erschienen in: Krisis 27 (November 2003)
Ernst Lohoff
“Ich habe”, nuschelte er wild, “immer von einer Schar von Männern geträumt, eisern entschlossen, bedenkenlos in der Wahl ihrer Mittel, stark genug, sich selbst rundheraus als Vernichter zu bezeichnen, frei von dem entsagungsvollen Pessimismus, der Welt vergiftet, ohne Mitleid mit irgendeinem Lebewesen, sie selbst eingeschlossen – der Tod im Dienste der Menschheit.” (Joseph Conrad, Der Geheimagent)
Das große Dementi
Der Epochenbruch von 1989 versprach, davon waren die westlichen Sieger fest überzeugt, den Beginn eines friedlichen Zeitalters. In einer im Zeichen von Demokratie, Menschenrecht und globalisierten Märkten geeinten Welt würden Krieg und Gewalt zu Auslaufmodellen. Diese Hoffnung griff zwei uralte Basisannahmen des Aufklärungsdenkens auf, um sie in sich zu vereinen. Zum einen wiederholte sie die seit dem 18. Jahrhundert umgehende Fama, im Herrschaftsbereich der Grundprinzipien der Moderne, Vernunft, Freiheit und Recht, sei für Blutvergießen eigentlich kein Platz. Kriege wären stets von staatlichen Akteuren losgetreten worden, die nicht auf dem Boden dieser Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit stünden. Mit dem Endsieg des Westens seien solche Kräfte verschwunden, ergo verwandle sich damit die Erde in einen Hort des Friedens. Zum anderen wurde der laufende Globalisierungsprozess als Verfriedlichungsgarant verstanden, weil mit dem Triumph des totalen Marktes die potentielle Kriegsmacht Staat gegenüber der vermeintlichen Friedensmacht Markt zusehends ins Hintertreffen gerät. Dass Politik und Staat an Eigengewicht verlieren, um sich nolens volens restlos der Markt- und Standortlogik unterzuordnen, so die Annahme, mache schon für sich genommen Kriege immer unwahrscheinlicher.
Auch die Vorstellung, dass dort, wo der Markt und seine Gesetze den Ton angeben die Waffen verstummen und der Triumph der ökonomischen Logik Pazifizierung bedeutet, hat tiefe historische Wurzeln. Seit den Tagen von Adam Smith und Immanuel Kant gehört sie zum Standardrepertoire liberaler Ökonomen und der Aufklärungsphilosophen: “Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der sich früher oder später jedes Volkes bemächtigt.”(1) Thomas Paine war es vorbehalten, der liberalen Verfriedlichungserwartung ihre klassische Gestalt zu geben. In seinen 1792 erschienenen Rights of Man feiert er nicht nur die am bürgerlichen Prinzipienhimmel strahlenden Ideale als friedensstiftend, sondern im gleichen Atemzug den Markt als “ein friedliches System, das dahin wirkt, die Menschen einander näher zu bringen, indem er Nationen ebenso wie Individuen einander nützlich werden lässt.” “Die Erfindung des Handels ist der größte Schritt zu einer allgemeinen Zivilisation, der noch mit Mitteln gemacht wurde, die nicht unmittelbar aus moralischen Prinzipien fließen”.(2)
Die Entwicklung der letzten Dekade hat die Erwartungen, die Welt würde mit dem Endsieg des Westens friedlicher, gründlich dementiert. Dieses Dementi ist freilich nicht so zu verstehen, dass Optimisten aus richtigen Voraussetzungen voreilige Schlüsse gezogen hätten. Unhaltbar sind vielmehr die aus dem Fundus des Aufklärungsdenkens stammenden Basisannahmen. Sie stellen die realen Zusammenhänge auf den Kopf. Zum einen reimen sich Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit keineswegs auf Frieden und Versöhnung. Näher berochen, entströmt diesen Prinzipien vielmehr seit jeher ein unangenehm süßlicher Geruch, ein Fluidum von Tod und Mord, das heute verstärkt freigesetzt wird.
Zum anderen führt die Gleichsetzung von Markt und Frieden in die Irre. Sicherlich war die Aufstiegsphase der Warengesellschaft davon geprägt, dass Gewalt und Krieg zunehmend zur alleinigen Staatsangelegenheit wurden. Deshalb bringen die laufenden Deetatisierungsprozesse Gewalt und Krieg aber noch lange nicht zum Verschwinden. Sie machen im hereinbrechenden Krisenzeitalter lediglich einen Gestaltwechsel durch. Gerade im Rahmen der Globalisierung blühen in weiten Teilen der Welt regelrechte Gewaltmärkte auf, während neue Typen von Gewaltakteuren auf den Plan treten. In der Form von Warlords und Mafiaherrschaft kehrt das aus der Epoche der Renaissance und aus Konflikten wie dem Dreißigjährigen Krieg vertraute Kriegsunternehmertum in weiten Teilen der Dritten Welt wieder. Aber auch das staatliche Gewaltregime in den westlichen Zentren macht Metamorphosen durch, die eher auf die Freisetzung denn auf das Verschwinden von Gewaltpotentialen hinauslaufen.
Der Aufsatz beginnt mit einer geistesgeschichtlichen Probebohrung. In der exemplarischen Auseinandersetzung mit Hegel, Hobbes und Freud wird die These entwickelt, dass der westliche Wertekanon von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit letztlich auf einstweilen sistierten Mord und Totschlag gründen. Das Warensubjekt formiert sich um einen Gewaltkern herum. Der zweite Teil untersucht den Prozess der Durchstaatlichung von Krieg und Gewalt und fasst den Aufstieg des Staates zum einzig legitimen Gewaltakteur als Doppelprozess der Implantierung und Bändigung dieses Gewaltkerns. Im dritten Teil wird die Auflösung des durchstaatlichten Gewaltregimes beschrieben. Die verdrängte mörderische Grundlage der Subjektkonstitution und der westlichen Werte drängt ans Licht.
I. Teil
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und der Gewaltkern des Warensubjekts
Seinem eigenen Selbstverständnis nach handelt es sich beim westlichen Wertekanon um ein Gegenprogramm zu Willkür, Tyrannei und Mord. Vertrag, Recht und Moral ziehen ihre Legitimation daraus, dass ihre Herrschaft anomische Verhältnisse und Blutvergießen verhindert. Näher besehen, zeigt sich freilich ein etwas anderes als das von der westlichen Ideologie gezeichnete Bild. Die Krankheit, zu deren Heilung die westlichen Werte dienen sollen, wird überhaupt erst vom Heilmittel geschaffen. Vernichtung, Mord und Chaos sind für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit konstitutiv. Diese Prinzipien stehen keineswegs für das Gegenteil von Zerstörung und Totschlag, sondern gehen aus deren partieller Sistierung und Sublimierung hervor, aus Prozessen, die sich im Abstieg der Warengesellschaft durchaus als reversibel erweisen können. Wo an die Stelle der warengesellschaftlichen Normalität anomische Zustände treten, machen diese Zerfallsprozesse nur deren hässlichen Untergrund sichtbar.
Im gleichen Maß wie dem Warenverstand die westlichen Werte in Fleisch und Blut übergegangen sind, wurden sie jeder Reflexion entrückt. Mit entrückt ist damit auch der innere Zusammenhang zwischen den universellen Prinzipien der Aufklärung und der ihnen zugrunde liegenden Logik von Gewalt und Vernichtung. Bei den Vordenkern und Durchsetzungsideologen sah das noch anders aus. Liest man deren theoretische Konstruktionen gegen den Strich, dann plaudern sie Dinge aus, die ihre Erben nicht mehr aussprechen würden. Schon eine kurze geistesgeschichtliche Probebohrung fördert über die Fundamente von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit so viel Ungeheuerliches zu Tage, dass es unmöglich wird, sich noch einmal unbefangen und ohne aufsteigenden Brechreiz positiv auf die Ideen von 1789 zu beziehen.
1. Gleichheit und die Tötbarkeit des Menschen
Es ist keineswegs übertrieben, in der panischen Angst vor selber geschaffenen Gewaltgespenstern den Urgrund aller modernen Staats- und Vertragstheorie und der Legitimation des Staates auszumachen. Zumindest beim Stammvater des politischen Denkens, Thomas Hobbes, bildet sie unübersehbar Ausgang und Leitmotiv. Hobbes geht es darum, die Herrschaft eines Souveräns zu legitimieren und zu propagieren. Dabei zeichnet er ein alles andere als freundliches Bild des Souveräns. Wie die an die Bibel angelehnte Namensgebung, Leviathan, bereits verrät, fordert er explizit die Herrschaft eines Ungeheuers, das alle Staatsbürger mit Gewaltandrohung in Schach hält. Genau diese Übermacht scheint aber unerlässlich, weil Hobbes sich das Menschengeschlecht immer schon als Ansammlung notorischer asozialer Gewaltsubjekte imaginiert. Nur das große Monstrum, so seine ständig wiederholte Grundthese, kann die vielen kleinen Monster daran hindern, einander permanent an die Kehle zu gehen, und damit den als Naturzustand apostrophierten “Krieg aller gegen alle” beenden.
Ausgangspunkt aller Vertragstheorien ist die Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen. Diese Idee kannte zwar auch schon das Mittelalter; Gleichheit bezog das abendländische Denken damals aber nur auf das Jenseits, auf die Gleichheit aller Sterblichen vor Gott. Hobbes fällt das Verdienst zu, das Ideal der Gleichheit aus den himmlisch religiösen Sphären auf die Erde heruntergeholt zu haben. Es wirft allerdings ein Schlaglicht auf diesen Säkularisierungsprozess, wie der Urvater der Vertrags- und Staatstheorie die Gleichheit aller Menschen bestimmt. An die Stelle der Sterblichkeit als conditio humana ist die Tötbarkeit gerückt. Die Menschen sind insofern gleich, als sie sich allesamt gegenseitig umbringen können.
Hobbes’ durch und durch empiristisches Gleichheitsverständnis unterstellt zunächst “eine Gleichheit der Hoffnung”. Diese vereint Menschen aber keineswegs zu gemeinsamem Tun und Handeln, sondern stellt sie im Gegenteil im Streben “nach demselben Gegenstand, den sie nicht zusammen genießen können”, einander gegenüber. Gerade die “Gleichheit der Hoffnung” führt die Menschen “in Verfolgung ihrer Absicht, die grundsätzlich Selbsterhaltung und bisweilen nur Genuss ist”, dazu, “Feinde” zu werden. Im “Naturzustand” bleibt es aber keineswegs bei der bloßen Missgunst und dem beständigen einander Belauern. Der Gleichheit der Hoffnung entspricht nämlich auch eine “Gleichheit der Fähigkeit”, und darunter ist vor allem anderen die Urfähigkeit, einander ins Jenseits zu befördern zu verstehen. Für Hobbes sind alle Menschen insofern gleich, als auch “der Schwächste stark genug ist, den Stärksten zu töten – entweder durch Hinterlist oder durch ein Bündnis mit anderen.”(3)
Allein die Existenz einer mit allen Zwangsmitteln ausgerüsteten staatlichen Gewalt ermöglicht die Transformation der Gleichheit der mörderischen Urbeziehung in die Gleichheit von Vertrags- und Rechtssubjekten. Die Vertrag und Recht setzende staatliche Instanz entspringt dabei der Übereinkunft geborener Killer, ihrem angestammten Totschlagsrecht zu entsagen, indem sie es einem Generalkiller übertragen.
Natürlich lässt sich unschwer der spezifische historische Hintergrund ausmachen, dem Hobbes’ Ansatz seine Entstehung verdankt. Der “Leviathan” wurde unter dem Eindruck der “Staatsbildungskriege” (Jakob Burkhard) des 15. und 16. Jahrhunderts geschrieben, die darüber entschieden, wem auf welchen Territorien West- und Mitteleuropas jeweils der neue Job des Souveräns zufallen würde. Angesichts der diesen Ausschlussprozess begleitenden, bis dahin unbekannten Gräuel hat Hobbes’ Wunsch, die Zahl der Bewerber möge sich für England, Frankreich und andere Länder so schnell wie möglich auf einen – egal welchen – reduzieren, schon etwas für sich. Indem Hobbes die Untaten der frühmodernen Staatsapparate in spe in die menschliche Natur schlechthin projiziert, verkehren sie sich aber nicht nur zur Legitimationsideologie für die Ansprüche absolutistischer Herrschaft in seiner Epoche. Gleich in zweifacher Hinsicht weist Hobbes’ Denken über seine eigene Zeit hinaus. Zum einen machte seine Projektionsleistung Schule. Wie er die Brutalität des frühmodernen Militärabsolutismus der menschlichen Natur zuschreibt und die Durchsetzung der westlichen Vernunft zur Lösung für alle mit diesem Prozess verbundenen Gräuel umdefiniert, so hat es der Warenverstand immer wieder fertiggebracht, das Erschrecken über seine gerade überwundenen oder gegenwärtigen Ausgeburten zur Selbstlegitimierung zu benutzen. Ob Hexenwahn, Nationalsozialismus oder Al Qaida, er versteht es stets, in seinen eigenen Produkten ihm wesensfremde, namenlosen Abgründen der menschlichen Seele entsprungene Mächte zu erkennen. Zum anderen macht Hobbes’ Konstrukt das Grundverhältnis sichtbar, in das ungesellschaftliche Gesellschaftlichkeit Menschen versetzt. Vertrag und Recht sind kein Niederschlag menschlicher Kooperation, sondern erwachsen aus sublimierter Gewalttätigkeit, Gewalttätigkeit, die im warengesellschaftlichen Normalvollzug nicht zugelassen, ihm aber logisch vorausgesetzt ist.
2. Die Freiheit und der Kampf auf Leben und Tod
Den Zusammenhang von Freiheit und Gewalt hat Hegel immer wieder dezidiert zum Thema gemacht. Vom Geist heißt es an prominenter Stelle, nämlich in der Einleitung der Phänomenologie, programmatisch: “Nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes.”(4) Was das für das freie Warensubjekt und sein Selbstbewusstsein bedeutet, wird vor allem im Herr-Knecht-Kapitel der Phänomenologie deutlich.
