Glück und Unglück in Entenhausen
Für Katrin und Gerd
Roger Behrens
„Das Glück ist qualitativ unendlich vielfältig, das Unglück nur quantitativ.“ — Horkheimer, Notizen und Dämmerung, Frankfurt am Main 1974, S. 46
„Na ja, der Gustav Gans, jaja, der kann’s, doch unser Schwein ist auch nicht klein!“, singen Donald Duck und seine Neffen Tick, Trick und Track, als sie nach einem langen Abenteuer, das in Seenot endete, von einem Schiff gerettet werden. – Mit einem Freudentanz und diesen fröhlichen Worten, die Erika Fuchs den Comicfiguren in den Sprechblase legte, beschließt Carl Barks seine Geschichte ‘Familie Duck auf Nordpolfahrt’, die 1967 in den Vereinigten Staaten zuerst veröffentlicht wurde.1 Sie erzählt vom Glück und Unglück, personifiziert in Gustav Gans und Donald Duck. „Man nennt mich nicht umsonst ‘das Schoßkind des Glücks’“, sagt Gustav Gans,2 der im amerikanischen Original Gladstone Gander heißt, wohl in Anspielung auf Goethes Stein des Glücks. Er trägt blonde, lockige Haare, was nicht nur galanten Charme verrät, sondern auch eine gewisse Verwandtschaft zu den Frisuren griechischer und römischer Mamorstatuen hat; er ist die männliche Variante zur Glücksgöttin Fortuna, aber mit einem entscheidenden Unterschied: Er behält sein Glück zumeist für sich, und was ihm Glück bringt, kann für andere nur allzu leicht Unglück bedeuten. Er ist ein Egomane des Glücks, ein Narzisst, der sich in der Bequemlichkeit, mit der ihm alles zufällt, inszeniert. Gustav Gans gewinnt alle Lotterien, findet Brieftaschen, muss nie arbeiten, bekommt laufend und zufällig Geschenke. Doch nicht allein aus dem Glück bezieht er seine Überheblichkeit, sondern vor allem aus der Abwesenheit des Unglücks; das ist das entscheidende Geheimnis, welches auf die sozialen Bedingungen des ihm zuteil werdenden Schicksals verweist: Nur weil andere kein Glück haben, hat er Glück. Verlassen kann Gustav Gans sich hier vor allem auf seinen Vetter Donald Duck, den ewigen Pechvogel – Donald verliert immer, weil andere immer gewinnen. Glück und Unglück sind auf diese beiden Figuren als charismatische Eigenschaften und Wesenszüge verteilt; das macht sie zu Stereotypen eines ebenso stereotyp aufgefassten modernen Individuums, das sich mit seinen gesellschaftlichen Bedingungen abgefunden hat und Glück wie Unglück nun dem Schicksal, dem Sternzeichen oder dem lieben Gott überlässt. Jeder Zustand des Glücksempfindens, für den das Individuum sich selbst verantwortlich weiß, ist dem entgegen an den Warenfetisch gebunden, an den Konsum, sei’s das Schnäppchen, sei’s der lang gehegte Wunsch nach dem Traumauto, sei’s der Jahresurlaub mit Vollpension. Glück, sich glücklich fühlen, Glück haben – das gelingende Leben, das jenseits der wertlogischen Befriedigung von Bedürfnissen liegt, die Idylle und Idee von Liebe, Freude, Zufriedenheit, Spiel oder einfach nur die schöne Erfahrung – alles das, was mit den „metaphysischen Grillen“ des Kapitalismus nicht gekauft werden kann, wird solcher Metaphysik selbst überlassen. Zum Fetischcharakter der Ware, als „sinnlich-übersinnliches Ding“,3 tritt der Aberglaube, die sinnlich-übersinnliche Fügung des Schicksals. Glück haben, Pech haben – das werden Eigenschaften wie Haarfarbe, Schuhgröße und, eben in der warenförmigen Gesellschaft, „Reichtum“, Besitz, Erfolg. Zugleich sind Glück, Reichtum und Erfolg die Dreieinigkeit des modernen Subjekts. Auch deshalb trifft die Glücklichen oft „Neid und Missgunst“,4 wo den Glücklichen sowieso schon die Diskriminierung trifft, stärkt sich der Antisemit und Rassist, indem er im Glück des Fremden sein Vorurteil bestätigt findet: Wer Glück hat, macht sich schuldig. Das ist die mythische Figur des Ressentiments gegen diejenigen, die vermeintlich mehr Glück haben als man selbst, obwohl – und das ist entscheidend – man es doch selbst viel mehr verdient hätte (eine dem tüchtigen, antisemitischen Deutschen sehr vertraute Denkweise); nah liegt solchen Ressentiments das Verschwörungstheoretische.5 – Grobian Gans, der Anfang der Siebziger seinen ironischen Forschungsbericht über ‘Die Ducks’ schrieb, vermutet hinter dem Glück von Gustav Gans so den CIA. Der CIA erpresst ihn, weshalb Gustav Gans heimlich als Agent für ihn tätig ist: „Er muss vor der Öffentlichkeit etwas verbergen, was der Geheimdienst weiß. Denn Gustav Gans ist homosexuell.“6 Seine „Kavaliersrolle“ sei vorgespielt, folge „nur dem Diktat des gesunden Volksempfindens“.7 Schließlich gilt sein Begehren Donald Duck: „Gustav steht unter der Spannung einer latenten homosexuellen Beziehung zu Donald.“8 So wird Gustav Gans zur einzigen Figur in diesem Psychogram, die noch eine zweite, geheime Identität besitzt; Gustav Gans „scheint Entenhausens großer Außenseiter zu sein, der sich dem Leistungsprinzip verweigert und sorglos in den Tag hineinlebt.“9 – Das macht Donald Duck allerdings auch, nur mit weniger Erfolg; während Gustav Gans sich sehr wohl um sein Glück sorgt und den ganzen Tag nach verlorenen Brieftaschen sucht, verfällt Donald eher einer defätistischen Variante einer unfreiwilligen Askese und verbringt seine Tage lieber schlafend auf dem Sofa.
