheut sich der reformistische Flügel davor, die offiziellen runden Tische umzuwerfen, an denen er bestenfalls ein Plätzchen im Kinderstühlchen angewiesen bekommt.
Eine noch kläglichere Rolle aber spielt die so genannte radikale Linke. Sie zeigt sich wild entschlossen, im allgemeinen Idiotisierungsprozess weiterhin Avantgarde zu spielen. Im offiziellen Diskurs verschwindet die soziale Wirklichkeit in den unzähligen Talkshows, in denen ernsthaft über absurde Beschäftigungsprogramme diskutiert wird. In der ideologiekritisch orientierten Linken und bei der kulturalistisch-postmodernen Spielart aber kommt die soziale Frage und die eigene Reproduktion schlicht nicht vor.
Die Szene setzt sich in der Mehrzahl aus Menschen zusammen, die sich unter prekären Bedingungen über die Runden retten oder einer ungewissen Zukunft entgegengehen. Die Szene-Identität ist aber gerade auch dadurch definiert, dass derlei Fragen nicht als gesellschaftliche, sondern als Privatprobleme zu behandeln sind. Die Sozialromantik der siebziger Jahre ist in ihr Gegenteil umgekippt. Hinter der sozialen Frage lauere angeblich immer schon der Mob. Wer sie stellt, ist im besten Fall Reformist, im schlimmsten Fall begibt er sich in die Nähe des Antisemitismus.
Die Krisenschübe des frühen 21. Jahrhunderts sind offenbar nicht geeignet, diesen Mechanismus auszuhebeln, sondern scheinen diese Entwicklung noch zu verstärken. Das Ende der Herrlichkeit der New Economy fällt zeitlich damit zusammen, dass die Zerfallsprozesse, die den Gewaltkern warengesellschaftlicher Subjektivität sichtbar machen, auf den Westen zurückschlagen. Das postmoderne, kulturalistische »Don’t worry, be happy« ist damit in der alten Form in Frage gestellt.
Die neue Barbarei ist aber nur ein Anlass dorthin zurückzuflüchten, wohin es die auf individuelle Lösungen im Konkurrenzkampf eingeschworenen Szene-Mitglieder angesichts immer ungemütlicher werdender Bedingungen sowieso drängt: auf den Schoß der in Auflösung begriffenen westlichen Normalität. Die Irak-Debatte der Jungle World kann als ein Indiz dafür gelten, wohin der Hase derzeit läuft, in Richtung Irrealis.
Für einen Antikapitalismus, der sich und die Kritik der Arbeit ernst nimmt, bleibt da nur eins: Außer dem großen gesellschaftlichen runden Tisch, an dem über die nicht vorhandene Zukunft der Arbeitsgesellschaft verhandelt wird, hat er auch noch den kleinen linken Katzentisch umzuwerfen.