Ausgangspunkt auf dem Weg zu Selbstbewusstsein und Freiheit ist ein Zweikampf auf Leben und Tod, aus dem zwei Gestalten hervorgehen, der Herr und der Knecht.(5) Dieser Unterschied zwischen “Selbständigkeit” und “Unselbständigkeit” geht darauf zurück, dass die Kämpfer einen unterschiedlichen Grad an Todesverachtung an den Tag gelegt haben. Der “Herr” schwingt sich zur ersten, noch unvollkommenen Personifikation des Selbstbewusstseins auf, weil er bis zum Äußersten gegangen ist. Der Knecht hingegen ist im entscheidenden Moment davor zurückgeschrocken, “das Leben dranzugeben” und hat damit die Latte gerissen, über die ein Mensch hinwegsetzen muss, um in den Stand der Anerkennung und des Selbstbewusstseins zu gelangen: “Ein Individuum, welches das Leben nicht gewagt hat…, hat die Wahrheit” seines “Anerkanntseins … nicht erreicht.”(6)
Allerdings wird auch für den Knecht der Zweikampf zum Ausgangspunkt seines Weges zum Selbstbewusstsein. “Dies Bewußtsein hat nämlich nicht um dieses oder jenes, noch für diesen oder jenen Augenblick Angst gehabt, sondern um sein ganzes Wesen; denn es hat die Furcht des Todes, des absoluten Herrn, empfunden. Es ist darin innerlich aufgelöst worden, hat durchaus in sich selbst erzittert, und alles Fixe hat in ihm gebebt.”(7) Genau dieses Erbeben macht ihn nämlich reif, über den Umweg der Arbeit das “natürliche Daseyn”, von dem sich der Herr im Kampf befreit hat, ebenfalls hinter sich zu lassen und das letztlich noch gründlicher, als es der Herr tat, als er direkt den Stand des Selbstbewusstseins erklomm. Die Selbstzwecktätigkeit der Arbeit übernimmt die Funktion des Kampfes “auf Leben und Tod” und tritt damit dessen Erbe an.
Im Urszenario der Erringung von Freiheit und Selbstbewusstsein tritt den Kämpfenden der Tod gleich dreifach entgegen. Zum einen “geht jeder auf den Tod des Anderen”. Die Erringung des Selbstbewusstsein ist demnach an den Willen geknüpft, das Gegenüber zu einem toten Objekt zu machen. Gleichzeitig schließt es “dasDaransetzen des eigenen Lebens in sich”, also die Bereitschaft, sich selber in ein solches zu verwandeln und sich seinem eigenen Geschick gegenüber gleichgültig zu verhalten. Und schließlich bedeutet die Wesensbestimmung von Anerkennung und Selbstbewusstsein als Kampfprodukt, die Entwertung all dessen, was nicht auf dem Schlachtfeld seine Heimat und sein Urbild findet. Was nicht geboren ist, das Leben zu wagen, gilt als unwesentlich und somit paradoxerweise selber als tot. Für Hegel toben Freiheit und eigentliches Leben dementsprechend nur auf dem Schlachtfeld und auf dessen Surrogaten, dort wo Bürger männlichen Tugenden frönen. Oder um Hegel selber zu Wort kommen zu lassen: “Weil er nur als Bürger wirklich und substantiell ist, so ist der Einzelne, wie er nicht Bürger ist und der Familie angehört, nur der unwirkliche marklose Schatten. Diese Allgemeinheit, zu der der Einzelne als solcher gelangt, ist das reine Sein, der Tod; es ist das unmittelbare natürliche Gewordensein, nicht das Tun eines Bewußtseins.”(8)
Dieses Verdikt richtet sich in erster Linie gegen das, dessen Existenz ihm charakteristischerweise nicht einmal der Erwähnung wert ist, nämlich das abgespaltene Weibliche. Der männliche Logos und das männliche Selbstbewusstsein imaginieren sich als die Quelle allen wahren Lebens, die alles Wesenhafte in der Wirklichkeit aus sich heraus setzt.(9) Während die Frau unweigerlich ihr Dasein vollständig im Inneren der Familie und damit im Reich der “marklosen Schatten” fristet, hat der Mann als Staatsbürger und Krieger Teil an dem aus der Konfrontation mit dem Tod geborenen Leben. Der eigentliche Kreißsaal, in dem sich diese sonderbare männlichen Gebärfähigkeit realisiert, bleibt für Hegel dabei allemal das Schlachtfeld. Tod und Vernichtung sind also keineswegs mit dem imaginären Urakt des Zweikampfs zwischen Herr und Knecht abgetan. Um die Regression des Selbstbewusstsein auf den kreatürlichen Standpunkt zu verhindern, muss das Ur-Duell seine periodische Erneuerung finden. Dem Krieg, dem “erweiterten Zweikampf” (Clausewitz), kommt diese Aufgabe zu: “Der Krieg ist der Geist und die Form, worin das wesentliche Moment der sittlichen Substanz, die absolute Freiheit des sittlichen Selbstwesens von allem Dasein, in ihrer Wirklichkeit und Bewährung vorhanden ist.”(10)
Hegel war Apologet und Propagandist des sich herausbildenden warengesellschaftlichen Gefüges, nicht dessen Kritiker; aber er war kein Verehrer der Zerstörung als Selbstzweck. Gerechtfertigt erschien ihm der Kampf auf Leben und Tod allein durch seine gelungene Überwindung, in der Verallgemeinerung des selbstbewussten Arbeits- und Warensubjekts. Die Möglichkeit des “schnellen Todes” im Zweikampf lief nicht auf dessen Ästhetisierung hinaus, sondern mündete in das Lob des “langsamen Todes” (Baudrillard), der Selbstzurichtung des Warensubjekts bei der Verausgabung abstrakter Arbeit.
Auch Hegels apologetischer Bezug auf den Krieg steht dazu keineswegs in Widerspruch. Wenn er dem Krieg die Ehre gibt, dann hat er dabei keine totale Vernichtungsorgie im Auge, die keinen Stein auf dem anderen lässt. Der Krieg demonstriert lediglich die Nichtigkeit der Einzelexistenz. Während spätere Autoren den Blick ins Auge des Todes auf dem Schlachtfeld als Akt der Selbstsetzung des Individuums feiern, betrachtet ihn Hegel wie das Sterben überhaupt als Sieg der menschlichen Gattung über das Einzelexemplar. Im Tod triumphiert die als Allgemeinheit gedachte Freiheit über das bornierte Besondere: “Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod, und zwar ein Tod, der keinen inneren Umfang und Erfüllung hat; denn was negiert wird, ist der unerfüllte Punkt des absolut freien Selbsts; er ist also der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers.”(11)
Entfesselte Vernichtung, die nicht nur den Einzelnen erzittern lässt, sondern das Allgemeine erschüttert, lässt Hegel dagegen erschaudern. Das wird in den Passagen aus der Rechtsphilosophie deutlich, in denen Hegel auf den inneren Zusammenhang von warengesellschaftlicher Normalität und reiner Vernichtung in Hinblick auf Staat und Politik zu sprechen kommt. Der “freie Wille”, der mit dem Ende der Geschichte im preußischen Staat zu sich kommt und dem Hegel huldigt, ist ein inhaltlich positiv bestimmter, der die gesamte Wirklichkeit zu Staatsbildungs- und Wertverwertungsmaterial gemacht hat. Bevor er diese Endstufe erreichen kann, nimmt er allerdings erst einmal die Gestalt eines “negativen Willens” an, der “aus allem Inhalte als einer Schranke” flieht. Freiheit erscheint vorderhand als die “Freiheit der Leere, welche zur wirklichen Gestalt und zur Leidenschaft erhoben und zwar, … zur Wirklichkeit sich wendend, im Politischen wie im Religiösen der Fanatismus der Zertrümmerung aller bestehenden gesellschaftlichen Ordnung, und die Hinwegräumung der einer Ordnung verdächtigen Individuen, wie die Vernichtung jeder sich wieder hervorthun wollenden Organisation wird. Nur, indem er etwas zerstört, hat dieser negative Wille das Gefühl seines Daseyns, er meint wohl etwa irgendeinen positiven Zustand zu wollen, z.B. den Zustand allgemeiner Gleichheit oder allgemeinen religiösen Lebens, aber er will in der Tat nicht die positive Wirklichkeit desselben, denn diese führt sogleich irgendeine Ordnung, eine Besonderung sowohl von Einrichtungen, als von Individuen herbei, die Besonderung und objektive Bestimmung ist es aber, aus deren Vernichtung dieser negativen Freiheit ihr Selbstbewußtseyn hervorgeht. So kann das, was sie zu wollen meint, für sich schon nur eine abstrakte Vorstellung und die Verwirklichung derselben nur die Furie des Zerstörens seyn.”(12)
Die Bewegung der “absoluten Abstraktion”, die, ansonsten inhaltsleer, ihren Inhalt in der reinen Destruktion findet, identifizierte Hegel historisch mit der Schreckenszeit der Französischen Revolution. Indem Hegel die “Furie des Zerstörens”, vor der er erschaudert, einzig und allein einer abgeschlossenen Epoche zuordnet und zu einem zwar notwendigen, aber aufgehobenen Durchgangsstadium erklärt, verkehrt er sie zur Legitimation der Warengesellschaft und ihrer Staatlichkeit. Streicht man den Hegelschen Geschichtsoptimismus durch, ohne den inneren Zusammenhang von Freiheit der Vernichtung und warengesellschaftlicher Normalität mitzulöschen, dann ergibt sich allerdings ein anderes konsistenteres, allerdings auch beängstigenderes Bild: Bei der angeblich ein für allemal überwundenen Frühform des Reiches der Freiheit, “der Furie des Zerstörens”, “der Freiheit der Leere” handelt es sich um eine der Logik des “freien Willens” und der westlichen Prinzipien stets inhärente Möglichkeit. Schlimmer noch, was Hegel als vermeintliche Durchgangsphase behandelt, droht zum Fluchtpunkt der Moderne zu werden. Zerfällt die warengesellschaftliche Normalität, wird also die staatliche Form brüchig und verliert die Selbstzweckbewegung der Arbeitsvernutzung ihre Bindekraft, dann kann an die Stelle dieses Selbstzwecks ein alternativer Selbstzweck treten: Destruktion und Vernichtung. Die warengesellschaftliche Freiheit, die ihren Inhalt, die Errichtung von Staaten und die Akkumulation abstrakter Arbeit, verliert, gewinnt in der blanken Zerstörung einen möglichen letzten Inhalt. Als “molekularer Bürgerkrieg” (Enzensberger) droht Hobbes’ Schreckensvision “vom Krieg aller gegen alle” Wirklichkeit zu werden.
3. Brüderlichkeit und erweiteter Selbstmord
Hobbes und Hegel haben bereits ausgeplaudert, dass die Arbeit, also der warengesellschaftliche Naturbezug, auf Gewalt zurückgeht; im Kampf auf Leben und Tod haben sie fernerhin die Quelle des Selbstbewusstsein und der Allgemeinheit des Staates gefunden. Die Prinzipien Freiheit und Gleichheit sind Abkömmlinge dieser Urerfahrung. Sowohl der Naturbezug der Warensubjekte als auch ihre Identität gründen auf Gewalt, und ebenso ist die Urbegegnung des Warensubjekts mit dem Anderen, die soziale Urbeziehung, alles andere als friedlich. Die Liste mag schon umfangreich sein, sein Bewenden hat es damit freilich noch nicht. Es bleibt die Frage nach dem ursprünglichen sozialen Band, oder um es von den heiligen Idealen der bürgerlichen Revolution “Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit” zu formulieren: verbirgt sich hinter dem letzten Teil des dreifaltigen Versprechens die gleiche Drohung?
Die Antwort unseres dritten unfreiwilligen Kronzeugen, Sigmund Freud, fällt ziemlich eindeutig aus. Am Anfang aller Vergesellschaftung stünde eine kollektive Mordtat, die bis heute unser Denken und Fühlen und unsere Kultur präge. Ursprünglich, so Freud in Anlehnung an Darwin, wäre das Menschengeschlecht in prägesellschaftliche Vaterhorden zersplittert gewesen, die nur für den Chef-Tyrannen und seine Frauen, aber nicht für die geschlechtsreifen Söhne Platz gehabt hätten. Gesellschaftlichkeit sei erst entstanden, als die vertriebenen Brüder sich zur gemeinsamen Mordtat zusammengerottet hätten, um dann von dieser Urkollektivschuld geplagt, ein gemeinsames Regiment zu errichten: “Die Gesellschaft ruht … auf der Mitschuld an dem gemeinsam verübten Verbrechen, die Religion auf dem Schuldbewusstsein und die Reue darüber, die Sittlichkeit teils auf den Notwendigkeiten dieser Gesellschaft, zum anderen Teil auf den vom Schuldbewusstsein geforderten Bußen.”(13)
Die innere Verwandtschaft zwischen Freuds Spekulationen über den Urzustand der Menschheit und die Entstehung der Kultur und der Hobbesschen Ideenwelt ist nicht nur mit Händen zu greifen, weil beide einen Zustand radikaler Ungeselligkeit als Ausgangsbedingung der Menschheitsentwicklung unterstellen. Kommen bei Hobbes die geborenen Totschläger in einem Gesellschaftsvertrag überein, ihre Souveränität auf den Staat zu übertragen, um dem allgemeinen Morden ein Ende zu setzen, so übernimmt bei Freud ein direktes Gentlemen’s Agreement zwischen den Killern genau die gleiche Funktion: “Indem die Brüder sich einander … das Leben zusichern, sprechen sie aus, dass niemand von ihnen vom anderen behandelt werden dürfe, wie der Vater von ihnen allen gemeinsam.”(14) Stellt man den Fortgang der Freudschen Argumentation in Totem und Tabu in Rechnung, dann nähert sie sich noch weiter der des Urvaters der Staatstheorie an und erweist sich als deren um die Frage der Familie(15) und um das Seelenleben der Mörder erweitere Reproduktion. Die Kulturentwicklung bleibt laut Freud nämlich nicht beim Bruderclan stehen. Gesellschaft und Kultur repräsentieren vielmehr auf die posthume Identifikation mit der väterliche Autorität gegründete Instanzen. Innerpsychisch feiert der erschlagene Patriarch als Über-Ich, religiös als Vatergott und last not least weltlich als “Vater” Staat fröhliche Urständ. Mit diesem letzten Punkt landet Freud aber genau dort, wo Hobbes einige Menschenalter früher schon angelangt war.
In der neueren Freudrezeption finden “Totem und Tabu” und die späteren kulturtheoretischen Schriften nur wenig Gegenliebe. Der kollektive Vatermord gilt gemeinhin genauso als wilde und haltlose Spekulation wie die nach dem Ersten Weltkrieg ausformulierte Theorie eines genuinen “Todestriebs”, der in diesem die Weltgeschichte angeblich eröffnenden Ereignis manifest geworden sein soll. Keine Frage – das Konstrukt einer Bruderhorde spricht allem mittlerweile über die Prähistorie Bekannten Hohn. Und auch die Aussage, “das Ziel alles Lebens ist Tod”, denn “das Leblose war früher da als das Leben”(16), klingt erst einmal reichlich dubios. Handelt es sich bei diesem nekrophilen Raunen aber deswegen wirklich nur um Arabesken, die zur Rettung des analytischen Gehalts des Freudschen Ansatzes ersatzlos zu streichen sind? Oder sind die metapsychologischen Konstruktionen des Vatermords und des Todestriebs unverzichtbare Elemente im Bau der Freudschen Theorie? Sind sie unerlässlich, damit Freud vom Gewaltkern des Warensubjekts sprechen kann, ohne ihn als ein für die bürgerliche Gesellschaft spezifisches Phänomen kenntlich zu machen?