Der glücklosen Leserschaft bleibt Gustav Gans unsympathisch; keineswegs nur aufgrund seines Glücks. Er repräsentiert das schleimige Arschloch, das zu allem Überfluss ‘auch noch’ Glück hat. Der Neid, den man gegenüber Personen wie Gustav Gans empfinden mag, schlägt bei Donald Duck in Hass um. Aber auch Gustav ist neidisch auf Donald, hasst ihn gelegentlich und gibt damit die Nichtigkeit seines augenscheinlichen Glückes preis: Beide sind Konkurrenten in Sachen Liebe, buhlen um die Gunst Daisy Ducks. Dabei ist bemerkenswert, dass Gustavs Glück offenbar mitnichten für die Liebe gilt; er ist Junggeselle ebenso wie Donald, der wenigstens – trotz seiner Erfolglosigkeit – eine Art lockere Affäre zu Daisy Duck zu unterhalten scheint. Gelingt es Gustav Gans mitunter, Daisy Duck zu beeindrucken und für sich zu gewinnen (abends mal ausgehen, mehr ist nicht drin), dann wird dies nicht als Glück dargestellt, sondern sein Glück hat ihm nur zum kleinen Rendezvous verholfen. Gustavs Glück scheint also irgendwie nicht glücklich zu machen – genauso, wie sich der ewige Pechvogel Donald schlussendlich auch von seinem Pech nicht wirklich bezwingen lässt, und oft genug als Sieger hervorgeht (wenn auch gelegentlich als eben Konformist seines Schicksals). Gustavs Daisy vorgeführtes Glück soll imponieren; das Donald vorgeführte Glück erzeugt es überhaupt erst, oder zumindest die Illusion davon. Nur indem es permanent benannt und dem Pech kontrastiert wird, ist es Glück. Es verkörpert sich meistens als Geld, finanzieller Segen. Mit Donald teilt Gustav die Eigenart, einmal gewonnenes Geld sofort zu verschwenden. Anders als etwa bei Dagobert Duck, dessen unermesslicher Reichtum ebenfalls auf Glück, nämlich auf seinem ersten, selbstverdienten „Glücktaler“ basiert, ist Gustavs Glück nicht akkumulativ. Zudem: das Glück Gustavs hat keine Substanz; es kann zwar immer mehr werden, ist aber – weil es keine Qualität hat – nie genug. Keine Figur in Barks Comics hat wahrscheinlich weniger Glück als Gustav Gans; er ist unfähig, sein angebliches Glück zu genießen – er genießt ja nicht einmal im Hegelschen Sinne von Herr und Knecht den Ertrag der Arbeit des Anderen, so wie Dagobert seinen Reichtum genießt; er genießt auch nicht die Faulheit, die Flucht vor der Arbeit, wie Donald; er genießt offenbar nur den Neid, den sein Glück provoziert, und hasst, wer darauf nicht neidisch wird.10
Der Konkurrenzkampf zwischen Donald und Gustav soll den Menschen in der Kulturindustrie versichern, „dass sie gar nicht anders zu sein brauchen, als sie sind, und es ihnen ebenso gut gelingen könnte, ohne dass ihnen zugemutet würde, wozu sie sich unfähig wissen. Aber zugleich wird ihnen der Wink erteilt, dass die Anstrengung auch zu gar nichts helfe, weil selbst das bürgerliche Glück keinen Zusammenhang mit dem berechenbaren Effekt ihrer eigenen Arbeit mehr hat. Sie verstehen den Wink. Im Grunde erkennen alle den Zufall, durch den einer sein Glück macht, als die andere Seite der Planung.“11 Wenn Adorno und Horkheimer diagnostizieren, dass Glück und Unglück ihre ökonomische Bedeutung verlören, weil Zufall und Planung in eins fallen, dann sind die Geschichten von Gustav Gans und Donald Duck der Beweis dafür: Beide sind ungelernt, können Alles und Nichts, und das Glück des einen wie die Anstrengungen des anderen führt keineswegs zum ökonomischen Erfolg; und wenn doch, dann von ihren Strategien ganz unabhängig. Gustav und Donald repräsentieren zwei Formen des Glücksversprechens, zwei Weisen des ohnmächtigen Glücks. – Barks Geschichte ‘Familie Duck auf Nordpolfahrt’ beginnt mit der klassischen Situation: „Ah, grüß Gott, Vetter Donald! Ich hab’ dich ja seit einer Ewigkeit nicht gesehen!“ – „Kunststück! Ich bin dir absichtlich aus dem Weg gegangen, Vetter Gustav.“ – „Ganz falsch! Du solltest meine Gesellschaft suchen. Dann würdest du lernen, wie man es zu etwas bringt im Leben.“ – „Von dir kann ich gar nichts lernen, du alter Angeber! Außerdem gehst du mir auf den Wecker. Leb wohl!“ Gustav lässt nicht locker, provoziert Donald und setzt seine ganze unangenehme Aufdringlichkeit ein. Er zwingt Donald zuzuhören, was in seinem Horoskop steht: „Ich bin unter einem Glücksstern geboren … Alles, was ich unternehme, muss mir glücken.“ Und heute sei ein besonders günstiger Tag: „Kann sein, dass ich das große Los gewinne … Ich zeige dir, wie mein Glück sich bezahlt macht.“ Gustav spricht vom „Unternehmen“ und „Bezahlen“, will sein Glück als finanzielles präsentieren und sich damit Donald gegenüber als ökonomisch überlegen beweisen. So kommt es: das Geld fällt ihm förmlich vom Himmel in die Hände. „Das ist doch nicht normal“, kommentiert Donald das Geschehen, der von Gustavs Glück fasziniert ist, wenn auch diese Faszination schnell umschlägt: „Du ödest mich an!“ Gustav Gans gewinnt, findet und gewinnt wieder: „Der glückliche Gewinner der Glückswelle ist diesmal Gustav Gans. Der Gewinn ist steuerfrei und beträgt 200 Taler.“ – Jetzt nimmt die Geschichte eine Wendung, und das eigentliche Abenteuer beginnt: „Gustav treibt mich noch zum Wahnsinn. Neben ihm kommt man sich vor wie ein Depp.“ Donald will Gustav loswerden und überlegt sich eine List: Er fälscht eine Karte eines stillgelegten Uranbergwerks in der Nähe des Nordpols und lässt sie Gustav vor die Füße fallen, als spiele sein Glück ihm die zu. Während dessen hat Gustav „noch zwei Brieftaschen gefunden und noch mal in der Lotterie gewonnen! Herz, was begehrst du mehr? Jetzt zu Donald und berichten! Er wird platzen vor Neid.“ Er findet die Karte, will sie aber vor Donald geheim halten, „sonst will er was abhaben“ (das ist bemerkenswert: Donald wollte von den bisherigen Gewinnen auch nicht abhaben). So reist Gustav Richtung Nordpol, auf der Suche nach den nicht existierenden Uranvorkommen, und Donald ist – ‘glücklich’: „Soll er doch versuchen, auf den Eisbergen Brieftaschen zu finden!“. Doch die Ruhe vor Gustav währt nicht lang: Donald fängt an, sich Sorgen um Gustav zu machen: „Eisberge und Eisbären! Ob Eisbären Menschen fressen? … Wir müssen Onkel Gustav einholen, bevor ihm etwas Schreckliches zustößt.“ Schnell sind die Koffer gepackt, denn Donald glaubt eben nicht, dass Gustavs Glück ihn wirklich in der Eiswüste überleben lässt; Brieftaschen machen nicht satt. Tatsächlich ist Gustav in der Klemme: „Uff, wenn ich je in meinem Leben Glück nötig gehabt hab’, dann jetzt!“ Doch das Glück verlässt ihn nicht. Donald, mit den Neffen Tick, Trick und Track unterwegs, holt Gustav ein. Sie sind schließlich an der Stelle, wo vermeintlich die Uranvorkommen sein sollen. Statt dessen finden sich alle auf einem Eisberg wieder. Gustav gelingt es, mit dem einzigen Boot – auch durch sein Glück – den Eisberg zu verlassen. Dabei entdeckt er, dass hier doch ein Schatz zu finden ist: im Eisberg ist ein Wikingerschiff eingefroren. Der Berg zerbricht, das Schiff kommt frei, Donald und die Neffen finden sich an Deck des mittelalterlichen Holzbootes wieder. Schilde und Waffen sind aus Gold, und im Rumpf lagern – natürlich tiefgekühlt – Schweinekoteletts, Zwieback und Käse. Während dessen hat Gustav Gans Hilfe geholt, die in erster Linie darin besteht, sich als rechtmäßigen Besitzer des Goldschatzes vorzustellen: „Gemäß § 32, römisch zwei des Seenotgesetzes bin ich Eigentümer des Schiffes und seiner gesamten Ladung.“ – „Ach, ich bin und bleibe ein Unglücksrabe! Warum? Warum?“ – „Warum? Weil du eine Karte gefälscht hast!“, weiß Gustav seinen Vetter zu belehren. Gustav nimmt das Gold, lässt Donald und die Kinder zurück auf dem „altmodischen, verfaulten Kahn“. Während Gustav wohl längst wieder in Entenhausen weilt und sein Goldglück genießt, geraten Donald, Trick, Tick und Track in einen Sturm, erleiden Schiffbruch – und finden in den Trümmern des Schiffes „eine alte Wikingerkarte von Nordamerika. Viele hundert Jahre früher gezeichnet, ehe Kolumbus Amerika entdeckt hat!“, wissen die Neffen.12 Und noch mehr: „Diese Karte ist eins der wertvollsten historischen Dokumente auf der ganzen Welt … Viel, viel kostbarer als der Goldschatz, den Gustav mitgenommen hat.“
Hans im Glück – Alle Sorgen los sein
„Fortuna vitrea est, tum, quum splendet, frangitur.“ Publilius Syrus (Das Glück ist wie Glas, denn, nachdem es geglänzt hat, zerspringt es.)