Wie vor ihm Hobbes und Hegel, so wird auch bei Freud die für das Warensubjekt konstitutive untergründige Beziehung zur Gewalt sichtbar. Wie seine Vorgänger kann er dieses intime Verhältnis freilich nur offen legen, indem er dessen spezifischen Charakter verdunkelt und es zu etwas Überhistorischem und Naturgegebenem erklärt, also Verdrängung durch Projektion ersetzt. Der projektive Charakter von Freuds phylogenetischem Mythos ist kaum zu übersehen. Beim archaischen Vatermord handelt es sich aber nur um die oberste Schicht einer insgesamt von einer durchgehenden Ontologisierung bestimmten Theoriebildung. Das gilt zunächst einmal für das ontogenetische Vorbild der ominösen Väter mordenden prähistorischen Bruderhorde, also das ödipal geprägte männliche Kleinkind.(17) Freud lässt es in einer Art Wiederholungszwang das mörderische Urszenario reproduzieren. Das verkehrt den realen Zusammenhang. Die (selbst)zerstörerischen Neigungen, die das Warensubjekt in statu nascendi entwickelt, entstammen nicht dem “kollektiven Unbewussten” und der nachträglichen(18) Wiedererinnerung archaischer Verhältnisse, die sofort der “Urverdrängung” anheim fallen sollen. Was da verdrängt wird, sind Errungenschaften der Warenzivilisation. Die Verdrängung ist demnach kein primärer, sondern ein sekundärer Akt, und vor die Fesselung des Gewaltkerns ist allemal dessen Implantierung gesetzt.
Das ist freilich noch nicht die tiefste Schicht der Freudschen Ontologisierung. Die ödipale Problematik steht bei Freud keineswegs für sich. Die Versagung, die der Vater dem Sohn aufherrscht, herrscht er ihm als Vertreter des “Realitätsprinzips” auf. Sie bildet demnach nur die Fortsetzung und Bündelung einer ganzen Reihe schon vorhergehender Versagungen. Die Welt erfährt der Freudschen Darstellung zufolge der junge Erdenbürger von Anfang an als ungastlichen Ort und jedwede Befriedung als ausgesprochen prekäre und flüchtige Angelegenheit. Für das Warensubjekt ist das zweifellos zutreffend. Ihm verwandelt sich tatsächlich jeder Genuss in eine Ersatzbefriedung. Es gelangt nie an ein Ziel, an das zu gelangen letztlich lohnend wäre. Diese Unrast und emotionale Unterernäherung erscheint bei Freud indes als eine conditio humana, als ein rein endogenes, letztlich bereits mit der Biologie des Mängelwesens Mensch gesetztes Problem. Bereits die Einführung des Triebkonzepts schreibt diese falsche Ontologisierung fest. Indem Freud Triebbefriedigung als Spannungsabbau und als eine Form des Reizschutzes und damit als Annäherung an einen “anorganischen Zustand” definiert, muss die Beziehung des Menschen zur Außenwelt als Frustrationsverhältnis erscheinen. Jede libidinöse Befriedigung bleibt nicht nur provisorisch, sondern letztlich ein Umweg. Die eigentliche Befriedigung und das eigentliche Ziel kann nur im endgültigen Eingehen ins Reich des Anorganischen liegen, das den Menschen von der Wiederkehr von Trieb und Spannung erlöst. Freud hat den “Todestrieb”, in dem er den Gegenspieler zum Eros ausmacht, zwar erst relativ spät eingeführt, diese Einführung liegt aber in der Logik des Triebkonzepts und ist zu dessen Rettung theorieimmanent notwendig.(19) Er entspricht einfach viel besser dem nach dem “Nirwana-Prinzip”(20) geformten Triebkonzept als sein Gegenpol und es ist nur folgerichtig, dass Freud ihn schließlich dem Eros gegenüber triebtheoretisch als die ursprünglichere und übergreifende Regung klassifiziert hat.
Es würde zu kurz greifen, Freuds Vorstellung einer dem Menschen letztlich immer schon feindlichen Außenwelt und ihr Pendant, den nimmersatten Trieb, einfach als “falsch” abzutun. Gesellschaftskritik hat Freud vielmehr insofern zu kritisieren, als er ein Produkt der “zweiten Natur” als erste Natur verkauft; ferner hat sie den sich daraus ergebenden theoretischen Verkehrungen nachzuspüren. Rollt man von diesem Ausgangspunkt seinen Ansatz neu auf, dann erscheint das “archaische Erbe”, die vatermordende Bruderhorde, in einem ziemlich veränderten Licht. Sie wird als in mystische Gewänder gehüllter Überbegriff kenntlich, der alle an der Implantierung des Todestriebes beteiligten sozialen Instanzen umfasst. Die Mordlust der “Brüderhorde” gegenüber dem Vater, auf die sich Freud so kapriziert, erweist sich dabei als Chiffre für einen viel allgemeineren Vernichtungsdrang und gleichzeitig als Ableugnung des eigentlichen Angriffsziels. Vor allem anderen vertritt die “Bruderhorde” in voller Übereinstimmung mit dem väterlichen Gebot das sich selber genügende männliche Prinzip und die Angst vor der Frau und darüber hinaus vor dem unreglementierten Sich-Einlassen auf Wirklichkeit überhaupt. Im Ideal der “Brüderlichkeit” verpflichten die Warensubjekte sich und jeden anderen auf das Programm der “Emanzipation” vom Stofflich-Sinnlichen. In der Diktatur von Wert und Logos hat das Ziel der Verwandlung dieses Planeten in einen gegen Genuss und Befriedigung weitgehend resistenten Ort klare Konturen angenommen. Wirklichkeit ist nur als sinnliche Darstellungsform von Abstraktionen zugelassen. Es bleibt aber noch ein zweiter, direkter Weg zur restlosen Befreiung von unkontrollierter Wirklichkeit und von Genuss und Befriedigung offen: die Weltvernichtung. Der vermeintliche Ausgangspunkt der Kulturentwicklung, der gemeinschaftliche Vatermord, vertritt nur den möglichen Schlusspunkt der Moderne, den erweiterten kollektiven Selbstmord der patriarchalen Wertgesellschaft.
4. Der Gewaltkern des Warensubjekts
Sexualität – oder zumindest das, was die Moderne darunter versteht – ist, wie Foucault recht überzeugend dargelegt hat, überhaupt erst mit dem Verbot des Geschlechtlichen entstanden. Es wurde nichts Vorausgesetztes unter Kontrolle gebracht, vielmehr schaffen die Kontrollprozeduren erst ihren Gegenstand. Ein ganz ähnlicher Zusammenhang lässt sich auch für das Phänomen der Gewalt rekonstruieren. Offiziell ein friedliebendes Wesen, ist das Warensubjekt von dem fasziniert, um nicht zu sagen besessen, was es in seinen öffentlichen Bekundungen mit aller Entschiedenheit ablehnt. Zumindest dem Warensubjekt in seiner eigentlichen, also männlichen Ausprägung darf man ruhig unterstellen, dass es zur Gewalt eine genauso intime Beziehung pflegt wie einst die Heilige Inquisition zu Wollust, Hexerei und Ketzertum. Nicht, dass Gewaltbereitschaft traditionellen Gesellschaften unbekannt gewesen wäre; als ein den Herrschenden in allen hierarchischen Strukturen zufallendes Durchsetzungsrecht war sie dort ebenso selbstverständlich präsent wie als Bestandteil der gentilen Ordnung (väterliches Züchtigungsrecht und Blutrache). Vom Medium der Unterwerfung zum Medium von Vernichtung und Eliminierung purifiziert, hat sie sich in der Warengesellschaft aber in die Basis der allgemeinen Subjektform verwandelt. Erst die Fähigkeit, andere zum Objekt zu degradieren, macht das Subjekt zum Subjekt(21) und diese Degradierung bleibt stets, also auch wenn sie die sublimierte Form der Konkurrenz annimmt, an ihr Urbild, die Verwandlung des lebendigen Gegenübers in ein im wortwörtlichen Sinn lebloses Etwas, rückgebunden. Vor diesem Hintergrund erscheint es hochgradig fragwürdig, den “Prozess der Zivilisation” mit Norbert Elias als einen Prozess von Triebkontrolle im Allgemeinen und Aggressionskontrolle im Besonderen abzufeiern; aber nicht bloß, weil er daran scheitern würde, die “natürliche Bestie” im Menschen in den Griff zu bekommen, wie Kulturpessimisten à la Freud immer wieder meinten feststellen zu müssen. Die Mission selber ist vielmehr höchst doppelbödig. Die Subjektkonstitution hat gleichzeitig die Implantierung und Formierung eines Gewaltkerns und dessen Einbindung und Fesselung zum Inhalt.
In der Brust des entwickelten Warensubjekts existieren zwei Seelen: die des privaten Marktsubjekts und die des Staatsbürgers. Der Gewaltkern des Warensubjekts ist nicht einfach nur zeitlich parallel zu dieser bipolaren Struktur entstanden, vielmehr handelt es sich sowohl logisch wie historisch um ein und denselben Prozess. Die Überlegenheit einer auf “Staatsbürger in Uniform” gegründeten militärischen Organisation gegenüber älteren Formen des Vernichtungshandwerks hat ganz entscheidend zum Siegeszug des Citoyen und zur Verallgemeinerung dieser Figur beigetragen. Durchschlagende Wirkung zeitigte der Impuls, bisher ausgeschlossene soziale Gruppen als gleiche Rechtssubjekte ins staatliche Gemeinwesen hineinzuholen, noch jedes Mal im Gefolge großer militärischer Modernisierungs- und Mobilisierungsschübe. Von den französischen und amerikanischen Revolutionskriegen über die beiden Weltkriege bis zu den antikolonialen Bewegungen, in all diesen historischen Etappen war die Bereitschaft, mit dem eigenen Blute für die nationale Sache einzutreten, nicht nur Gradmesser für das schon erreichte Niveau von Staatsbürger-Bewusstsein; dass der Kreis der gleichberechtigten Staatsbürger und Rechtssubjekte um die Angehörigen bis dato an den Rand gedrängter Gruppen erweitert wurde, war noch jedes Mal die Folge der Notwendigkeit, die Mobilisierung für den kriegerischen Zweck auf die bislang Ausgeschlossenen auszudehnen – ein Prozess, der sich bezeichnenderweise weitgehend unabhängig vom politischen Vorzeichen vollzog, unter dem diese Kriege standen.(22)
Gleichzeitig – und das ist für unseren Zusammenhang wichtiger – passte das Anforderungsprofil, dem der bewaffneten Citoyen Genüge zu leisten hat, ideal zu dem für die Warensubjektivität konstitutiven Spannungsverhältnis von hochzuzüchtender und doch immer auch zu bändigender Vernichtungsbereitschaft. In der Zurichtung auf die virtuelle oder tatsächliche Teilnahme des Staatsbürgers am zwischenstaatlichen Krieg hat sich jenes innere Gewaltregime herausgebildet, ohne das sich die moderne Konkurrenz- und Arbeitsmonade letztlich gar nicht hätte entwickeln können. Die Brüderlichkeit des nationalen WIR, das Sich-Einfügen in den wehrhaften Volkskörper, bereitete dem Waren-ICH(23) den Boden, indem es gleichzeitig dessen Selbstzerstörungstendenz, seiner asozialen Neigung zum autonomen, selbstorganisierten Amoklauf, einen Riegel vorschob. Die Abrichtung auf den “Ernstfall” und die Identifikation mit der nationalen Sache adelte die Teilhabe an optimierter Gewaltausübung und Vernichtung zum Inbegriff von Tugend und Pflichterfüllung und trennte die “Felder der Ehre” hermetisch vom warengesellschaftlichen Normalbetrieb ab.(24)
II. Teil
Das Zeitalter durchstaatlichter Gewalt
1. Jenseits von Recht und Vertrag – Lager und Front
Betrachtet man den Siegeszug der Warengesellschaft auf der Makroebene, so vereint er zwei basale Prozesse in sich: die sukzessive Reduktion aller gesellschaftlichen Beziehungen auf Marktbeziehungen und die Durchstaatlichung der sozialen Existenz. Die Geschichte der Gewalt ordnet sich eindeutig diesem zweiten Pol zu. Für die gesamte mit dem Absolutismus beginnende und bis ins Zeitalter des Fordismus reichende Aufstiegsepoche der Warengesellschaft ist die Verwandlung von Gewalt und Blutvergießen in ein staatliches Exklusivrecht kennzeichnend. Bis auf Schrumpfformen wie das Recht auf Notwehr duldet sie in ihrer entwickelten Gestalt überhaupt keine legitime außerstaatliche Gewaltpraxis mehr.
Bei der ursprünglichen Akkumulation aller legitimen Gewaltmittel in den Händen des Staates handelt es sich nicht einfach um irgendein Moment des großen historischen Etatisierungsprozesses. Die Durchsetzung des Gewaltmonopols bildete vielmehr den Kristallisationskern, um den herum sich der Staat als abstrakte Allgemeinheit formiert hat. Solange große und kleine Herren ganz selbstverständlich ihren einander durchkreuzenden Ansprüchen im Bedarfsfall auch mit der Waffe in der Hand Geltung verschaffen konnten, blieb das gesellschaftliche Leben unweigerlich im Horizont personaler Treue- und Abhängigkeitsverhältnisse gefangen. Erst die Durchsetzung des Gewaltmonopols erlaubte dem Staat das traditionelle buntscheckige Gefüge von Gewohnheitsrechten aufzusprengen und an dessen Stelle ein einheitliches universelles, für alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen verbindliches Recht zu setzen. Ohne das Gewaltmonopol hätte sich nie die der Warengesellschaft adäquate, nämlich über die Kontrolle des abstrakten geographischen Raums vermittelte politische Herrschaft herausbilden können.
Die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols, die Reduktion der einst breiten Palette legitimer Gewaltakteure auf einen einzigen neuen Typus, und die Formierung des Gewaltkerns des Warensubjekts beschreiben ein und denselben Prozess aus zwei Perspektiven: zum einen vom Blickwinkel der objektivierten gesellschaftlichen Gesamtstruktur, zum anderen vom mikrologischen Standpunkt der Kernphysik des einzelnen Warenindividuums. Von daher muss sich auf der Makroebene ein Pendant zu der im ersten Teil skizzierten, für die Warensubjektivität konstitutiven Dialektik von Züchtung und Bändigung eines Gewaltkerns ausmachen lassen. Und in der Tat, die Durchstaatlichung der Gewaltausübung lässt sich als Doppelprozess von Potenzierung und Potentialisierung charakterisieren. In der entwickelten Warengesellschaft spielt manifester physischer Zwang im Alltag eine deutlich geringere Rolle als in vielen anderen Gesellschaften; aber nicht weil Aggression und Destruktion zu einer für den gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang bedeutungslosen Marginalie herabgesunken wären; die Herausbildung eines durchstaatlichten Gewaltregimes fällt vielmehr mit der Fokussierung, Purifizierung und Steigerung aller Vernichtungspotenzen in eins. Nur in Ausnahmefällen watet die Staatsmacht in Blut und verwandelt die Staatsbürger in das Menschenmaterial der Tötungsmaschine. Genau dieser Ausnahmefall schafft aber überhaupt erst den gesellschaftlichen Regelfall und ist ihm als im Hintergrund stets präsente Möglichkeit und Ultima Ratio logisch vorausgesetzt.
Der Warenverstand will vom Gewaltkern des Konkurrenzsubjekts nichts wissen und feiert es als Inbegriff friedliebender Menschlichkeit. Dementsprechend verschließt er selbstverständlich auch vor dem inneren Zusammenhang von Durchstaatlichung und Gewalthypertrophie die Augen. Obwohl eigentlich schon der Begriff das Gegenteil aussagt, wird die Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols im emphatischen Sinn als sukzessive Verfriedlichung interpretiert. Zunächst einmal, so will es die seit den Tagen der Aufklärung umgehende Fama, mache der Siegeszug von Freiheit, Gleichheit und Recht den staatlichen Binnenraum zum gewaltfreien Raum. In einem großen zweiten Schritt soll die Verrechtlichung nach diesem Credo aber auch den zwischenstaatlichen Bereich ergreifen und die internationalen Beziehungen entmilitarisieren. Die klassische Fassung dieser Sicht geht auf Kant zurück und wird seit nunmehr 200 Jahren immer wieder neu aufgegossen. Gewalt, heißt es, sei ein Anachronismus, der dem Vormarsch von Markt und Recht auf Dauer nicht standhalten wird.
Schon der erste Teil dieses Verfriedlichungsversprechens spricht der Wirklichkeit Hohn. In den Warengesellschaften kann von Pazifizierung nach innen nur die Rede sein, wenn man diesen Begriff im Sinne seiner lateinischen Wurzel als Synonym für völlige Unterwerfung nimmt.(25) Friedlich geht es in ihnen lediglich insofern zu, als sie die einzelnen Gesellschaftsmitglieder, soweit sie nicht als Funktionäre der staatlicher Gewalt agieren, tendenziell aller Gewaltmittel beraubten, um sie einer hochgezüchteten staatlichen Gewaltmaschine bedingungslos auszuliefern. Das Rechtsstaatsprinzip hebelt diese basale Allmachts-Ohnmachtsrelation keineswegs aus, vielmehr setzt die Universalität des Rechts sie bereits voraus. Wie Giorgio Agamben(26) in Anlehnung an Walter Benjamin und Michel Foucault gezeigt hat, liegt dem Souverän als der das Recht setzender und garantierenden Instanz selber die Reduktion der menschlichen Existenz auf das ihm in die Hand gegebene “nackte Leben” zugrunde. Der rechtsstaatliche Normalzustand, in dem jedem Gesetzesbrecher ein Verfahren nach den Grundsätzen der Legalität zuteil wird, lässt sich ohne die Möglichkeit des Ausnahmezustands gar nicht denken. Erst die Fähigkeit, auf diese Option zurückzugreifen, konstituiert den Souverän. Dabei handelt es sich keineswegs bloß um eine abstrakte prinzipielle Drohung. Durch die Schaffung eines exterritorialen Raums, des Lagers, kann sie sich durchaus realisieren, ohne dass dadurch für den Rest der Gesellschaft die Gültigkeit rechtlicher und vertraglicher Regulation in Frage gestellt wäre. Im 20. Jahrhundert ist genau diese mit der Form des Rechts konforme Verörtlichung des Ausnahmezustands mehr als einmal grausame Wirklichkeit geworden. Insofern stehen die Lager für das “nómos der Moderne” (Agamben). Man muss nicht gleich an die nationalsozialistischen Vernichtungslager denken oder an die stalinistischen Gulags; schon die ganz “normalen” westlichen Abschiebeknäste künden von der friedlichen Koexistenz zwischen dem Recht und seiner Grundlage, der über Menschen als über eine prärechtliche Biomasse verfügenden Staatsmacht.
Die Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols mit Verfriedlichung verwechseln heißt aber nicht nur die ungeheure Gewaltpotenz ignorieren, auf der der Rechtsstaat gründet und die gerade in Krisenzeiten sehr schnell manifest werden kann. Die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols schafft aus seiner genuinen Logik heraus neben dem aus dem Recht exkludierten Binnenraum des Lagers noch einen zweiten, jenseits des Gültigkeitsbereich des Rechts liegenden Bereich, in dem in letzter Instanz pure Gewalt die Funktion des Regulationsmediums übernimmt, nämlich die internationalen Beziehungen. Das staatliche Gewaltmonopol beschränkt sich immer nur auf das eigene Territorium. Nur dort, also gegenüber der eigenen Bevölkerung, kann der Souverän Gewaltverzicht erzwingen und damit Recht setzen. Für den zwischenstaatlichen Verkehr fällt die Herrschaft des Souveränitätsprinzips dagegen letztinstanzlich mit dem ius ad bellum zusammen. Natürlich existieren im zwischenstaatlichen Verkehr seit der Antike bilaterale Abkommen und seit dem 19. Jahrhundert internationale Konventionen. Sogar so etwas wie ein Kriegsrecht (ius in bello) hat sich herausgebildet. Diese vertraglichen Übereinkünfte von Souveränen haben aber einen ganz anderen Charakter als das von der Allmacht eines Souveräns gedeckte innerstaatliche Recht. Sie lassen die Möglichkeit zwischenstaatlicher Kriege als Ultima Ratio unberührt, mehr noch, sie setzen sie und ihre Legitimität voraus. Nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus haben internationale Gremien eine wachsende Bedeutung gewonnen. Weil sie nur über geliehene, von Einzelstaaten freiwillig überlassene Gewaltmittel verfügen können, ändert das an der Grundstruktur nicht das Geringste.
Mit dem Eintritt des militärischen Ernstfalls entsteht das Gegenstück zum Lager, ein zweiter exterritorialer geographischer Raum, in dem statt der regulären “friedlichen” Konkurrenz, optimierte physische Vernichtung zum Inhalt der sozialen Beziehungen wird, ohne dass dadurch die Gültigkeit von Recht und Vertrag im von einem Souverän kontrollierten eigentlichen Staatsgebiet in Frage gestellt würde: die Front. Während im Lager der heimische Souverän Menschenmaterial als Biomasse verwaltet, umfasst die Front genau das Territorium, auf dem feindliche Souveräne jeweils fremde Staatsbürger in tote Biomasse zu verwandeln versuchen. Anders als das Lager verschiebt sich die genaue geographische Lage dieses exterritorialen Zwischenreichs im Krieg beständig. Gleichzeitig wächst historisch dessen Umfang – mit der Reichweite der eingesetzten Waffen. Die Bombardierung von Guernica, der Beginn des modernen Luftkriegs gegen zivile Ziele, markiert den Zeitpunkt, an dem sich zum ersten Mal im Prinzip jeder Raumpunkt auf dem Gesamtterritorium einer der Konfliktparteien jederzeit in Front verwandeln konnte.
2. Kombattant und Nicht-Kombattant
Im Prozess der Durchstaatlichung von Gewalt und Krieg bildete sich der Gewaltkern des Warensubjekts heraus, während die dazugehörige Gewalt- und Vernichtungspraxis von den Alltagsvollzügen abgesondert wurde. Diese Trennungsleistung war an zwei Grundmerkmale durchstaatlichter Kriegführung gebunden. Die staatlichen Kriege, wie sie für die Zeit von 1648 bis 1989 charakteristisch waren, waren zeitlich begrenzt. Die Demarkationslinie zwischen Krieg und Frieden war in ihnen eindeutig definiert. Der staatliche Souverän entschied allgemein verbindlich, wann genau und wie lange an die Stelle der Verpflichtung des Vertragssubjekts auf unbedingten Gewaltverzicht die Pflicht zum hocheffektiven kollektiven Morden trat. Kriegserklärung, Waffenstillstandsvereinbarungen und Kapitulationen gaben auf die Minute den Beginn und das Ende aller Kampfhandlungen an und schlossen die für die frühmodernen Gewaltmärkte(27) und ihre poststaatlichen Wiedergänger typischen Schwebezustände zwischen Krieg und Frieden kategorisch aus. Die scharfe Scheidung von Krieg und Frieden im territorialstaatlichen Krieg war aber nicht nur eine Frage eindeutiger völkerrechtlicher Definitionen, sondern hat auch lebenspraktische Dimensionen.
Auf den Alltag der mittelalterlichen Menschen hatte es oft gar keinen sonderlichen Einfluss, ob ihre Herren sich gerade im Krieg befanden oder nicht. Die nach der Logik von Gewaltmärkten funktionierenden frühmodernen Kriege gingen bereits mit einer sprunghaften Steigerung der Kriegslasten und Verlustziffern einher. Sie betraf allerdings vornehmlich die Bevölkerung, die das Pech hatte, in den von den Landsknechtshaufen heimgesuchten Regionen zu leben, und dafür mit Leib und Gut büßen musste. Gemessen an den Verlusten der unbeteiligten Bevölkerung blieb der Schlachtentod in den Kriegen der Renaissance und noch im Dreißigjährigen Krieg eine Rarität. Weil sie damit Gefahr liefen, ihr Kapital, also ihre Truppen, aufs Spiel zu setzen, suchten die Condottieri nicht unbedingt das Gefecht und militärische Entscheidung. In vielen Fällen war es eher das Ziel, gegnerische Landsknechte zum Überlaufen zu motivieren, als sie vom Leben zum Tode zu befördern.
Die Kriege des 18. und 19. Jahrhunderts brachen mit diesem Muster. Die Durchstaatlichung des Krieges ging mit einer Fokussierung des Mord- und Zerstörungswerks auf die Macht- und Verteidigungsmittel des feindlichen Souveräns einher. Wo der Souverän die Kriegführung in eigene direkte Regie übernahm, verlegte er das Töten zunehmend auf die Schlachtfelder. Während die Intensität der militärischen Aktionen immens stieg und Krieg für die kämpfenden Truppen tatsächlich zu einer gefährlichen Angelegenheit wurde, entstand die Kategorie des Nicht-Kombattanten. Jetzt haftete nicht mehr speziell die Zivilbevölkerung der Kriegsschauplätze mit Leib und ihrem gesamten Gut, sondern die Steuern zahlende Zivilbevölkerung der Krieg führenden Länder insgesamt und nur noch mit Teilen ihres Guts und weniger direkt mit ihrem Leben.
Dass die staatlichen Kriegsherrn ihren Soldaten mit teilweise recht drastischen Methoden einbläuen ließen, nicht mehr auf eigene Rechnung zu marodieren und zu massakrieren, entsprang natürlich keineswegs humanistischen Regungen. Gegenüber einem zunehmend zentral mit Nachschub versorgten, unmittelbar aus Staatsmitteln unterhaltenen und auf das Schlachtenschlagen gedrillten stehenden Heer befanden sich solche Truppen im Nachteil, die den Kampf mit dem Feind nur im Nebenberuf erledigen konnten, weil sie sich regelmäßig zerstreuen mussten, um sich aus dem Land zu bedienen. Ihre Operationsfähigkeit war dadurch beeinträchtigt, und außerdem förderte autonomes Plündern und Vergewaltigen nicht gerade die militärische Disziplin.
Die Durchstaatlichung des Krieges legte es aber nicht nur von der strategischen Orientierung her nahe, der unbewaffneten fremden Bevölkerung einen Nicht-Kombattanten-Status zuzugestehen, also die Fortsetzung der sozialen Normalität auch im Kriege zu erlauben; vor allem machte sie die Aufrechterhaltung und Förderung des warengesellschaftlichen Normalbetriebs für das eigene Land zur unabweisbaren militärischen Notwendigkeit. Als der Krieg beginnend mit dem Italienfeldzug von Franz I. 1494(28) von einer Reproduktionsform von Kriegsunternehmern zum Duell von Kriegsmaschinen mutierte, die eine militärische Entscheidung suchten, ging das mit einer Explosion der Militärausgaben einher. Schon die Monetarisierung der Kriegführung und die Rekrutierung von Söldnerheeren hatte den Staatsbankrott zum Dauerbegleiter der frühneuzeitlichen Großmächte gemacht. Die Einführung stehender Heere aber ließ die für den destruktiven Zweck mobilisierten Ressourcen erst recht exponentiell steigen.(29) Der Zugriff auf das Hab und Gut der unglücklichen Bewohner der Kriegsschauplätze erwies sich als viel zu dünne Grundlage für die Kriegsökonomie. Gegenüber der Selbstversorgung der Armeen vor Ort wurde die Steuerabschöpfung in den Krieg führenden Ländern immer wichtiger. Die setzte aber vor allem anderen die Implantierung und Erhaltung geldwirtschaftlicher Normalverhältnisse und Sicherung der abstrakten Reichtumsproduktion auf dem eigenen Terrain voraus.
Die Entfesselung der militärischen Vernichtungspotenz bedeutete für die bisherigen Hauptopfer, die unbeteiligen Bewohner der von den Heeren heimgesuchten Regionen, eine Bändigung der zerstörerischen Gewalt. Ihren Niederschlag fand diese Dialektik auch im Kriegsrecht. Nach dem Ende der Religionskriege bildete sich die strikte Unterscheidung von Kombattant und Nicht-Kombattant heraus. Diese Differenzierung entspricht aber haargenau dem weiter oben schon umrissenen, von der durchstaatlichten Kriegführung installierten inneren Gewaltregime. Geographisch erscheint das ihm entsprechende Nebeneinander von Vernichtung und Normalität als Gegensatz von Front und Hinterland und auf der personellen Ebene als Differenz von Kombattant und Nicht-Kombattant.
Die klassische Ausprägung des Nicht-Kombattanten fällt ins 18. und 19. Jahrhundert. Der industrialisierte Krieg hat zusätzlich zur gegnerischen Armee weitere militärische Angriffsziele entdeckt, deren Bekämpfung indirekt auf den Willen und die Kampfkraft des gegnerischen staatlichen Souveräns wirkt, nämlich die Infrastruktur und die arbeitende Zivilbevölkerung. Diese Veränderung macht die Unterscheidung von Kombattant und Nichtkombattant problematisch. Sie setzte sie aber weder außer Kraft noch steht sie in Widerspruch zur Konzentration von Kriegführung auf die Quellen staatlicher Macht. Weil die moderne Kriegführung des 20. Jahrhunderts nicht nur die monetären, sondern das Gros der stofflichen gesellschaftlichen Ressourcen mobilisierte, sind die Reichtumsproduzenten zu indirekten Kombattanten geworden. Die Scheidung zwischen zivilen und militärischen Zielen wurde zu einer Ermessensfrage. Zumindest in der Schonung der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten aber lebt die Beschränkung der Vernichtungspraxis und die Differenz von Kombattant und Nicht-Kombattant fort.