„Das Glück ist mit die Doofen.“ Sinnspruch
Zum Schluss der Geschichte scheint sich das Blatt gewendet zu haben: Donald hat Glück; angesichts dessen, dass er aus einer schwierigen Notlage samt der Neffen gerettet wurde, ist es sogar ein Glück, das mehr ist als das langweile Zufallsglück Gustavs. Auch der Neid ist verflogen. Zwar erscheint das späte Glück als Happy End, doch weiß man bereits, welches Pech Donald Duck in seinem nächsten Abenteuer widerfahren wird. So bleibt auch dieses Glück ein Versprechen (wie oft hat Donald auch schon mitten in seinen Geschichten Glück gehabt, das er auf schmerzvolle Weise im nächsten Moment schon wieder verlor). Gerade weil Donald in seinem ewigen Scheitern aber sympathisch bleibt, kann er auch auf die Sympathie der Leserinnen und Leser zählen; er ist der „fall guy“ und als solcher „Abbild und Identifikationsgestalt für die erwachsenen Leser. Diese stereotype Funktion erklärt Donalds Beliebtheit bei den Lesern im fortgeschrittenem Alter … Wer über Donald lacht, wer ihn bemitleidet, sich zu ihm hingezogen fühlt, meint immer nur sich selbst.“13 – Adorno und Horkheimer gehen in der ‘Dialektik der Aufklärung’ noch weiter: „Donald Duck in den Cartoons wie die Unglücklichen in der Realität erhalten ihre Prügel, damit die Zuschauer sich an die eigenen gewöhnen.“14 Strittig, ob hier die unmittelbare Wirkung des Zeichentricks nicht überschätzt wird und die Ambivalenzen, die sich gerade in den Bildergeschichten von Barks und seinen Figuren finden, nicht unterschätzt werden. Warum soll ausgerechnet das Lebenspech Donalds auf das real erfahrene Unglück geradewegs einstimmen, zum Beispiel das Scheitern eines Josef K. in Franz Kafkas ‘Schloss’-Roman aber nicht? Adorno und Horkheimer haben auch wenig Gespür für das, was Umberto Eco das „offene Kunstwerk“ nennt, für die Allegorien der Massenkultur:15 Ohne die kritische Diagnose über die strukturelle Dynamik der Kulturindustrie schmälern zu wollen, vermögen Adorno und Horkheimer nicht das Surreale der Duck-Comics erkennen, die nun alles andere als dazu einladen, sich unmittelbar mit den Figuren zu identifizieren.16 Surreal ist zum Beispiel, wie Donald in der Geschichte ‘Familie Duck auf Nordpolfahrt’ plötzlich moralische Gewissensbisse bekommt; surreal ist, wieso die Neffen mit auf die Reise gehen, die ja – da es ja eine Rettungsaktion aus vermutlicher Notlage ist – beileibe nicht ungefährlich ist; surreal ist, mit welcher Selbstverständlichkeit aber angenommen wird, dass Gustav Gans, der ewige Glückliche, überhaupt in Schwierigkeiten kommen könnte, surreal ist der Verlauf der Reise, surreal ist auch das Glück Gustavs (er fängt an einer Stelle mit einem Hufeisenmagneten einen Walfisch, der an Land springt) … Die Sympathie, die Donald zuteil wird, beruht keineswegs nur auf dem Mitleid für den ‘fall guy’, der man selbst ist, sondern vor allem in der Distanz zu den listreichen, aber immer absurden und ironischen Verstrickungen, zum Lustigen und Lächerlichen der Geschichten. Adorno und Horkheimer entwerfen in ihrem ersten Exkurs in der ‘Dialektik der Aufklärung’ den Odysseus als prototypischen Bürger, der kraft Vernunft und List den Mythos bezwingt. Was Odysseus als Vorgriff auf das Subjekt der bürgerlichen Hochkultur darstellt, ist Donald als Sinnbild des Subjekts spätkapitalistischer Massenkultur – der Mythos, den er mit seiner bescheidenen und nicht immer durch Klugheit glänzenden List zu bewältigen hat, ist nicht die Gewalt göttlicher Ordnung, sondern die Gewalt alltäglicher Normalität. Jedes Abenteuer gerät zur Flucht, zur Odyssee – Reiseziel: Nordpol, bloß „weit weg“. Adorno und Horkheimer schreiben von dem „Glück ‘an den Rändern der Welt’“,17 das auch den Odysseus zur Fahrt bewegt haben mag. Am Nordpol stoßen die Ducks auf vergangene Kulturzeugnisse, auf das Wikingerschiff, für sie Urgeschichte: „Gleichgültig, welche Fülle der Qual den Menschen in ihr widerfuhr, sie vermögen doch kein Glück zu denken, das nicht vom Bilde jener Urgeschichte zehrte: ‘Also steuerten wir fürder hinweg, schwermütigen Herzens’.“18 – Es ist dieses Glück, was in Barks Episode zeigt, dass Donalds bescheidenem Glück Wahrheit zukommt, die Gustavs ewigem Glück fehlt. In anderen Sprache wird sein zufälliges Glück (zum Beispiel engl. ‘luck’, franz. ‘fortune’, port. ‘sorte’) vom Glück des gelingenden Lebens unterschieden (zum Beispiel engl. ‘happiness’, franz. ‘béatitude’, port. ‘felicidade’); zwar geht es für beide um das Glück der günstigen Umstände, doch Gustav ist der, dem das Glück zufällt – er ist ein Glückspilz, wie man im 18. Jahrhundert, als das Wort aufkam, den Emporkömmling, den Parvenü bezeichnete. Bei Gustav ist es „die Absenz des Bewusstseins von Unglück“, repräsentiert durch Donald. „Glück aber enthält Wahrheit in sich. Es ist wesentlich ein Resultat. Es entfaltet sich am aufgehobenen Leid.“19
Dieses Leid, ebenso wie dann auch das Glück, scheint gegen die klassische philosophische Diskussion ums Glück quer zu stehen. Die europäische Philosophie stellt seit der Antike die Frage, welche Weise des Lebens die glücklichere ist: das aktive Leben (vita activa) oder das betrachtende, kontemplative Leben (vita contemplativa). Der Widerspruch dazwischen, der überhaupt die lebendige Prozessualität der menschlichen Praxis zeitigt, ist in dieser Unterscheidung eliminiert, ausgelöscht wie das mögliche Glück der Versöhnung dieses Widerspruchs. Das wirkliche (i.e. wirkende als das mögliche)20 Glück gilt als unwirklich, irreal; die Unterscheidung ist reale Differenz, manifestes Leiden; im Kapitalismus heißen die Sphären dann Arbeit und Genuss, Schuften in der Fabrik und Ruhe des Feierabends, Realität der bürgerlichen Gesellschaft und kulturelles Idealreich. Dass zwischen aktivem und kontemplativem Leben die Grenzen fließend werden, gilt dann spätestens seit Neuer Mitte, Neuem Markt und New Economy, wo einerseits Tätigkeit zunehmend zur Pseudoaktivität wird, zur Beschäftigung, wo andererseits Genuss, das Kontemplative, die Ruhezone verlässt, die Langsamkeit der Muße, und in die Phase rotierender Geschäftigkeit eintritt, selbst Scheinpraxis wird. („Pseudo-Aktivität ist generell der Versuch, inmitten einer durch und durch vermittelten und verhärteten Gesellschaft sich Enklaven der Unmittelbarkeit zu retten“, heißt es bei Adorno.21 – Dem entspricht das Motto „Do it yourself!“ ebenso wie das Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmied“.) War Glück früher wenigstens noch beigebogen als der richtige Beruf, so kann Glück heute schon mal bloß der tolle Job sein, der wie Freizeit aussieht, weil vorher die Freizeit schon wie Arbeit unternommen wurde. Und zweifellos kann sich jeder über dieses bisschen Glück auch freuen. Was aber ganz verschwunden ist, und von der Philosophie auch kaum bemerkt wurde, das ist das Glück, das auf den ersten Blick wie Dummheit daher kommt. Es ist das hedonistische Glück, das weder die Askese heiligt, noch die Muße in den Stand der betriebsamen Arbeit erhebt; vielmehr wird hier auf spielerische Weise die ‘Arbeit’ zur Ruhe, zur Kunst, zur ästhetischen Produktion. Wie gesagt, es sieht zunächst nach Dummheit aus; das Märchen von ‘Hans im Glück’ ist dafür ein schönes Beispiel.