Die Limitierung der Vernichtung durch die Differenzierung zwischen Kombattant und Nicht-Kombattant wurde im 20. Jahrhundert nicht nur in den durchindustrialisierten Kriegen zwischen den kapitalistischen Vormächten problematisch. Ihre klassische Gestalt haben auch die antikolonialen Konflikte, die Staatsbildungskriege an der Weltmarktperipherie, über den Haufen geworfen. Antiimperialistischen Bewegungen blieb in der Konfrontation mit einer militärisch überlegenen Besatzungsmacht als Form des bewaffneten Kampfes nur der Guerillakrieg, eine Form asymetrischer Kriegführung, die ganz bewusst den Gegner in eine Situation bringt, in der er beständig nicht zwischen Kämpfern und Zivilbevölkerung unterscheiden kann. In den Kriegszielen beider Seiten blieb freilich die Differenz präsent und so bestimmte sie weiterhin auf ihre Weise das Kriegsgeschehen und setzte der destruktiven Energie Grenzen. Die Theoretiker und Praktiker des antiimperialistischen Krieges betonten, dass es sich bei der Guerilla nur um eine Etappe im Befreiungskampf handelt und dessen letztes Stadium deren Metamorphose zur regulären Armee impliziert. Die Notwendigkeit, die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen, schloss massive Repression gegen das Gros der Bevölkerung von Seiten der Guerilla von vornherein aus. Aber auch die imperialen Mächte und ihre Satrapen vor Ort mussten im Bemühen, die politische Kontrolle über Land und Leuten zu bewahren, die prinzipielle Möglichkeit unterstellen, letztlich doch bewaffnete Angreifer und friedliche Bevölkerung auseinander dividieren zu können. Bei allen Grausamkeiten, Massakern, Umsiedlungsaktionen und Flächenbombardements – das volle Gewicht ihres Destruktionspotentials brachten die imperialen Mächte nicht zum Einsatz. Trotz Millionen von vorzugsweise zivilen Opfern und trotz Free Fire Zonen wurde weder in Algerien noch in Indochina die Schwelle zum systematischen Völkermord überschritten.(30)
3. Die Totalisierung des Krieges
Sowohl die Entwicklung des staatlichen Gewaltregimes im Allgemeinen als auch die Geschichte der staatlichen Kriege im Besonderen sind als Doppelprozess von Potentialisierung und Potenzierung zu begreifen. Von der Frühmoderne bis zum Ende des “kurzen 20. Jahrhunderts”, also bis 1989, nahm die Zahl der Kriegsjahre kontinuierlich ab. Im Gegenzug vervielfachte die Zusammenfassung aller destruktiven Kräfte in der fördernden Hand des Territorialstaates diese in einem unvorstellbaren Maße. Gemessen an den Verheerungen der warengesellschaftlichen Kriege nehmen sich sämtliche bewaffneten Konflikte vorkapitalistischer Gesellschaften wie Wirtshausschlägereien aus. Ihren logischen Flucht- und Schlusspunkt fand diese Entwicklung im prekären Gleichgewicht des atomaren Schreckens zwischen den Supermächten. Zum einen hatte die im Rüstungswettlauf akkumulierte Vernichtungskraft schließlich einen Stand erreicht, der überhaupt keine qualitative Steigerung mehr zuließ. Ob das Arsenal der beiden Supermächte nur für einen hundertfachen oder für einen tausendfachen Omnizid reichte, war letztlich eine Frage von geringer Bedeutung. Zum anderen stand auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges fest, die Grenze von der Vernichtungsdrohung zum manifesten Krieg, bei dem die Supermächte ihr tatsächliches militärisches Gewicht in die Waagschale werfen, würde für alle Zukunft nur noch genau einmal überschritten werden können.
Die Durchstaatlichung der Kriegführung hat zu einer ungeheuren Effizienzsteigerung beim Töten geführt. Es würde freilich zu kurz greifen, darin allein eine Folge des waffentechnischen Fortschritts zu sehen. Keine Gesellschaft hat je einen auch nur annähernd so großen Teil ihrer sozialen und materiellen Ressourcen in das Kriegswesen umgeleitet(31) und keine hat das Gewalthandwerk derart konsequent im Sinne der Vernichtungsbestimmung durchrationalisiert wie die Warengesellschaft.
Bei den vorkapitalistischen Kriegen handelte es sich in der Regel um “eingehegte Kriege”, bei denen der Blutzoll weit hinter dem technisch Denkbaren zurückblieb. Krieg blieb entweder das Privatvergnügen einer kleinen Kaste oder er war, wo große Teile der männlichen Bevölkerung unter Waffen standen, zumindest zeitlich begrenzt und ritualisiert, auf dass eine allzu tiefgreifende Störung der Reproduktion verhindert wurde. Als ein Musterbeispiel dieser zweiten Form des “eingehegten Krieges” können die Auseinandersetzungen zwischen den griechischen Polis-Staaten gelten. Bei diesen Konflikten verzichteten alle Beteiligte auf großangelegte strategische Manöver, und das militärische Geschehen beschränkte sich auf die sofortige Entscheidungsschlacht.(32) Wer dabei das Feld behaupten konnte, hatte bereits den Sieg in Händen. Weder wurden Fliehende verfolgt noch bemühte sich die unterlegene Partei um eine militärische Neuformierung. Der staatliche Krieg tendiert hingegen zum “absoluten Krieg” (Clausewitz) und kennt nur einen Durchbrennschutz gegen die völlige Entgrenzung von Zerstörung, seine Rückkoppelung an den politischen Zweck. Der ist aber näher besehen prekär.
Mit ihrer Durchstaatlichung gewann die kriegerische Praxis nicht nur insofern einen rational-instrumentellen Charakter als sie nach und nach sämtliche stofflichen und menschlichen Ressourcen in tatsächliche oder potentielle Mittel der Kriegführung verwandelte; während etwa im Mittelalter der bewaffnete Kampf als die spezifische Lebensweise einer Kaste seinen Sinn wesentlich aus sich selber schöpfte, hat die Moderne Kriegführung zum bloßen Mittel, nämlich zum Mittel nationalstaatlichen Interessenkalküls gemacht. Ein politisch definierter Wille wirft die Kriegsmaschinerie an und schaltet sie ab, und ihm bleibt sie stets unterworfen. Oder um Clausewitz’ klassische Formulierung zu bemühen: beim Krieg handelt es sich um ein “wahres politisches Instrument”, er ist “als Fortsetzung des politischen Verkehrs, eine Durchführung desselben mit anderen Mitteln”, zu verstehen.
Im landläufigen Verständnis gilt der Primat der Politik über das Militärische als Garant von Vernunft und Augenmaß innerhalb des mörderischen Irrsinns. Zwingend erscheint diese Interpretation freilich nur vor dem Hintergrund einer affirmativen Politikvorstellung, die Politik als etwas per se Rationales wertet und dementsprechend deren Primat als die Vorherrschaft eines vernünftigen, wenn auch vielleicht sehr zynischen Zwecks, über ein irrationales Instrument. Politik reduziert sich indes keineswegs auf den Prozess der Austarierung gegenläufiger Konkurrenzinteressen und genauso wenig schrumpft brutale staatliche Machtpolitik zwangsläufig auf die Eroberung von Ländern, Rohstoffen und Arbeitsbevölkerung zum Wohle des eigenen Kapitals. Wo die Politik selber zum Medium des Irrationalen wird, wirkt das vermeintliche Löschmittel als Brandbeschleuniger und -verstärker.
Das Extrembeispiel in dieser Hinsicht liefert natürlich der Nationalsozialismus. Er hat gezeigt, dass die Reduktion menschlichen Lebens auf die nackte und jederzeit auslöschbare biologische Existenz nicht nur den Urgrund politischer Souveränität bildet, sondern Vernichtung auch schon in der Aufstiegsgeschichte der Warengesellschaft zum politischen Programm werden konnte; ein Programm, das selbst noch die sich aus der militärischen Binnenlogik ergebenden Zurückhaltungen beim Zerstören und Morden außer Kraft setzte. An drei Punkten lässt sich das festmachen. Zum einen hätten Militärs einen von vornherein grenzenlosen Eroberungskrieg nie begonnen. Zum anderen war die Entscheidung der Führung des “Dritten Reiches”, den Krieg über den Punkt der offensichtlichen völligen militärischen Aussichtslosigkeit hinaus fortzusetzen, politisch motiviert; und schließlich lag der zentrale Punkt des nationalistischen Mordprogramms, die Vernichtung des europäischen Judentums, völlig quer zu jedem militärischen Kalkül.
4. Der warengesellschaftliche Krieg als der absolute Krieg
Der Gedanke vom Primat der Politik geht auf Clausewitz zurück. Aber nicht nur dieses Charakteristikum des durchstaatlichten Krieges hat er auf den Punkt gebracht. Nie vorher und nie nachher ist das Wesen des Staatskrieges schärfer und klarer begrifflich gefasst worden als in seinem Hauptwerk “Vom Kriege”. Schon in seiner Eingangsdefinition erscheint der “absolute Krieg” als der zentrale analytische Bezugspunkt: “Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, und es gibt in der Anwendung derselben keine Grenzen.” Den entgrenzten, den “absoluten Krieg”, betrachtet Clausewitz als eine Art Idealtypus, von dessen reiner Verwirklichung die empirischen Kriege aller Epochen gleichermaßen entfernt bleiben. Anders als die Denker der Aufklärung, die in der Durchsetzung der westlichen Zivilisation und ihrer Prinzipien eine die Wucht der Zerstörung mäßigende Kraft sehen wollten, hielt Clausewitz sie in dieser Hinsicht für eine neutrale Größe. Beim vermeintlich überhistorischen Idealtypus handelt es sich allerdings näher besehen um den logisch-historischen Fluchtpunkt durchstaatlichter Kriegführung.(33)
In drei großen Schüben hat sich der Krieg in Richtung “absoluter Krieg” entwickelt, und Clausewitz’ Theorie hat selber den ersten davon zum historischen Hintergrund. Clausewitz’ Formel vom “absoluten Krieg” entstand unter dem Eindruck der Napoleonischen Kriege, die gegenüber den Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts eine sprunghafte Steigerung der mörderischen Effizienz brachten. Diese neue Qualität entsprang unmittelbar den Errungenschaften der Französischen Revolution und ist ohne die Entdeckung der Nation nicht zu denken. Bei den Kriegen der absolutistischen Fürsten des 18. Jahrhunderts hatten vornehmlich zwei Faktoren die Intensität der Metzeleien begrenzt. Zum einen handelt es sich bei den in die Armeen gepressten Söldner um völlig passive Werkzeuge der Vernichtung. Das höchste erreichbare Ziel bestand darin, diese Menschen zu gehorsamen Marionetten abzurichten, die auf Befehl ihr einexerziertes Gefechtsprogramm abspulen. Im Leben des Soldatenmaterials existierte nur eine, mit dem mörderischen Zweck nicht so recht kompatible, aber massenhaft praktizierte Form der Eigeninitiative, nämlich die, im Gefecht und auch sonst bei der erstbesten Gelegenheit das Weite zu suchen. Das 18. Jahrhundert ist denn auch in die Militärgeschichte als das “Zeitalter der Deserteure” eingegangen. In den Schlachten des Siebenjährigen Krieges schlug sich auf allen Seiten bis zu einem Drittel der Mannschaften beim ersten Schuss in die Büsche. Die Gefechtsordnung war primär vom Gedanken bestimmt, die eigenen Mannschaften am Davonlaufen zu hindern, und erst in zweiter Linie vom Bemühen zur Vernichtung der gegnerischen Armee. Zum anderen blieb die Rekrutierung einer ausreichenden Zahl von Soldaten immer ein Problem und kostspielig. Beide Umstände standen dem im Weg, was Clausewitz als das Wesen des Krieges bestimmte hatte: die Konzentration auf die Niederwerfung des Feindes, die Bereitschaft im geeigneten Moment die Entscheidungsschlacht zu suchen.
Beide Schwierigkeiten verschwanden mit der Figur des Bürgersoldaten. Im Ausbildungsstand waren die Freiwilligenheere der Französischen Revolution den regulären Truppen der Koalition aus Briten, Preußen und Österreichern zunächst unterlegen. Guillotine und Flucht über die französischen Grenzen hatte außerdem das alte aristokratische Offizierskorps erheblich dezimiert. Die Erschließung bis dahin völlig ungenutzter Ressourcen aber war geeignet, diese nachteiligen Umstände mehr als zu kompensieren. Die Identifikation mit der nationalen Sache sorgte für eine bis dahin unbekannte Einsatzbereitschaft, die sich weniger euphemistisch interpretiert nur als Fanatismus und Blutdurst bezeichnen lässt.(34) Gleichzeitig erlaubte die levée en masse und der Übergang zur allgemeinen Wehrpflicht die umstandslose und für die Staatskasse kostengünstige Schließung entstehender Lücken. Es bedurfte nur noch eines Feldherrn, der diese neuen Möglichkeiten in Strategie umzusetzen verstand. In Napoleon, einem Mann, der sich rühmte ohne Wimperzucken auch eine Million Mann für den Sieg zu opfern und den Hegel für so viel Mannhaftigkeit zu Recht in den Stand “des Weltgeistes zu Pferde” erhob, fand die hereinbrechende Epoche der Kriegführung ihre ideale Verkörperung. Bei den Generälen alten Schlages als Schlächter verschrien, setzte er sich unkonventionell über sämtliche Militärdoktrinen des 18. Jahrhunderts hinweg, immer auf der Suche nach der umstandslosen Entscheidung. Zu schlagen war das französische Kaiserreich erst, nachdem sich dessen Gegner die neuen Methoden zu eigen gemacht hatten.
5. Fordismus und totaler Krieg
Der “absolute Krieg” steht für den rücksichtslosen Einsatz aller verfügbaren militärischen Mittel für “das Ziel des kriegerischen Aktes”, “für das Niederwerfen des Feindes”.(35) Ihre logische Fortsetzung und Übergipfelung findet diese Fokussierung auf den Zweck der Zerstörung der gegnerischen Streitkräfte in der konsequenten Mobilisierung aller produktiven Potenzen für die kriegerische Aufgabe, die Verwandlung der Gesellschaft in eine einzige gigantische Vernichtungsmaschine, in der alle Räder nur noch für den Sieg rollen. Die Industrialisierung der Kriegführung während des Ersten Weltkriegs markiert diese neue Qualität: der absolute Krieg kam im totalen Krieg zu sich.
Die Kriege hatten bis dahin vor allem die monetären Ressourcen der beteiligten Staaten beansprucht. Der ideelle Gesamtkapitalist beschränkte sich im 19. Jahrhundert im Wesentlichen darauf, die notwendigen Ressourcen für den Unterhalt eines stehenden Heeres von der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion abzuzwacken. Die Kriegswirtschaft unterschied sich von der Friedenswirtschaft nicht sonderlich. Schon die Kürze der militärischen Auseinandersetzung machte grundlegende Umstellungen der Produktion überflüssig. In den großen militärischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts setzte er dagegen einen viel weitergehenden Anspruch durch und griff viel tiefer in die gesellschaftliche Regulation ein als je zuvor.(36)
Heraklit wird gern der Satz zugeschrieben, der Krieg sei der Vater aller Dinge. Diese Übersetzung verfälscht zwar wohl den Sinn dessen gründlich, was der antike Philosoph sagen wollte(37), für die Moderne trifft sie aber allemal ins Schwarze. Gerade der prosperierende Kapitalismus der Wirtschaftswunderära ist in jeder Hinsicht ein Kind der Weltkriegsepoche und des totalen Krieges.