Hans darf, nachdem er sieben Jahre „bei seinem Herrn gedient“ hat, nach Hause zu seiner Mutter und erhält als Lohn „ein Stück Gold, das so groß als Hansens Kopf war.“22 Auf dem Nachhauseweg zu seiner Mutter tauscht Hans nun das Gold gegen ein Pferd, das er nicht reiten kann, gegen eine Kuh, die er nicht melken kann, gegen ein Schwein, dass er nicht essen kann, gegen eine Gans, diese gegen zwei Schleifsteine, die ihm schließlich in einen Brunnen fallen. Dem Burschen, der ihm das Schwein gegen die Gans tauscht, erzählt Hans „von seinem Glück … und wie er immer so vorteilhaft getauscht hätte.“ Und als er mit seinen Schleifsteinen loszieht, sagt er zu sich selbst: „Ich muss in einer Glückshaut geboren sein … Alles was ich wünsche, trifft mir ein wie einem Sonntagskind.“ Als ihm dann die Steine in den Brunnen fallen aus dem er trinken wollte, endet das Märchen: „Hans, als er sie mit seinen Augen in die Tiefe hatte versinken sehen, sprang vor Freude auf, …dankte Gott mit Tränen in den Augen“ und war „von den schweren Steinen befreit …, die ihm allein doch hinderlich gewesen wären. ‘So glücklich wie ich’, rief er aus, ‘gibt es keinen Menschen unter der Sonne.’ Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter war.“ Glück ist für Hans: frei zu sein von aller Last, alle Sorgen los zu sein, „aufgehobenes Leid.“ Die Brüder Grimm führen Hans als den Idioten vor, der sich beschummeln und sich um den teuren Lohn seiner siebenjährigen Arbeit bringen lässt: Hans hätte mit dem Gold so glücklich werden können; und nun gibt er am Ende seine dumm verlorene Habe noch als Glück aus, glaubt in jedem Tausch zudem seine Geschicklichkeit bewiesen zu haben! Ein Taugenichts, wie ihn auch v. Eichendorff beschrieben hat – und Carl Barks. Donald ist dem Protagonisten aus dem Grimmschen Märchen nicht unverwandt, gewissermaßen Hansens negatives Abziehbild, ein Hans im Unglück, weil die Verhältnisse mittlerweile keinen Spielraum mehr dafür lassen, sich in der Besitzlosigkeit wohl zu fühlen. War Hans in der Märchenzeit noch der Spinner, den man auslacht, ist Donald der Versager und Nichtsnutz, den man belächelt. In einer Gesellschaft, in der der Arbeitszwang und jede fröhliche Affirmation der Plackerei als Lebensinhalt aller und von allen deklariert wird, erwecken Hans wie Donald Mitleid; gerade aufgrund ihrer je besonderen sozialen Umgebungsverhältnisse können sie aber mit Solidarität nicht rechnen. Hans ist alle Sorgen los, Donald bekommt sie erst durch seine Sorglosigkeit. Donald, der die Arbeit stets flieht und auf sein Recht auf Faulheit besteht, wird – in der Regel von Onkel Dagobert – zur Arbeit gezwungen, bekommt einen sowieso schon nicht sonderlich „gerechten“ Lohn versprochen, und wird schließlich selbst um diesen noch betrogen (häufig taucht hier ein Belohnungssystem der Mythologie auf: Als Lohn für eine erledigte Aufgabe bekommt Donald soviel er tragen kann an Geld oder Gold versprochen; der Trick ist, dass er in dem Moment, wo es um die Einlösung des Versprechens geht, aus irgendwelchen Gründen gar nichts tragen kann). Und wie Hans bewahrt sich Donald nichtsdestotrotz eine Idee von Glück, eine Zufriedenheit, die mit keinem Gold und Geld aufzuwiegen ist: Jedes noch so unwegsame Abenteuer, in dem – nachdem es bestanden ist – Donald wieder als der Verlierer hervorgehen mag, ist das Glück gelingender Praxis, aktives Leben, aber gerade in der Spannung des Abenteuers, sich stets in einer kontemplativen Außenperspektive zu beobachten (auch deswegen die anhaltende Begeisterung für die letzten Abenteurer, für Rüdiger Nehberg, Reinhold Messner und andere)23. Kinder empfinden noch dieses Glück, schreiben in die Poesiealben den in ihrer Welt nur zu wahren Spruch: „Das größte Glück der Erde, liegt auf dem Rücken der Pferde.“ Irgendwann werden die Pferdeposter von der Wand genommen, die Reitstunden eingestellt. In die Kulturindustrie geht diese Utopie von Glück als Versprechen ein, manifestiert ein ohnmächtiges Glück: Einerseits werden die Protagonisten der massenkulturellen Produktion infantilisiert, um sie so zu Trägern des Glücksversprechens24 zu machen – auch hier begegnet uns Donald wieder –, andererseits sollen die Menschen daran gewöhnt werden, dass dieses Glück ein Versprechen bleiben muss, weil es naiv ist, sich mit dem glücklichen Star zu identifizieren; und doch bleibt das Glücksversprechen identisch mit der Figur des Stars, werden die Konsumenten sogar auf naive Identifikation mit den Star eingeschworen: In ihr lebt die naive Vorstellung von Glück und bestätigt sich schließlich die naive Identifikation mit dem, was man hat und selber ist. „Nicht zu jedem soll das Glück einmal kommen, sondern zu dem, der das Los zieht, vielmehr zu dem, der von einer höheren Macht – meist der Vergnügungsindustrie selber, die unablässig auf der Suche vorgestellt wird – dazu designiert ist. Die von den Talentjägern aufgespürten und dann vom Studio groß herausgebrachten Figuren sind Idealtypen des neuen abhängigen Mittelstands. Das weibliche starlet soll die Angestellte symbolisieren, so freilich, dass ihm im Unterschied von der wirklichen der große Abendmantel schon zubestimmt scheint.“25 – Früher repräsentierten die Stars das Mädchen von der Straße; tatsächlich wurden zwar einige Berühmtheiten „auf der Straße entdeckt“, doch war mit ihrem Erfolg häufig noch eine strenge Auswahl und Ausbildung verbunden. Das ist heute nicht anders, nur dass die in die Krise geratene Kulturindustrie in ihren letzten Zügen noch einmal versucht, ihr Modell von Identifikation nicht länger als schönen Schein zu verkaufen, sondern als knallharte Realität: Angeblich repräsentieren die Stars niemanden mehr, sondern sind die Menschen selbst. Die Selektionsverfahren, nach denen die kulturell Erfolglosen aussortiert werden, die immer schon eine barbarische Nähe zur Trennung der Menschen an den Rampen der Vernichtungslager hatte, werden zur Show gemodelt: Kaschiert wird nichts mehr, das Ganze heißt schon ‘Popstars’. Ausgewählt wird von einer Jury, deren Kompetenz bereits dieselbe Qualität aufweist, die hier gefragt ist, nämlich Konformität mit den krudesten Mechanismen von Disziplin, Normierung und Kontrolle: Am Ende stehen die Schönsten da, die sich mit Stolz prostituiert haben, die Glatten und Vorzeigbaren, deren Selbstbewusstsein gelobt wird, die keine Schwäche zeigten und mit den hässlichen Verlierern weinten. Ihr Selbstbewusstsein allerdings erschöpft sich in dem aufrichtigen Glauben, dass Alle dieselbe Chance hatten, es ein faires Verfahren war, viele „gute Stimmen“ dabei waren – so soll doch das Glück entschieden haben, ein Glück des Zufalls. Es bleibt zugleich ein ohnmächtiges Glück, weil es sowieso nur in dem Maße besteht, wie sich in ihm die Macht bestätigt. Es ist das fetischistische Glück des Geldes. Bereits auf antiken Münzen ist die Glücksgöttin Tyche geprägt (als Schutzherrin der Städte gewährleistet sie diesen Schutz durch das Geld, auf dem sie abgebildet ist).