Das lässt sich unter anderem an der makroökonomischen Regulation festmachen. Der vom Warfare-Staat zur Maximierung der Vernichtungsproduktion geschaffene geld- und wirtschaftspolitische Rahmen bewährte sich nur leicht modifiziert auch bei der Optimierung der Produktion von zivilem abstraktem Reichtum. Der zunächst aus den Notwendigkeiten des “totalen Krieges” geborene Interventionsstaat wurde zur Dauereinrichtung und ermöglichte überhaupt erst den fordistischen Take off und kurzen Sommer von Vollbeschäftigung und historisch einmaligen Wachstumsziffern. Genauso unübersehbar ist der Fordismus im Hinblick auf Produktionsmethoden und Schlüsselerzeugnisse eine Errungenschaft des totalen industrialisierten Krieges. Natürlich hatte die zivile Warenproduktion zunächst einmal unter den Friktionen zu leiden, die mit der Ausrichtung aller Produktion auf die staatliche Vernichtungsproduktion einhergingen. Auf längere Sicht wurde die auf den kriegerischen Zweck ausgerichtete Produktion aber zum Vorbild für den zivilen Einsatz – ein Umstand, der auf den Charakter des Warenreichtums als Fortsetzung von Vernichtung mit anderen Mitteln verweist. Nicht nur die Standardisierung der Arbeitsprozesse nahm von der Kriegsproduktion ihren Ausgang, auch die technischen Schlüsselinnovationen des Fordismus machten allesamt erst einmal im militärischen Bereich Karriere, um dann später eine breitere zivile Nutzanwendung zu erfahren. Nicht nur in Deutschland begann die Automobilmachung der Gesellschaft mit der Motorisierung der Kriegführung.(38)
Mindestens genauso wichtig und in unserem Zusammenhang noch bezeichnender ist freilich die mentalitätsgeschichtliche Leistung der Weltkriege. Wenn es so etwas wie eine für den homo fordisticus konstitutive Urerfahrung(39) gibt, dann das Fronterlebnis in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs. Aus den Schützengräben des “Großen Krieges” krochen Männer, die sich in ihrem Denken und Fühlen genauso deutlich von den bürgerlichen Schichten des 19. Jahrhunderts abhoben wie von den Massen aus den unteren Ständen der Vergangenheit.
Den Schrecken der industrialisierten Kriegführung konnten die Heldenflausen und die Identifikation mit dem “nationalen Ganzen”, die noch wesentlich die euphorische Stimmung bei Kriegsausbruch mitgetragen hatte, nicht standhalten. Das Trauma der Auslieferung an eine überwältigende, zerstörerische Mechanik zerbrach alle gewachsenen sozialen Bindungen und Werte. Die Ausweichbewegung ging ins eigene Innere. Damit übernahmen die soldatischen Subjekte praktisch genau die Art von Weltbezug, die Descartes als (erkenntnis)theoretisches Programm eingeführt hatte. Descartes und Hobbes hatten an den Anfang ihrer Philosophie das Gedankenexperiment einer allgemeinen “Idee der Weltvernichtung” gestellt, die nichts übrig lässt außer dem denkenden Ich. Die Materialschlachten an der Somme und um Verdun machten dieses aus allen Bezügen herausgesprengte und auf sich zurückgeworfene leere Selbst zur Massenerfahrung.
Der Psychoanalytiker Sandor Ferenczi schrieb über den Grundmechanismus von Kriegsneurosen: “Die Libido wendet sich vom Objekt ab und dem Ego zu, vergrößert dabei die Eigenliebe und reduziert die Objektliebe bis zur völligen Gleichgültigkeit.”(40) Aber selbst die Eigenliebe droht im Prozess der Abstumpfung noch unter die Räder zu kommen. Um unter den Bedingungen des Krieges überhaupt noch funktionieren und überleben zu können, näherte sich das soldatische Subjekt zusehends einer strikt solipsistischen Haltung an, in der die Bindung an andere sich ebenso ausdünnte wie es emotional verarmte.
Jacques Rivière hat nicht nur sein eigenes Kriegserleben auf den Punkt gebracht, als er schrieb: “Genauso wie er sich so regelmäßig wie möglich zu entlausen versuchte, so sorgte der Frontkämpfer dafür, jedes einzelne seiner Gefühle abzutöten, eines nach dem anderen, bevor es ihn beißen konnte. Er sah mit einem mal ganz deutlich, daß Gefühle nichts als Ungeziefer waren und daß ihm nichts anderes übrigblieb, als sie wie solches zu behandeln.”(41) Das Grauen ließ sich nur in einer Art von psychischer Totenstarre ertragen, ein Zustand für den Marc Boasson den treffenden Ausdruck “automatisme anesthésiant” fand.(42)
Beim Zustand radikaler endogener Anästhesie handelt es sich sicherlich um einen Ausnahmezustand, allerdings um einen mit Vorbildfunktion. Die Abstraktionsleistung des soldatischen Mannes, seine Fähigkeit, sein Selbst von allen Gefühlen und Bedürfnissen abzuziehen, fand zivile Nachfolger. Die unsinnliche Sinnlichkeit des Warensubjekts ist jedenfalls nicht als Erwachen aus der soldatischen Betäubung zu interpretieren. Vielmehr wiederholt die Coolness des postmodernen Konkurrenzidioten den Totstellreflex der Kriegsneurotiker des Ersten Weltkriegs, während die manische Hektik der Marketingprofis und Eventmanager mit anderen Mitteln das Durchdrehen im Trommelfeuer fortsetzt. In beiden Varianten lebt die endogene Anästhesie der Frontkämpfer als konstitutives Moment fort, und das aus gutem Grund: Nur im Zustand permanenter Betäubung ist das Dasein in einer vom Wüten der Wertlogik ein ums andere mal umgepflügten Wirklichkeit überhaupt zu ertragen.
Es würde in die Irre führen, wollte man diese gnadenlose Subsumtion als Rücknahme oder gar Auslöschung der Subjektform interpretieren. Das Leitbild der Freudschen Theorie, das durch Ich-Stärke gekennzeichnete autozentrierte Individuum, das gern mit dem wahren Einzelsubjekt gleichgesetzt wird, hat es nie zum Massenphänomen gebracht; und selbst in den klassisch-bürgerlichen Schichten dürfte das Ideal des innengesteuerten Ich-Souveräns kaum in dem oft unterstellten Grade Wirklichkeit geworden sein. Subjektform und Außenleitung stehen, im Gegensatz zum landläufigen Verständnis keineswegs in Widerspruch. Bei der entwickelten Subjektform handelt es sich vielmehr um eine vermittelte Form vollständiger Außenleitung. Damit die Subjektform sich überhaupt verallgemeinern und schließlich dieses Stadium erreichen konnte, musste sie aber erst quasi von oben in der Gestalt eines kollektiven Wir-Ichs oktroyiert werden. Dabei spielte die Figur des soldatischen Größen-Wir die Schlüsselrolle. Den Weltkriegsgemetzeln und der Einordnung in die militärische Megamaschine kam im beschleunigten Übergang zum entfesselten Konkurrenz- und Warensubjekt der Charakter einer Masseninitiation zu. In militärische Formation gebracht und darüber vermittelt, übten sich die Millionenheere in den Typus von Weltbezug ein, die das vollentfaltete Warensubjekt später ohne beständigen Rückbezug auf übermächtige Intermediärgewalten zu exekutieren hatte. Dem Frontsoldaten gingen die heiligsten Grundsätze der Konkurrenzgesellschaft in Fleisch und Blut über: Die Eliminierung des anderen ist die Bedingung der eigenen Selbstbehauptung. Nur wer das Gegenüber zum Objekt degradiert, sichert als Herabsetzender den eigenen Status als Subjekt. Allein indem Mann sich selbst konsequent als Instrument und Maschine behandelt, kann er als Subjekt triumphieren.
Ernst Jünger feierte die Soldaten als diejenigen, die “auf kriegerische Weise zu zeugen verstehen”.(43) Das ist keine Perversion moderner Subjektivität und schon gar kein Bruch mit ihr; beim negativen Prometheus, der anstatt wie sein Vorbild aus der griechischen Mythologie Menschen zu schaffen, sich selber durch die Vernichtung von Menschen schafft, handelt es sich vielmehr um deren hässlichen Prototyp.
6. Das Zeitalter der Verwissenschaftlichung der Zerstörung
Die Geschichte des modernen Krieges ist eine Geschichte sukzessiver Totalmobilmachung aller gesellschaftlichen Ressourcen für die Vernichtung. Mit den Napoleonischen Kriegen wurden ganz wesentliche psychologische, soziale und militärtaktische Fesseln durchschnitten, die bis dato die rüstungstechnisch gesehen bereits vorhandenen kriegerischen Potenzen an ihrer vollen Entfaltung gehindert hatten. Gut hundert Jahre später bedeutet der “totale Krieg”, die industrialisierte Kriegführung, die systematische und flächendeckende Indienstnahme der zivilen gesellschaftlichen Arbeitskraft für den Vernichtungszweck. Der Zweite Weltkrieg markiert aber auch noch eine dritte Stufe, nämlich die unmittelbare Unterwerfung von Wissenschaft und Forschung unter das Kriegswesen, die Verwissenschaftlichung der Vernichtung.
Gegenüber der Anwendung und Weiterentwicklung technologischer Innovationen hatte sich das Militär natürlich schon lange offenherzig gezeigt; selbst Neuerungen in einer so unempirischen Wissenschaft wie der Mathematik hatten schon in der frühen Neuzeit, man denke an die Funktionsberechnung, einen militär-praktischen Bezug, nämlich die Berechnung von Geschossbahnen.(44) An die Stelle der alten Entente cordiale zwischen selbständigen Tüftlern und Wissenschaftlern einerseits und an der militärischer Nutzung interessierten Militärs anderseits trat nun aber etwas qualitativ Neues. Militärische Bedürfnisse entschieden jetzt direkt über die Ausrichtung, die Schwerpunkte und den Entwicklungsgang der Forschung und das Militär heuerte riesige Wissenschaftsapparate zu deren Umsetzung an. Für diese neue Qualität steht natürlich in erster Linie das “Manhattan Project”, die Entwicklung der Atombombe.(45) Aber auch bei der Schlüsseltechnologie der dritten industriellen Revolution, der Mikroelektronik handelt es sich eindeutig um ein legitimes Kind des Zweiten Weltkriegs und des Wettrüstens. Auch nach dem Ende des Kalten Krieges geht insbesondere in den USA das Gros der staatlichen Forschungsetats durch die Hände von militärischen oder militärnahen Institutionen (etwa die NASA).
Mit dem “Kalten Krieg” und der Blockkonfrontation gelangte der Prozess der Durchstaatlichung des Krieges an seinen Kulminationspunkt. Zunächst einmal erreichte die Dialektik von Potenzierung und Potentialisierung der Vernichtung – wie weiter oben schon erwähnt – im prekären Gleichgewicht des atomaren Schreckens ihr Endstadium. Zum anderen trieb die Verwissenschaftlichung des Tötens den Rüstungsaufwand dermaßen in die Höhe, dass sie mit der Konkurrenz vieler Nationalstaaten und dem klassischen polyzentrischen System unvereinbar wurde. Wissenschaftsaggregate, die in der Lage waren im technologischen Wettlauf mitzuhalten, konnten 40 Jahre lang lediglich zwei Supermächte unterhalten. Der Übergang ins Zeitalter der Globalisierung und der neuen Informationstechnologien, das auch die Destruktionstechnik auf eine neue Basis stellte, bereitete indes selbst diesem Zustand ein Ende. Ohne dass ein Schuss gefallen wäre, musste das Sowjetimperium totgerüstet die Segel streichen. Die Zahl der Armeen, die sich auf Weltniveau bewegen, war auf eine gesunken, die US-Army – eine Ausnahmestellung, die freilich ohne den privilegierten Zugang der USA zum transnationalen Geldkapital gar nicht denkbar wäre.(46) Die absolute militärische Übermacht eines Staates ist nicht nur ein absolutes Novum in der Geschichte der Moderne; mit der endgültigen Außerkraftsetzung der Balance of Power ist ein Eckpfeiler der zwischenstaatlichen Gewaltordnung beseitigt.
Noch in einer anderen Hinsicht hat die Verwissenschaftlichung der Kriegführung das klassische staatliche Gewaltregime unterminiert. Sie setzte dem traditionellen Träger des warengesellschaftlichen Gewaltkerns, dem stolzen Staatsbürger in Uniform erheblich zu. Sein alter Nimbus begann sich schon angesichts der nuklearen Waffen zu verflüchtigen, deren Vernichtungspotenz die hochgerüsteten konventionellen fordistischen Armeen zu einer Art Dreingabe herabsinken ließ, zuständig für die militärischen Vorfeldgeplänkel. Endgültig versetzten aber der Vormarsch der Mikroelektronik und die damit verbundene Loslösung der Zerstörung von der unmittelbaren menschlichen Destruktionsarbeit dem bewaffneten Citoyen den Todesstoss. Der Umsetzbarkeit der Vision vom automatischen Schlachtfeld, dem militärischen Pendant zur menschenleeren Fabrik, sind sicher Grenzen gesetzt. Aber allein schon ihr Auftauchen zeigt an: die militärische und ideologische Massenmobilisierung von Vernichtungsarbeitern passt nicht mehr ins historische Bild und hat ausgespielt. Die alte Pazifistenparole “Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin”, gewinnt einen neuen, beängstigenden Sinn. Damit Krieg in seiner ganzen Brutalität geführt werden kann, ist es gar nicht mehr nötig, dass die Massen anrücken, sie dürfen zu Hause vom Fernsehsessel aus die Bilder von explodierenden Cruise Misiles konsumieren. Es genügt, dass die Vernichtungsspezialisten ihren Job tun und die militärischen Infrastrukturarbeiter den ihren. Bezeichnenderweise hält sich die allgemeine Wehrpflicht nur in einigen militärisch drittklassigen Staaten, während die Macht aller Mächte diesen Anachronismus längst abgeschafft hat.
III. Teil
Das Zeitalter poststaatlicher Gewalt
1. Die Freisetzung des Gewaltkerns
Nach einem langen Auszehrungsprozess verlor die Figur des stolzen, wehrpflichtigen Vaterlandverteidigers nach und nach ihre Bedeutung für die Identitätsbildung des Warensubjekts. Ihr letztes Stündlein schlug spätestens mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus. Der Gewaltkern des Konkurrenzsubjekts löste sich aber mit dem Verschwinden seines traditionellen Trägers keineswegs in Wohlgefallen auf. Vielmehr formiert sich seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts ein neues, chaotisch anmutendes Gewaltregime, das wesentlich von autonom operierenden Amokläufern, Killersekten, Warlords jeder Couleur und transnationalen NGOs der etwas anderen, nämlich terroristischen Art geprägt wird. Hatten bis dahin ausschließlich Staaten und Staaten in spe ihren Status als Souverän bewiesen, indem sie über Krieg und Frieden befanden, so drängt jetzt neuartige Konkurrenz auf die Bühne. Eine bunte Schar poststaatlicher Gewaltakteure beginnt den Urgrund der Souveränität, das Recht, den Ausnahmezustand herzustellen, in ihren Besitz zu nehmen.