Exkurs: Tyche, Glücksversprechen
Die griechische Göttin Tyche entspricht der römischen Fortuna, die aus dem Füllhorn des Glücks ihre Gaben verteilt. In den Darstellungen seit dem Mittelalter trägt sie häufig einen Globus bei sich und ein Glücksrad. In zwei Stichen Dürers ist Tyche „als nackte, auf der Kugel balancierende Frau“ dargestellt. Auf ‘Das kleine Glück’ (um 1496) hält sie eine Blüte als „Symbol des Liebesglücks“ in der Hand, auf dem anderen Stich, ‘Das große Glück’ (um 1501/02) ist Tyche „in Wahrheit eine Darstellung der Nemesis, der Göttin der Vergeltung und göttlichen Gerechtigkeit …: Geflügelt schwebt die Göttin über der Menschenwelt, den Pokal, der Ehre und Reichtum enthält, und Zaumzeug als Zügel der Maßlosen und Unbeherrschten in den Händen.“26 Nicht selten wird Tyche/Fortuna mit Augenbinde als Zeichen ihrer Blindheit dargestellt. – Das Glücksrad war im Mittelalter das allegorische „Zeichen der Instabilität, des Auf- und Abstiegs im Schicksal der Menschen.“27 Heute ist das Glücksrad ein Gerät des Hasardspiels; wie beim Roulett wird es gedreht, und eine zuvor bestimmte Position entscheidet über den Gewinn oder Verlust. Im Fernsehen taucht es in Spielshows wieder auf, wo es um das richtige Raten von Preisen verschiedenster Waren geht. Das Glücksrad dreht sich jetzt anders herum. Dass auch in den Shows, in denen der Mensch spielerisch mit dem Fetischcharakter der Ware vertraut gemacht wird, etwas benutzt wird, was Glücksrad heißt, ist keine bloße Analogie; mit der Übersetzung des Symbols wird auch der Glücksbegriff übersetzt. Fast unmerklich daran geknüpft, verwandelt sich auch das sozialpsychologische Moment von Glück, die Glücksfähigkeit, die Sinnlichkeit und Bedürfnisse, die an das Vermögen geknüpft sind, Glück als Erfahrung von Lust zu empfinden – oder es zum bloßen Erlebnis eines triebsublimierten Surrogats werden zu lassen. – Das Glückshorn Tyches ist leer; leer sind auch die Glücksversprechen, die es selbst im Überfluss gibt: Jeder soll sein eigenes Glück finden und der Kleinbürger will auch nur „persönliche Zufriedenheit“,28 seine Ruhe, seinen Jägerzaun und die Gartenzwerge, oder das Erlebnis, das wilde Wochenende. Das große Los verheißt zudem Traumhaus, Traumauto, Traumurlaub – das Glücksrad verwandelt sich zur Glücksspirale, die mit hypnotischer Wirkung den Menschen auf den Warenfetisch fixiert. In der Zeit, wo das Individuum nur noch Exemplar ist, wird das Versprechen subjektiven Glücks zur vergeblichen Garantie, dass doch jeder Mensch besonders ist.
Glücklich sind die Glücklichen
„Die Autoren dieser Ausgabe sagen: ‘Glücklich sind die glücklich Glücklichen. Die Gefühle liegen so ’rum, man könnt’ sie aufheben: Einzeln oder ein Paar auf einmal. Härter ist jetzt härter.’ Und die Bilder haben die Nase voll“ Kristof Schreuf, „Laufe blau“ (Brüllen)
Dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sei, und folglich alle Bestimmung oder gar Definition von Glück subjektiv bleibe, ist schon Ideologie der Wahrheit des Glücks, das in gelingender Subjektivität läge. Solange aber Subjektivität verstellt bleibt, nur als Surrogat eines Subjektivismus zu haben ist, bleibt auch erfahrenes Glück ein Augenblick, eine Vorahnung, eine Täuschung. – Die Philosophie behandelte das Glücksproblem bisher, wie schon erwähnt, als Frage nach vita activa oder vita contemplativa, Praxis oder Theorie; zudem wird seit der Antike Eutychia, die Gunst der Umstände und des Schicksals, von Eudaimonia, dem Empfinden dieser Gunst, unterschieden. Darüber hinaus scheint der allgemeine Begriff von Glück wenig greifbar zu sein. Und gerade die idealistische Philosophie kommt über die Allgemeinheit des Glücks – Glück ist das, was jeder dafür hält – nicht hinaus. Bis in die Moderne wird das Glücksproblem allgemein aufgefasst, aber zugleich von der Allgemeinheit abstrakt und abstrahiert. Freilich ahnt man, dass die Gesellschaft nicht Glück für jeden bereit hält; gegen die soziale Wirklichkeit wird ein Hedonismus verteidigt, Epikur nennt ein glückliches Leben das naturgemäße.29 Der Schmerz verhindert Glück. Auch das weiß der Hedonismus, weshalb – so wie Aristipp rät – die sinnliche Lust der geistigen vorzuziehen ist, da intensiver (weil auch körperlicher Schmerz schlimmer ist als seelischer);30 doch „die Hedonisten sind außerstande, über ihren Relativismus hinauszugelangen und das Glücksproblem gesamtgesellschaftlich: unter der Kategorie objektiver Wahrheit zu betrachten.“31 Mit der Neuzeit entwickelt sich dann langsam das Bewusstsein gesellschaftlicher Widersprüche, einhergehend mit der Aufklärung der Begriffe von Theorie und Praxis. „Glück besteht im Triumph über reale Widerstände.“32 Und, wie dann der Liberalismus ergänzt: Jeder trägt, individuelles Glück anstrebend, unbewusst oder bewusst, zum Glück aller bei. Doch Subjektives und Objektives lassen sich nicht mehr derart vermitteln, gerade weil der Liberalismus hier ökonomisch Schranken setzte: nunmehr wurde das Glück mit dem Besitz identifiziert. Das Glück als Zustand vollkommener Befriedigung und Wunschlosigkeit wurde zusehens zum Ideal, zu dessen Beförderung weder Theorie und Praxis etwas beitragen könne, sondern wofür allein Zufall und Schicksal verantwortlich sind. Die Figuren solcher ideologisch zugebogenen Glücksformen finden sich dann später etwa bei Dagobert Duck, Gustav Gans – und Donald Duck wieder, der ganz im Sinne Feuerbachschen Materialismus’ preisgibt, dass dasjenige, was Glück ermöglicht, auch Glück schmälert – kein Leben ohne Leiden.33 Diese Negativität des Glücks ist die Spur zur Möglichkeit, Glück objektiv zu fassen: Als subjektives Moment der Emanzipation. Dafür braucht es aber einen materialistischen Begriff von Praxis; ansonsten bleibt solcher Standpunkt einer der Partikularität des Daseins, das sich „so in seinem Dasein sich selbst genießt.“34 Dagegen: „Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr; denn sie sind die Perioden der Zusammenstimmung, des fehlenden Gegensatzes.“ Vielmehr ist die Weltgeschichte „der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.“35 Erst mit der materialistischen Wende denkt kritische Theorie diese Freiheit wieder mit Glück zusammen, nimmt den verborgenen Hedonismus Hegels (i.e. das Sich-selbst-Genießen) mit der Geschichtsidee der Emanzipation zusammen: „Alle Freude und alles Glück entspringen der Fähigkeit, die Natur zu transzendieren – eine Transzendenz, bei der die Naturbeherrschung selbst der Befreiung und Befriedung des Daseins untergeordnet ist.“36 Diese Glücksvorstellung akzentuiert gerade die Genussfähigkeit des Menschen, und sucht in dem Streben nach Genuss, Lust, Zufriedenheit die Sinnlichkeit und Erfahrung des Glücks mit der Praxis und Theorie zu verbinden. So gerät Glück in die Nähe der Kunst, ja, findet in der Kunst einen Ort, wo es sein kann und aufgehoben wird: „Das Dasein gleicht immer mehr bloß sich selber. Kunst kann darum immer weniger ihm gleichen. Weil alles Glück am Bestehenden und in ihm Ersatz und falsch ist, muss sie das Versprechen brechen, um ihm die Treue zu halten.“37 Nicht nur Glück und Freiheit werden hier zusammen gedacht, sondern ebenfalls Glück und Hoffnung, Glück und Emanzipation. Hat Feuerbach das Glück auf die Sinnlichkeit gebracht, so rettet Marx „das Wahrheitsmoment aus der antiken und mittelalterlichen Ineinssetzung von Glück und Kontemplation.“38 – Bei ihm finden sich die „Umrisse eines qualitativ neuen – für sein Verständnis der Glücksproblematik entscheidenden – Begriff menschlicher Praxis.“39
Exkurs: Bitte Ruhe, hier wird gearbeitet! – Glück als „normale Portion von Arbeit“
„… So war z. B. die epikureische, stoische Philosophie das Glück ihrer Zeit; so sucht der Nachtschmetterling, wenn die allgemeine Sonne untergegangen ist, das Lampenlicht des Privaten.“ Karl Marx, Epikureische Philosophie, in: MEW Erg.-Bd. 1, S. 299 f.
Praxis hat hier Züge des freien, künstlerischen Gestaltens. Zu ihr gehören die in der Ästhetik aufgehobenen Begriffe von Kreativität und Phantasie; dies ist durch den gesellschaftlichen Charakter möglich, den Praxis hat; sie ist „nicht Anstrengung des Menschen als bestimmt dressierter Naturkraft, sondern als Subjekt, das in dem Produktionsprozess nicht in bloß natürlicher, naturwüchsiger Form, sondern als Naturkräfte regelnde Tätigkeit erscheint.“40 Ein derart in der Praxis fundierter Glücksbegriff kann also mit Freiheit zusammengebracht werden, gerade weil er vita activa und vita contemplativa als nicht getrennte Seinsweisen nimmt, sondern als Formen der Praxis begreift: Eine kritische Praxis, in der der Mensch nicht nur seine Wirklichkeit erfährt, sondern insbesondere seine Möglichkeiten. „Jegliche Befreiung, wie sinnlich und radikal sie auch immer sein mag, muss der kruden Tatsache Tribut zollen, dass der Mensch ein rationales Wesen ist, dass seine Freiheit und sein Glück vom Bewusstsein dessen abhängen, was ist gegenüber dem, was sein kann, und dass die Ruhe der reinen Sinnlichkeit transitorisch ist.“41 Ruhe wird hier als transitorische Praxis gedacht, weil der Mensch – wie Marx schon in den Feuerbachthesen formulierte – als sinnlich-praktischer Mensch aufzufassen ist. In den ‘Grundrissen’ thematisiert Marx dieses Verhältnis von Kontemplation und Praxis als das von Ruhe und Arbeit.
„Du sollst arbeiten im Schweiß deines Angesichts! war Jehovas Fluch, den er Adam mitgab. Und so als Fluch nimmt A. Smith die Arbeit. Die ‘Ruhe’ erscheint als der adäquate Zustand, als identisch mit ‘Freiheit’ und ‘Glück’. Dass das Individuum ‘in seinem normalen Zustand von Gesundheit, Kraft, Tätigkeit, Geschicklichkeit, Gewandtheit’ auch das Bedürfnis einer normalen Portion von Arbeit hat, und von Aufhebung der Ruhe, scheint A. Smith ganz fernzuliegen … Allerdings hat er Recht, dass in den historischen Formen der Arbeit als Sklaven-, Fronde-, Lohnarbeit die Arbeit stets repulsiv, stets als äußre Zwangsarbeit erscheint und ihr gegenüber die Nichtarbeit als ‘Freiheit, und Glück’.“42 Arbeit kann aber auch „Selbstverwirklichung des Individuums sein“, travail attractif, aber nicht als bloßes Spiel, nicht als private Unternehmung, als Feierabendglück. „Wirklich freies Arbeiten, z.B. Komponieren ist gerade zugleich verdammtester Ernst, intensivste Anstrengung.“ Das ist die transitorische Arbeit, die produktive Ruhe, die Kunst. So argumentiert Marx auch gegen das vermeintliche Glück der Ruhe, die nur als Verzicht auf Genuss, als Opfer erscheint: Dieses Glück der Untätigkeit versagt sich der produktiven Lust: „Die Negation der Ruhe, als bloße Negation, als ascetisches Opfer schafft nichts … Was als Opfer der Ruhe, kann auch Opfer der Faulheit, der Unfreiheit, des Unglücks genannt werden, d.h. Negation eines negativen Zustandes.“43 Marx setzt dagegen das Glück der Kunst, die „positive, schaffende Tätigkeit.“44 Es ist die glückliche Praxis, die eben nicht in der bürgerlichen Vorstellung vom Zufallsglück aufgeht, das nur denen zuteil wird, die eben sowieso schon im Vorteil sind. Die liberalistische, utilitaristische oder moderne kulturindustrielle Auffassung von Arbeit und Glück schließt den Unglücklichen immer aus; den Kranken, Behinderten, Alten und Gebrechlichen ist ihr Schicksal eingeschrieben, sie dürfen und können gar nicht glücklich sein: Ihr Glück ist ihre Beseitigung, der Tod (die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ in Nazideutschland lief unter dem griechischen Wort der Euthanasie, glücklicher Tod.). Marx setzt dagegen ein Glück gesellschaftlicher Praxis: „A. Smith betrachtet die Arbeit psychologisch, in Bezug auf den Spaß oder Unfreude, die sie dem Individuum macht. Aber außer diesen gemütlichen Beziehung zu seiner Tätigkeit ist sie doch noch etwas andres – erstens für andre, da das bloße Opfer von A B nichts nützen würde; zweitens ein bestimmtes Verhalten seiner selbst zur Sache, die es bearbeitet, und zu seinen eigenen Arbeitsanlagen.“45 Die produktive Anstrengung des bereits ertaubten Komponisten Beethoven produziert Glück: Freude schöner Götterfunken, Freunde.
Euphorie und Euphobie
„Mit dem Glück ist es nicht anders als mit der Wahrheit: Man hat es nicht, sondern ist darin. Ja, Glück ist nichts anderes als das Umfangensein, Nachbild der Geborgenheit bei der Mutter. Darum aber kann kein Glücklicher je wissen, dass er es ist. Um das Glück zu sehen, müsste er aus ihm heraustreten: er wäre wie ein Geborener. Wer sagt, er sei glücklich, lügt, indem er es beschwört, und sündigt so an dem Glück. Treue hält ihm bloß, der spricht: ich war glücklich. Das einzige Verhältnis des Bewusstseins zum Glück ist der Dank: das macht dessen unvergleichliche Würde aus.“ Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Gesammelte Schriften Bd. 4, S. 126.
Zwischennotiz: – Im ‘Marxistisch-Leninistischen Wörterbuch der Philosophie’ gibt es kein Stichwort ‘Glück’. – In einer Bierwerbung sitzen junge Leute auf einer Designercouch; sie reden nicht, haben sich aneinander geschmiegt. Einer trinkt Bier. Wie im Comic sind die Trinkgeräusche zu lesen – und zu hören, doch statt „gluck, gluck, gluck“ verspricht der Genuss dieser Biersorte: „Glück, Glück, Glück ist ein frisches Diebels“.
Glück, so Sigmund Freud, entspringt der Befriedigung höchst aufgestauter Bedürfnisse und ist nur als episodisches Phänomen möglich. Dies gilt umso mehr, als die Bedürfnisse dem Warenfetischismus der Wertlogik entspringen; das Glück der Befriedigung falscher Bedürfnisse bleibt leer. So schreibt Marcuse: „Wir können wahre und falsche Bedürfnisse unterscheiden. ‘Falsch’ sind diejenigen, die dem Individuum durch partikuläre gesellschaftliche Mächte, die an seiner Unterdrückung interessiert sind, auferlegt werden: diejenigen Bedürfnisse, die harte Arbeit, Aggressivität, Elend und Ungerechtigkeit verewigen. Ihre Befriedigung mag für das Individuum höchst erfreulich sein, aber dieses Glück ist kein Zustand, der aufrecht erhalten [wird] … Das Ergebnis ist dann Euphorie im Unglück.“46 Das ist die Unfähigkeit, glücklich zu sein, die Ohnmacht des Glücks. Diese Euphorie im Unglück benennt die Dialektik des Glücks; es schlägt unter gegebenen Bedingungen nur zu leicht ins Gegenteil um. Der Psychoanalyse stellt sich als bemerkenswertes Problem, „dass Menschen gelegentlich gerade dann erkranken, wenn ihnen ein tief begründeter und lange gehegter Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Es sieht dann so aus, als ob sie ihr Glück nicht vertragen würden, …“47 – Bei der Gruppe Blumfeld heißt dies: „Anders als glücklich / jetzt heißt es tapfer sein / ich bin untröstlich / einfach zu schwach zum Glücklichsein … Anders als glücklich / ich melde Zweifel an / irgendwas stimmt nicht / und das solang ich denken kann / Irren ist menschlich / jeder geht seinen Weg / anders als glücklich / solang bis nichts mehr geht … ich will Gewissheit haben / ich hab Angst davor wie’s weitergeht / und vorm Alleinesein.“48 Zu schwach zum Glücklichsein verweist darauf, dass im Zustand der bloß noch sporadisch gelingenden und fragmentierten Subjektivität selbst im glücklich-gelingenden Augenblick Glück nur Glück im Unglück bleibt: Glück im Spiel, Pech in der Liebe, oder umgekehrt, das „Ganze bleibt das Unwahre“ und es gibt „kein richtiges Leben im falschen“.49 – Wenn Glück die Lüge über die Beharrlichkeit des Unglücks ist, ein Schönmachen und Schöntrinken50 des bescheidenen und beschissenen Lebens, dann ist das Gegenteil von Glück nicht Unglück, sondern Angst, eben auch Angst vorm Glück, Euphobie. Und manches Glück geht auf in seinem Gegenteil: vorgetäuschtes Glück, die Lebenslüge.