Diese beängstigende Entwicklung fasst zwei grundlegende Momente in sich. Zum einen ist sie als Freisetzungsprozess zu fassen. Gewalt, bis dato wesentlich ein Instrument der Politik, löst sich von ihrer Rückbindung an politische Zwecke und nimmt zusehends Selbstzweckcharakter an; parallel dazu rückt auch im Gewaltuniversum der Markt zusehends an die Stelle des Staates. Mitten in ihrem Scheidungsprozess vom Staat geht die Gewalt eine neue Liaison ein. Als Ersatz und in Konkurrenz zur Staatsgewalt bilden sich Gewaltmärkte heraus. Damit kehrt ein aus der frühen Neuzeit vertrautes Phänomen wieder.
Keine Entwicklung ohne Vorboten und Vorläufer. Das gilt selbstredend auch für den Aufstieg der Gewalt zum Selbstzweck. Bereits im späten 19. Jahrhundert waren die Verherrlichung des Nichts und die Anbetung der Zerstörung in Teilen der Boheme en vogue. Das Basisaxiom des nekrophilen Vitalismus geht auf Friedrich Nietzsche zurück. “Eher noch das Nichts wollen, als nichts wollen.”, so seine wegweisende Formulierung. Den entscheidenden Schritt vollzogen freilich erst die Weiterdenker dieser Strömung, indem sie das Wollen des Nichts zum eigentlichen Wollen und Krieg und Zerstörung zum höchsten Schaffens- und Zeugungsakt erhoben. Filippo Tommaso Marinetti sprach nicht nur für sich, als er in dem 1900 erschienenen futuristisches Manifest schrieb: “Wir wollen den Krieg verherrlichen, der Welt einzige Hygiene, den Militarismus, die Tat, Zerstörer der Anarchismen, die schönen todbringenden Ideen und die Verachtung der Frau.”(47) Ganze Heerscharen von Malern und Autoren schwelgten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in blutrünstigen Phantasien und zeigten sich mit Abel Bonard von Visionen entfesselter Gewalt gefesselt: “Wir müssen den Krieg in seiner ganzen wilden Poesie umfassen. Wenn ein Mann sich in den Krieg stürzt, entdeckt er nicht nur seine Instinkte wieder, er gewinnt auch Tugenden zurück… Im Krieg wird alles neu geschaffen.”(48) In all diesen Interpretationen gebührte dem Krieg ein Ehrenplatz nicht der mit militärischen Mitteln erreichbaren politischen Zwecke wegen, vielmehr wurde er um seiner selbst willen, also als Inbegriff männlicher Selbstinszenierung und moderner Subjektherrlichkeit gefeiert.
Dieser Bruch mit dem Clausewitzschen Bezugssystem und dessen instrumentellem Gewaltverständnis betraf freilich nur die Ebene der individuellen Motive. Die Hoffnung auf die Erlösung von der kapitalistischen Langeweile, war die Hoffnung auf die Erlösung durch den staatlichen Kriegsmessias. An ihm war es, ein solches Heilserlebnis möglich zu machen, wie es Hermann Hesse im August 1914 zu Teil geworden war: “Aus dem blöden Kapitalistenfrieden herausgerissen zu werden, tat vielen gut, grade auch in Deutschland, und für einen echten Künstler, scheint mir, wird ein Volk von Männern wertvoller, das dem Tode gegenübergestanden hat und die Unmittelbarkeit und Frische des Lagerlebens kennt.”(49)
Einige Hohepriester der Gewalt gingen demgegenüber einen Schritt weiter. In dem 1930 erschienenen “surrealistischen Manifest” rühmt André Breton motiv- und grundlosen Mord als den acte gratuite (André Guide), als die existentielle Tat schlechthin: “Die einfachste surrealistische Tat besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings, solange man kann, in die Menge zu schießen.”(50)
Dass Breton Mord und Gewalt verherrlicht, unterscheidet für sich genommen seine Haltung noch nicht von der Ästhetisierung des Grauens, wie sie andere Autoren beschrieben. In dieser Hinsicht spricht aus ihm nur der Ungeist der Weltkriegsepoche. Avantgardistisch ist seine Position allerdings insofern, als er die Individuen auffordert, die Sache selber in die Hand zu nehmen. In Karl Kraus’ “Die letzten Tage der Menschheit” hieß es noch, “Krieg is Krieg, und da muß man so manches, was man früher nur gewollt hätt.”(51) Breton träumte von einer Welt, in der niemand auf solch günstige Umstände warten muss und sich stattdessen jedermann jederzeit zum Herren über Leben und Tod aufschwingen kann.
Im Zeitalter der “Massenaffirmation” (Peter Klein) war diese Form mörderischer einzelsubjektiver Selbstsetzung vom allgemeinen Bewusstsein und Lebensgefühl noch weit entfernt. Mit dem als Individualisierung missverstandenen Prozess der Gleichschaltung durch Vereinzelung und der Auszehrung der Intermediärgewalten wie Staat und Klasse hat sich das grundlegend verändert. Vor 70 Jahren haben Künstler damit provoziert, dass sie gezielt wahllose Vernichtung und Selbstvernichtung zum Inbegriff der Selbstsetzung erhoben. Heute erleben wir den Sprung zu einer entsprechenden Massakerpraxis.
Natürlich sind die Avantgardisten der neuen Gewaltsubjektivität Ausnahmegestalten. Wahrscheinlich lassen sich für Figuren wie den Oklahoma-Attentäter, Timothy Mc Veigh, oder den Sniper von Washington klinische Begriffe finden. Zum einen ändert das aber nichts daran, dass auch ihr pathologisches Verhalten als eine Art Überspitzung ein Schlaglicht auf die gesellschaftliche Normalität wirft: “Wie manch psychisch Kranker die Wahrheit seiner Familie, der Zigeuner die Wahrheit des sesshaften Bürgers, der Knecht die Wahrheit des Herrn, so bringt der individuelle Amoklauf ex negativo die verdrängte Wahrheit unserer Gegenwartsgesellschaft ans Licht.”(52) Zum anderen fällt die Anwendung klinischer Kategorien ausgerechnet bei der Leitfigur unserer Epoche, dem Selbstmordattentäter(53), ausgesprochen schwer. Der israelische Psychologe Ariel Merari jedenfalls kam bei seiner Untersuchung des sozialen Umfelds und der Biographie von 50 Selbstmordattentätern auf einen ebenso erschreckenden wie eindeutigen Befund: “Er konnte … weder Gemeinsamkeiten in den Charakterstrukturen noch pathologische Persönlichkeitsmuster feststellen. Er fand nicht Verrückte und nicht gebrochene Individuen, keine gescheiterten Existenzen und keine monströsen Seelen. Das Auffälligste an allen Tätern war ihre Unauffälligkeit.”(54) Die höchste Stufe des Wahnsinns lässt sich nicht mehr als solche bestimmen, weil es sich dabei um kein abweichendes Irresein, sondern um das bis zur bittersten Konsequenz getriebene, für das Warensubjekt konstitutive Irresein handelt.
2. Alter und neuer Terrorismus
Terror ist kein neues Phänomen. Seit dem 19. Jahrhundert versuchten immer wieder Gruppierungen, mit spektakulären Anschlägen politische Ziele zu erreichen. Im Zeitalter von Politik und staatlicher Formierung blieb der Terrorismus freilich stets eine marginale Größe, und zwar sowohl was seine Wirksamkeit als auch was die Opferzahl betrifft. Dem rechten und linken Terrorismus dürften in 150 Jahren insgesamt ungefähr genauso viele Menschen zum Opfer gefallen sein, wie im Zweiten Weltkrieg an einem Tag. Der geringe Erfolg terroristischer Mittel in der politischen Auseinandersetzung kann insofern kaum überraschen, als es sich stets um eine aus einer Position extremer Schwäche erwachsende Ausweichstrategie handelte. Zum Terror nahmen immer nur elitäre Gruppierungen Zuflucht, die keine Möglichkeit sahen, über eine breitere politische Organisierung Einfluss zu gewinnen, die aber hofften, über den Umweg spektakulärer Attentate dieses Defizit wett machen zu können. Die “Propaganda der Tat” hatte das Ziel, die Bevölkerungsschichten, als deren Stellvertreter sich die Terroristen verstanden, aus ihrer Lethargie zu reißen, auf dass sie für die ihnen von den Terroristen zugeschriebenen Interessen aufstehen würden. Die Terroristen träumten davon, mit ihren Methode einer auf einem breiteren gesellschaftlichen Fundament ruhende Formierung von “Klassen” oder “Nationen” den Weg zu bereiten.
Dieses Konzept indirekter Mobilisierung hat so gut wie nie funktioniert, das zugrundeliegende Verständnis von Terror als einem politischen Instrument hatte aber den Nebeneffekt, die terroristische Blutspur recht dünn zu halten. Solange Terror auf die Mobilisierung “interessierter Dritter” zielte, musste er sich in der Wahl der Anschlagsopfer wählerisch verhalten. Wer herausragende und verhasste Funktionsträger ins Visier nahm, konnte darauf hoffen, die Sympathien jener Bevölkerungskreise zu gewinnen, in deren Namen er antrat. Zufallsopfer waren dagegen zu vermeiden – sie untergruben die Legitimationsgrundlage der Terroristen – und Massenvernichtung, die alles und jeden treffen kann, verbot sich von vornherein.
Stünde der neue Terrorismus auf der selben Grundlage wie der politische Terrorismus der Vergangenheit, man könnte Entwarnung geben. Leider hat er sich von dem alten politisch-instrumentellen Verständnis von Gewalt aber gründlich emanzipiert. Damit gewinnt der Terrorismus eine neue Qualität, nämlich die Fähigkeit zur massenmörderischen Effizienz. Aus einem Randphänomen droht eine dominierende Gewaltform des 21. Jahrhunderts zu werden. Ob die Weltuntergangssekten und fundamentalistischen Amokläufer Massenvernichtungsmittel einsetzen, ist lediglich eine Frage technischer Realisierbarkeit; auf eine sich aus dem terroristischen Motiv selber ergebende strukturelle Grenze im Gewalteinsatz braucht niemand hoffen. Weit davon entfernt noch, abzuschrecken, macht die Bereitschaft, Armageddon in Szene zu setzen, für das auf Allmacht getrimmte Konkurrenzsubjekt unserer Tage gerade die Attraktivität des neuen Terrors aus. Keine Kultur, die heute nicht ihr Reservoir an jungen zornigen Männern hervorbrächte, die gleichermaßen an die Existenz als Warensubjekt adaptiert und von ihr abgestoßen, in irgendeinen eschatologischen Fundamentalismus fliehen würden. Überall ein Rekrutierungspotential von Konkurrenzsubjekten, die keine andere persönliche und kollektive Perspektive mehr sehen als die, für eine lange Kette realer oder eingebildeter nationaler und individueller Demütigungen Rache zu nehmen.
3. Das identische Subjekt-Objekt der Vernichtung
Der warengesellschaftliche Krieg hat Gewalt in einen abstraktifizierenden Akt verwandelt. An die Stelle der Zweikämpfe von Kriegern ist erst mechanische und schließlich automatisierte Tötungsarbeit getreten. Waffentechnisch ist diese Metamorphose an den Aufstieg der Distanzwaffe zur dominierenden Waffe gebunden. Den entscheidenden historischen Wendepunkt markiert in dieser Hinsicht die Schlacht von Azincourt 1415, in der englische Langbogenschützen ein zahlenmässig weit überlegenes französisches Ritterheer vernichtend schlugen. Die von den feudalen Kämpfern als nicht standesgemäß und unehrenhaft verachtete Distanzwaffe hatte über den mittelalterlichen Kriegertypus triumphiert. Der räumliche Abstand, über den hinweg die Krieger einander beharkten, hat sich zuerst allmählich mit der Entwicklung der Feuerwaffentechnologie und nach dem Ersten Weltkrieg dann sprunghaft vergrößert. Am Ende dieser Entwicklung stehen jene Fernbomberpiloten, die vom Territorium der USA aus zum Einsatz über Bagdad flogen und für die das Schlachtfeld nur als das Display ihres Bordcomputers existierte.
Diesem räumlichen Auseinanderrücken entspricht ein innerer Distanzierungsprozess. Der Gegner wird zum passiven Tötungsgegenstand degradiert. An die Stelle des Kräftemessens im Zweikampf, wo die Gegner als Gleiche aufeinandertreffen, tritt im warengesellschaftlichen Krieg die Spaltung zwischen dem Tötungsarbeiter auf der einen Seite und der auszumerzenden Biomasse auf der anderen Seite. Schon der fordistische und erst recht der verwissenschaftlichte Krieg gleicht sich methodisch der Schädlingsbekämpfung an und hat mit dem klassischen Gefecht nichts mehr zu tun. Nicht nur, dass das Sterben zusehends aus dem Blickfeld des Tötenden rückt, das Töten und das Getötetwerden zerfällt in voneinander unabhängige Akte, mal ist die eine mal die andere Seite der von Menschen in Gang gesetzten Vernichtungsapparatur ausgesetzt.
Der neue archetypische Gewaltakteur unserer Zeit, der Selbstmordattentäter, steht für die Implosion dieser Struktur. Die polaren Gegensätze, in die sich die mörderische Praxis zerlegt hat, fallen plötzlich in eins. Der Selbstmordattentäter führt keine Waffe mehr, er ist unmittelbar eine. Sein Körper hat sich in einen Spreng-Körper verwandelt, und auch die Trennung von tötendem Subjekt und Tötungsobjekt ist auf perverse Weise hinfällig geworden. Sie findet in diesem identischen Subjekt-Objekt der Vernichtung ihre Aufhebung. An die Stelle der Distanzwaffe tritt nach 600 Jahren die Waffe der absoluten Distanzlosigkeit, eine historisch ganz neuartige Waffe.
4. Gewalt und Markt
Der neoliberalen Ideologie sind Monopole prinzipiell ein Graus und der Staat sowieso. Eine Ausnahme von dieser allgemeinverbindlichen Regel setzen freilich für gewöhnlich selbst Marktwirtschaftsfanatiker voraus. Zu einem Angriff auf das Gewaltmonopol des Staates versteigt sich kaum einer von ihnen. Den Kernbestand des Staates soll der geforderte und gefeierte Entstaatlichungsprozess unberührt lassen.