In ‘Das Unbehagen in der Kultur’ nennt Freud drei Quellen des menschlichen Leidens, die Glück verhindern: Es sind erstens die Übermacht der Natur, zweitens die Hinfälligkeit unserer Körper, drittens die sozialen Unzulänglichkeiten (Familie, Staat, Gesellschaft). Sind wir weitgehend – trotz wissenschaftlich-technischer Fortschritte – unseren somatisch-natürlichen Unwegsamkeiten ausgeliefert, also von medizinisch-technologischen Rückschritten, die im Namen der Zivilisation manches Leiden eher verewigen, statt es aufzuheben, so kann nach Freud soziales Leiden abgestellt, zumindest gelindert werden: Auch dafür soll Kultur tauglich sein. Zugleich sind es die Spannungen und unheilvollen Beziehungen, die zwischen den Formen des Leidens bestehen, die das Leben noch unangenehmer, schmerzvoller machen können: Benachteiligung durch Behinderung oder Krankheit, selbst alltägliches psychisches Leiden wird sozial verstärkt, betont. Zwar ist Leiden, das Glück verhindert oder hemmt, primär physisch zu begreifen, wie es die materialistische Tradition begreift, die den geknechteten und versklavten Menschen vor Augen hatte – und insofern ist Glück auch an Abwesenheit von Schmerz, an gelingende Erfüllung körperlicher Bedürfnisse gebunden; doch sind die Empfindungszustände des Körpers sinnlich, schließlich psychisch vermittelt, und auch damit noch einmal dialektisch an ihre jeweilige gesellschaftliche Konstitution gebunden.51 Deswegen ist spätestens seit Feuerbach die Sinnlichkeit Grundlage des Glücks,52 wobei diese Sinnlichkeit nicht den Ästhetizismus des idealistisch verklärten Geistes meint, die Überhöhung des gesellschaftlich sowieso schon überhöhten und hegemonial herausgestellten Geschmacks und Genusses von Kultur, sondern den klaren Blick auf die sozialen Entstellungen der Sinnlichkeit und das durch sie vermittelte mögliche Glück: Die Nüchternheit des Materialisten verweist auf die Durchschnittlichkeit des Lebens der Meisten; Banalität, Gleichgültigkeit, Respektlosigkeit und Sinnlosigkeit sind Ursachen des Leidens der kapitalistischen Subjekte, Schnittstelle ihrer körperlichen und seelischen Verfassung, ihrer Selbstwahrnehmung und ihres Selbstbewusstseins. So bleibt als körperliche Kondition des Menschen: ihr Glücksstreben, ihr Handeln, das – positiv wie negativ – auf die Abwesenheit von Schmerz und Unlust ausgerichtet ist, andererseits sich um das Erleben starker Lustgefühle bemüht.53 So kann allein, nach Freud, die Vermeidung von Unlust als Glück empfunden werden, in diesem Fall: die Ruhe. Solches Glück ist aber nur zu oft das Unglück der Vermeidung der Lust, das Aufstauen und Aufschieben der Bedürfnisse, die mit Begehren, Wünschen und Trieben zu tun haben – eben oft sehr widersprüchliche Bedürfnisse, die im selben Maße die Unlust wie die Lust in sich einschließen. Ohnehin bleibt dies Glück das rein subjektive, individualisierte; es riskiert keine Gefahr, will nicht enttäuscht werden, weil es sich letzthin ohnmächtig und alleine weiß: die Konturen dieses Glücks sind sein Gegenteil, die Angst und der Verzicht. Diesen „Standpunkt des Glücks und Unglücks“, dieses Glück der „Zusammenstimmung“ und „des fehlenden Gegensatzes“,54 ist das private, das in der Leistungsgesellschaft als Tugend der Bescheidenheit gelobt wird; es reproduziert in seiner Enthaltsamkeit und Beherrschtheit die Langweiligkeit und Selbstkontrolle, die das Leben der Individuen bestimmen. Ausgespart wie schon der Gedanke an Emanzipation ist auch die Utopie des Glücks der Emanzipation.
Das Glück der Selbstbeherrschung wie das Unglück des Geduckten ist die Affirmation der abstrakten Macht realer Herrschaft des ökonomischen Zusammenhangs. Sie, die den Menschen eben als seine zweite Natur erscheint, ist dieselbe abstrakte, metaphysische Gewalt, die er sein Schicksal nennt, seine erste Natur, sein Charakter, seine Persönlichkeit, seine Mentalität; müssen sich die Durchschnittlichen mit dem Glück der Ruhe zu Frieden geben, steht den geborenen Glückskindern das aktive Leben offen: Sie werden bei Bewerbungen ausgewählt, sie machen stets das Schnäppchen, sind die ökonomisch Erfolgreichen. Gleichwohl, indem alles, was ihnen gelingt, auf ein Glück reduziert wird, das gänzlich mit Schicksal und Zufall identifiziert wird, erfahren tatsächliche Talente, sollten sie vorhanden sein, ihre Entwertung. Erfolg wird Glück, indem Glück zum Erfolg wird. Das fesselt alles Glück an die Macht, was Glück zugleich beschädigt: so wie Angst das Gegenteil von Glück, sind Ressentiments, Wut auf die Glücklichen, das Gegenteil von Unglück: „Der Gedanke an Glück ohne Macht ist unerträglich, weil er überhaupt erst Glück wäre … Noch als Möglichkeit, als Idee müssen sie den Gedanken an jenes Glück immer aufs neue verdrängen, sie verleugnen ihn um so wilder, je mehr er an der Zeit ist.“55 – Der Verdrängung der Möglichkeit von solchem Glück ohne Macht entspricht die Gewöhnung an die Normalität glückloser Macht, das Bewusstsein, dass Glück je die Ausnahme bleibt und auf wenige Momente im Leben Weniger verteilt wird. So soll das Glück auch seine Schattenseiten haben: Die Stars, die es geschafft haben, denen das Glück auf den Fotografien, die vom großen Galaabend gemacht wurden, förmlich ins Gesicht geschlagen wurde, haben auch ihr Elend, ihre Trennungen, Verletzungen und Krankheiten. Wenigstens das Unglück sollen sie mit der Masse teilen; das schmälert ihr Glück. Wer in der eigenen Ohnmacht sich eingerichtet hat, könnte deren Glück sowieso nicht ertragen. So ahmt die Kulturindustrie die Klassengesellschaft, die sie ökonomisch nivelliert haben will – alle sind gleich – im System der Stars nach; zugleich bestätigt sie damit das idealistische Glück des Individuums. Die kritische Theorie des Glücks geht darüber hinaus, indem sie diesen Glücksbegriff gegen seine falsche Verwirklichung durchs individuelle Schicksal in der emanzipatorischen Praxis aufhebt: „Glück wäre die verwirklichte Idee der Menschheit.“56 – Gustav Gans ist das Individuum, die Lüge vom Schicksal des gelingenden Lebens; Donald Duck hingegen repräsentiert den Individualismus des realen Unglücks: Was ihm widerfährt, gilt für alle. Deshalb entdecken wir in ihm uns wieder und ahnen: „Die Welt in der wir leben / wird vor die Hunde gehen / wir haben nichts mehr zu verlier’n / nur das Glück und das sagt wir.“57
Zusatz: Seiner neunten These ‘Über den Begriff der Geschichte’ über Paul Klees Bild „Angelus Novus“ hat Benjamin ein kleines Gedicht von Gershom Scholem vorangestellt: „Mein Flügel ist zum Schwung bereit / ich kehrte gern zurück / denn blieb‘ ich auch lebendige Zeit / ich hätte wenig Glück.“58
Anmerkungen
1 Zuerst in Donald Duck Heft 8 (1967); hier zitiere ich nach der Übersetzung von Erika Fuchs: Donald Duck, Familie Duck auf Nordpolfahrt, in: Klassik Album Nr. 5, Stuttgart 1985, S. 3 ff. Alle nicht weiter nachgewiesenen Zitate sind aus dieser Geschichte.
2 Gustav Gans in: Weihnachten in Kummersdorf, Klassik Album Nr. 5, a.a.O., S. 22.
3 Karl Marx, Das Kapital. MEW Bd. 23, Berlin 1986, S. 85.
4 Neid und Missgunst nennt Christian Smukal die beiden Haupteigenschaften des Menschen in der vermeintlich hedonistischen Popkultur.
5 Vgl. Max Horkheimer, Forschungsprojekt über Antisemitismus, in: Gesammelte Schriften Band 4, Frankfurt am Main 1988, insbesondere die „Typologie heutiger Antisemiten“, S. 394 ff.; sowie: ders., [Zur Psychologie des Antisemitismus], in: Gesammelte Schriften Band 12, Frankfurt am Main 1985, S. 172 ff.
6 Grobian Gans, Die Ducks. Psychogramm einer Sippe, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 68.
7 Gans, Die Ducks, a.a.O., S. 68.
8 Gans, Die Ducks, a.a.O., S. 68.
9 Gans, Die Ducks, a.a.O., S. 66. Gustav Gans sei „in Wahrheit eine bedauernswerte Marionette, mit deren plötzlichem und endgültigem Verschwinden aus Entenhausen leider gerechnet werden muss.“ (Ebd. S. 69.)
10 Ich teile nicht die Ansicht von Gans, Die Ducks, a.a.O., S. 69, dass Gustav in der unablässigen Demonstration seines Glücks um Donald werbe.
11 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, in: Adorno, Gesammelte Schriften Band 3, Frankfurt am Main 1981, S. 168.
12 Da Donald ja in die ganze Misere geraten ist, weil er Gustav die Schatzkarte gefälscht hat, kann er sich wenig über das Fundstück freuen: „Ich hasse Karten!“
13 Wolfgang J. Fuchs und Reinhold C. Reitberger, Comics. Anatomie eines Massenmediums, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 60.
14 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 160.
15 Vgl. Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main 1972; ders., Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt am Main 1984. Vgl. ferner meinen Beitrag: Tragische Zeichen. Zum Materialismus der symbolischen Formen – Konturen einer kritischen Kulturphilosophie, in: Roger Behrens, Kai Kresse und Ronnie Peplow (Hg.), Symbolisches Flanieren. Kulturphilosophische Streifzüge, Hannover 2001, S. 26 ff.
16 Hier ist nicht der Ort, um diese Problematik zu diskutieren. Verwiesen sei auf den Sammelband: Dieter Hoß und Heinz Steinert (Hg.), Vernunft und Subversion. Die Erbschaft von Surrealismus und Kritischer Theorie, Münster 1997. Benjamin schätzt, als Kritiker des Surrealismus, gerade die Rolle des Lachens über die Comicfiguren anders, als Moment möglicher Befreiung ein. Sein Beispiel ist Micky Maus, vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (erste Fassung), in: Gesammelte Schriften Bd. I·2, Frankfurt am Main 1991, S. 462.
17 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 82.
18 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 82 f. (Das Zitat ist aus der Odyssee.)
19 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 81 f.
20 Aristoteles’ Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis (und Poiesis) hat allerdings materialistisch die Prozesshaftigkeit und das Leiden (Pathos) mitgedacht; implizit ist dies auch im dynamischen Verhältnis von Wirklichkeit als Möglichkeit. Vgl. zu diesem Komplex: Ernst Bloch, Subjekt – Objekt. Erläuterungen zur Hegel, Frankfurt am Main 1971, S. 438
21 Adorno, Resignation, in: Gesammelte Schriften Band 10·2, a.a.O., S. 796.
22 Brüder Grimm, Hans im Glück, in: dies., Kinder- und Hausmärchen, Band 1, Stuttgart 1980, S. 407 ff. (alle folgenden Zitate des Märchens aus dieser Ausgabe.)
23 Freilich stecken da auch noch andere Motive in solcher Begeisterung; auch für die realen Abenteuer und ihr Glück wie Unglück scheint zu gelten: Mitleid ja, aber keine Solidarität. Für ihr Glück bewundert man sie, an ihrem Unglück sind sie aber selbst Schuld.
24 Die Formulierung eines „promesse de bonheur“ geht auf Stendhal zurück und wird durch die ästhetische Theorie und Kritik der Kulturindustrie bei Adorno radikalisiert: Es geht um Schönheit als Glücksversprechen; Kunst ist Statthalter des Glücks, und dies umso radikaler, je mehr Glück im Kapitalismus zum bloßen Surrogat wird (vgl. Konrad Lotter, Schönheit als Glücksversprechen, Köln 2000). Eine dialektische Figur: einerseits bleibt in der Warentauschgesellschaft das Glücksversprechen unerfüllt, leer; andererseits ist es aber gerade dieses Versprechen von Glück, das – bei Adorno eben in der Kunst aufgehoben – auf die utopische Möglichkeit einer befreiten Gesellschaft verweist. Kulturindustrie appelliert allerdings an die fantasielose Regression, die schon das Glücksversprechen fürs Glück selber nimmt und sich mit den Surrogaten, und sei’s der schnöde Rausch, zufrieden gibt.
25 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 167.
26 Irène Aghion, Claire Barbillon und François Lissarrague, Reclams Lexikon der antiken Götter und Heroen in der Kunst, Stuttgart 2000, S. 308.
27 Aghion, Barbillon und Lissarrague, Reclams Lexikon der antiken Götter und Heroen in der Kunst, a.a.O, S. 308.
28 Vgl. Alfred Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, in: ders., Drei Studien über Materialismus, München · Wien 1977, S. 183.
29 Vgl. Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a.a.O., S. 147.
30 Vgl. Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a.a.O., S. 149.
31 Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a.a.O., S. 179; vgl. auch: Herbert Marcuse, Zur Kritik des Hedonismus, in: Zeitschrift für Sozialforschung Jg. 7 (1938), München 1980 (Reprint), S. 55 ff.
32 Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a.a.O., S. 150.
33 Vgl. Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a.a.O., S. 172. Dieses theoretische Reduktion des subjektiven Glücks findet sich schließlich nicht von ungefähr auch in der Liebe wieder – es heißt ebenso: Keine Liebe ohne Leiden.
34 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke Band 12, Frankfurt am Main 1970, S. 41 f.
35 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O., S. 32.
36 Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied und Berlin 1969, S. 248.
37 Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften Bd. 7, a.a.O., S. 461.
38 Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a.a.O., S. 190.
39 Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a.a.O., S. 189.
40 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 505.
41 Marcuse, Kulturrevolution, in: ders., Nachgelassene Schriften Band 1: Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie, Lüneburg 1999, S. 117.
42 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a.a.O., S. 504 f.
43 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a.a.O., S. 507.
44 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a.a.O., S. 507.
45 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a.a.O., S. 507.
46 Marcuse, Der eindimensionale Mensch, a.a.O., S. 25.
47 Sigmund Freud, Die am Erfolg scheitern, in: Studienausgabe Bd. X, Frankfurt am Main 2000, S. 236
48 Blumfeld, Anders als glücklich, auf: Testament der Angst, 2001. Die titelgebende Zeile geht auf eine Formulierung von Kristof Schreuf zurück.
49 Vgl. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: Gesammelte Schriften Band 4, Frankfurt am Main 1997, S. 55 und S. 43. Das Ganze ist das Unwahre paraphrasiert Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke Band 3, a.a.O., S. 24: „Das Wahre ist das Ganze.“
50 Das Glück im Unglück der Ohnmächtigen bleibt der Rausch. In der ‘Dialektik der Aufklärung’ schreiben Adorno und Horkheimer vom „Glück der Rauschgifte …, mit deren Hilfe in verhärteten Gesellschaftsordnungen unterworfene Schichten Unerträgliches zu ertragen fähig gemacht wurden.“ Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 81; Auf das Glück als Lustempfinden durch Drogen und chemische Stoffe verweist auch Freud, Das Unbehagen in der Kultur, a.a.O., S. 210. Vgl. dazu auch Walter Benjamin, Der Surrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz, GS Bd. II·1, S. 297: „Die wahre, schöpferische Überwindung religiöser Erleuchtung aber liegt nun wahrhaft nicht bei den Rauschgiften. Sie liegt in einer profanen Erleuchtung, einer materialistischen, anthropologischen Inspiration, zu der Haschisch, Opium und was immer sonst die Vorschule abgeben können.“
51 Die Medizin problematisiert dies als Psychosomatik; wir treffen auf Magersucht, Essstörungen im Allgemeinen, Nervenkrankheiten, vor allem auch durch Arbeitszwang bedingte Krankheiten, ebenso Krebs, schließlich Alkoholismus und dergleichen. – Aus anderer Perspektive haben die Gender Studies, Judith Butler, Donna Haraway und andere, den scheinbar biologischen Körper in Frage gestellt als sozial konstruiert.
52 Vgl. Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a.a.O., S. 141.
53 Vgl. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Studienausgabe Band IX, a.a.O., S. 208 ff.
54 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O., S. 41 f.
55 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 196.
56 Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a.a.O., S. 195.
57 Blumfeld, Eintragung ins Nichts, auf: Testament der Angst, 2001.
58 Zit. n. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: GS Bd. I·2, S. 697.