Die totale Marktwirtschaft, wie sie sich seit dem Epochenbruch von 1989 durchgesetzt hat, zeigt sich an diesem Punkt konsequenter als ihre Ideologen. Zu den vom fatalen Endsieg des Weltmarkts über die etatistischen Entwicklungsregimes ausgelösten Verheerungen gehört nicht zuletzt die Zersetzung und sukzessive Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols im Süden und Osten. Mit der Fähigkeit, die allgemeinen Rahmenbedingungen von Wertverwertung auch nur halbwegs flächendeckend herzustellen, verlor die Staatsgewalt dort zugleich die Fähigkeit und das Interesse, für “ihr” gesamtes nationales Territorium jedwede anderen Gewaltakteure auszuschalten. Immer größere geographische Räume entziehen sich de facto dem staatlichen Zugriff. Vor allem dort, wo mit dem Rückzug regulärer Staatlichkeit sich ideale Arbeitsbedingungen für auf illegalen Weltmarktsegmenten (Drogen, Schmuggel, Waffen- und Menschenhandel) operierende Akteure auftun, treten deren Gewaltapparate an die Stelle der Polizei. Bevor der historische Prozess der Überführung von organisierter Gewalt in das ausschließliche Instrument der abstrakten Allgemeinheit in den peripheren Weltmarktstaaten zu seinem Abschluss gekommen ist, kehrt sich demnach die ganze Entwicklungsrichtung um. Auf die gewaltsame Durchsetzung und Absicherung ihrer partikularen Geschäftsinteressen verpflichtete Mafiafraktionen beginnen dem Gewaltgeschehen wesentlich ihren Stempel aufzudrücken.
Dieser Wandel in Richtung Gewaltmärkte vollzieht sich freilich nicht allein auf dem Weg der Verdrängung der Staatsmacht. Die staatlichen Gewaltapparate machen im Kollaps der Modernisierung selber eine Metamorphose durch. Der Begriff des Staatsgeschäfts nimmt mit dem Verlust der In-Wert-Setzungs-Perspektive insgesamt zusehends eine wortwörtliche Bedeutung an und die Differenz zwischen Mafia und Staat beginnt zu verschwimmen. Während der Aufstiegsphase bezeichnete Korruption eine Störung der normalen Funktion und Reproduktion von Staatlichkeit. In weiten Teilen der Welt ist der Begriff mittlerweile insofern sinnlos geworden, als die Praktiken, auf die er abhebt, als Regelfall gelten müssen und längst die eigentliche materielle Basis der Reproduktion der Staatsapparate bilden.
Im Mittelpunkt dieser allgemeinen Entwicklung stehen aber allemal die “Sicherheits”-Apparate. Für ihre Angehörigen liegt es nahe, gerade ihre traditionelle Position als Garant der öffentlichen Ordnung und ihre Fähigkeiten zur Gewaltausübung als privates Humankapital zu benutzen. Die Verfügung über die gesellschaftlichen Gewaltmittel setzt sie in den Stand, sich den Zugriff auf die wenigen Güter aus den Zusammenbruchsregionen zu sichern, die noch Eingang in die globale Verwertungsbewegung finden. Vor allem afrikanische Länder haben diesen Prozess bereits bis zu seinem logischen Ende durchlaufen. Die Volkswirtschaft des Kongos oder Liberias hat sich in diesem Prozess in eine reine Plünderungsökonomie verwandelt, während die Welt der Politik auf den bewaffneten Kampf um die Kontrolle von Rohstoff-Claims zusammengeschrumpft ist. Die Überreste der Staatsgewalt sind zum Hauptakteur auf den aufblühenden Gewaltmärkten geworden.
5. Der poststaatliche Krieg
In den zwischenstaatlichen Kriegen fielen Kriegsziel und das Mittel des Krieges auseinander. Kriege wurden geführt, um für den Frieden eine verändert Machtposition zu erreichen. Der Krieg erschien als eine Art Vorinvestition für einen zu erreichenden postkriegerischen Zustand. Im militärischen Wettbewerb der nationalstaatlich organisierten Souveräne fiel der Erfolg der Seite zu, die es am konsequentesten verstand, alle auf dem von ihr kontrollierten Territorium vorhandenen menschlichen und stofflichen Ressourcen zu mobilisieren und zu einer auf den Zweck der Niederwerfung des Gegners ausgerichteten Vernichtungsmaschine zusammenzufassen. Ökonomisch gesehen handelte es sich bei der Kriegswirtschaft um die Ausrichtung der gesellschaftlichen Produktion auf maximierten unproduktiven Staatskonsum. Das stoffliche Substrat der Kriegswirtschaft bestand in der Verwandlung von möglichst viel auf unkriegerischen Wegen, via Steuern und Anleihen, abgeschöpftem abstraktem Reichtum in möglichst viele, möglichst effiziente Destruktionsmittel.
Die poststaatlichen Kriege unserer Tage funktionieren nach einem anderen Muster. Die Trennung von Kriegsziel und kriegerischem Mittel ist hinfällig; der Weg ist zum Ziel geworden. Den neuen Herren über den Ausnahmezustand dient Gewaltausübung selber als Mittel zur Aneignung von Reichtum. Kriegsökonomie steht nicht mehr für die extreme Variante von gesamtgesellschaftlicher Überkonsumtion, Kriegsökonomie funktioniert als Plünderungsökonomie, als die besondere Reproduktionsform der Kriegsbetreiber, die aufgehört haben, als abstrakte Allgemeinheit aufzutreten. Ganz ähnlich wie in den frühzeitlichen Konflikten ist es zunehmend am Krieg, den Krieg zu ernähren. In der Vergangenheit ging es im Kampf der Nationalismen darum, wer von den Konkurrenten wo das große Vereinheitlichungs- und Modernisierungswerk in Angriff nehmen darf. Mit Waffengewalt wurde Fragen entschieden wie die, ob das Elsass und seine Bewohner Teil der deutschen oder der französischen Modernisierungsmaschine werden sollten, oder ob Polen einen eigenen Nationenbildungsprozess durchmachen darf. In den Zerfallskriegen im Süden und Osten spielt der Nationalismus, zum Ethnizismus heruntergekommen, abermals eine zentrale, allerdings anders gelagerte Rolle. Ethnische Differenzen bestimmen wesentlich die Rekrutierung der konkurrierenden Mörderbanden und die Wahl der bevorzugten Opfer der plünderungsökonomischen Unternehmen.
Der Übergang von staatskonsumtiver Vernichtungsökonomie zur Plünderungsökonomie verändert das Antlitz des Krieges dramatisch. Das beginnt damit, dass in den neuen Kriegen die Auseinandersetzung zwischen den Kombattanten zurücktritt und die militärischen Aktionen stattdessen ihr Hauptangriffsziel im Hab und Gut und dem Leben von Nicht-Kombattanten finden. Durchstaatlichte Kriege zeichneten sich durch das Bemühen aus, die Zerstörungsgewalt auf die gegnerischen Streitkräfte zu fokussieren. Geriet die Zivilbevölkerung mit ins Schussfeld, dann im Rahmen von Angriffen, die indirekt durch Zerstörung von Infrastruktur und Nachschub auf den bewaffneten Gegner zielten. Soweit es während der Kriege zu Massakern an der Zivilbevölkerung und zu Fluchtbewegungen kam(55), waren das hässliche Begleiterscheinungen militärischer Auseinandersetzungen. In den Zerfallskriegen unserer Epoche sind Massaker, Ausplünderung und “ethnische Säuberungen” zum eigentlichen Inhalt militärischer Operationen aufgestiegen. Der direkte Zusammenprall mit konkurrierenden bewaffneten Kräften tritt demgegenüber zurück, und in vielen Zerfallskriegen wird er von allen Kriegsparteien tunlichst vermieden.
Die Epoche durchstaatlichter, auf die Ausschaltung der gegnerischen Streitkräfte zentrierter Kriege war von einem beständigen Rüstungswettlauf geprägt. Seinen monetären Niederschlag fand er in einer permanenten Kostenexplosion. Bei den Zerfallskriegen unseres Zeitalters handelt es sich dagegen durchgängig um Low Budget Wars. Zum einen können sich viele der neuen Kriegsherren direkt oder indirekt aus den aus der Epoche etastistischer Modernisierung übriggebliebenen Arsenalen bedienen. Die serbischen Truppen etwa operierten im Wesentlichen mit dem aus der Zeit Tito-Jugoslawiens übriggebliebenen Kriegsgerät der ehemaligen Bundesarmee. Zum anderen lösen mit dem Wechsel des Hauptangriffsziels billige Waffen wie Maschinenpistolen, Minen und Macheten Panzer und Flugzeuge als dominierende Waffen ab. Was die Folgekosten angeht, richten die Warlords unserer Tage Verheerungen an, die sich oft durchaus mit den Staaten- und Staatsbildungskriegen der Vergangenheit messen lassen, die Gestehungskosten liegen hingegen konkurrenzlos niedrig. Selten dürfte die “Investitionssumme” pro Kriegstoten und Vertriebenen in der Geschichte der Moderne so niedrig gelegen haben wie in den Zerfallskriegen des späten 20. und 21. Jahrhunderts im Süden und Osten. Diese neue Ökonomie des Krieges kommt auch dort zum Tragen, wo diese übelste Sorte marktwirtschaftlicher Rationalität hinter den reinen Vernichtungszweck zurücktritt. Gemessen an Staaten kommt selbst das von einem erfolgreichen Geschäftsmann geführte und finanzierte Terrornetzwerk Al Qaida mit recht bescheidenen Mitteln aus.
Die Geschichte des staatlichen Gewaltregimes lässt sich als doppelsinniger Prozess der Potentialisierung von Gewalt beschreiben. Die Zerstörungskraft wuchs ins Unermessliche, während gleichzeitig die großen manifesten Kriege seltener wurden. Diese Entwicklung war nicht zuletzt auf die immense Verteuerung der Rüstung zurückzuführen. Sie führte sukzessive zur Reduktion der auf dem jeweils erreichten Destruktionsniveau überhaupt noch konkurrenzfähigen Gewaltakteure. Im Gefolge der mikroelektronischen Revolution schrumpfte die Zahl der Mitspieler auf einen, auf die USA.(56) Dagegen sind weltweit Tausende von Gruppierungen in der Lage, die Vorauskosten zum Anzetteln eines “neuen” Krieges aufzubringen. Der Übergang von den Staatskriegen zu den Zerfallskriegen geht denn auch mit einem Prozess der Depotentialisierung einher, der wiederum ebenso doppelsinnig zu verstehen ist, wie die vorgängige Entwicklung. Der Alptraum eines atomaren Showdowns der Supermächte ist mit dem Ende des Ost-West-Konflikts gewichen, aber nur um seit den 90er Jahren immer neuen und immer zahlreicher werdenden Low Intensity Konflikten Platz zu machen. Es ist zweifellos erschreckend, dass selbst in Europa militärische Auseinandersetzungen wieder führbar wurden. Noch erschreckender freilich ist die Entwicklung auf dem Trikont. Nicht nur dass die Kriege an der Weltmarktperipherie auch nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation, trotz des Verlustes der sowjetischen und US-amerikanischen Unterstützung weitergingen; mit der Umstellung auf eine rein plünderungsökonomische Grundlage nahmen sie erst epidemischen Charakter an.
Mit dem Übergang zur Epoche der Zerfallskriege häufen sich nicht nur die bewaffneten Auseinandersetzungen; die einzelnen Konflikt ziehen sich oft in die Länge. Auf den gleichen Schauplätzen treten immer wieder neue Gewaltakteure auf, um sich in wechselnden Bündniskonstellationen zu bekriegen. Auch dieses neue Merkmal lässt sich unschwer in Beziehung zu den basalen Veränderungen in der Kriegsökonomie setzen. Als Phasen massiver staatlicher Überkonsumtion beeinträchtigten die zwischenstaatlichen Kriege die gesamtgesellschaftliche Akkumulationsbewegung oder unterbrachen sie sogar. Imperialistische Kriege zogen ihre Legitimation denn auch wesentlich aus den erhofften Ergebnissen. Seine Aufgabe als abstrakte Allgemeinheit erfüllte ein Nationalstaat nur, wenn er Kriege so schnell wie möglich zu einem siegreichen Ende brachte. Ermattungskriege wie der Erste Weltkrieg entstanden aus Pattsituationen, ansonsten war die überlegene Seite bemüht, die Entscheidung schnell herbeizuführen. Selbst für die antikolonialen Bewegungen, die ihre bewaffneten Kämpfe aus einer Position der militärischen Schwäche begannen und von daher notgedrungen auf Strategien der Verzögerung und des langen Krieges setzen mussten, bildete die Mobilisierung für den Befreiungskrieg nur eine leider unvermeidliche blutige Eröffnung für ihr eigentliches, “friedliches” Modernisierungsprojekt. Trotz der unschätzbaren Bedeutung der antikolonialen Kämpfe als Initiationsritus auf dem Weg zur Nationwerdung wäre wohl niemand auf die Idee verfallen, diese Overtüre freiwillig in die Länge zu ziehen. Wo Krieg wie in den Zerfallskriegen für seine Betreiber zur Reproduktionsform wird und sich von jeder weitertreibenden gesamtgesellschaftlichen Perspektive abkoppelt, haben die Gewaltakteure dagegen wenig Anlass, unbedingt eine militärische Entscheidung zu suchen. Sich selber überlassen, brennen diese Konflikte nur in dem Maße aus, wie sich die Möglichkeiten zur plünderungsökonomischen Aneignung von monetärem Reichtum erschöpfen. Ein vorzeitiges Ende finden sie für gewöhnlich nur dann, wenn sich die “internationale Gemeinschaft” zu Interventionen durchringt. Allerdings beruht in diesen Fällen der prekäre Frieden vornehmlich darauf, dass die Anwesenheit internationaler Truppen den heimischen Gewaltakteuren erlaubt, ihr plünderungsökonomisches Unternehmen auf eine andere Basis zu stellen und statt der Bevölkerung vor Ort die internationalen Institutionen und Hilfsorganisationen zu schröpfen.
Mit dem Prozess der Durchstaatlichung nahm das Gewaltregime eine bipolare Struktur an. Zunächst einmal bildete sich eine ganz klare Grenze zwischen innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Gewalt heraus, eine Differenz, die sich institutionell in der Trennung von Armee und Polizei niederschlug. Die Zerfallskriege beseitigen diese Scheidelinie nicht nur insofern, als diese Funktionsdifferenzierung ihre Bedeutung verliert. Den neuen Gewaltakteuren sind auch irgendwelche Rücksichten auf Staatsgrenzen eher fremd. Dass die ruandischen und burundischen Warlords auch auf dem kongolesischen Kriegsschauplatz eine zentrale Rolle spielen, ist kein Einzelfall. Operationen, die sich gegen die Angehörigen des eigenen Staatswesens richten, und Angriffe auf andere Gemeinwesen gehen regelmäßig fließend ineinander über.
Zur bipolaren Struktur der durchstaatlichten Gewaltordnung gehörte auch die eindeutige Scheidung von Krieg und Frieden. Ob der eine oder andere Status herrscht, war rechtlich ebenso klar definiert wie lebenspraktisch unmissverständlich erfahrbar. Schwebezustände, die sich weder als Frieden noch als Krieg fassen lassen, kannte das Clausewitzsche Universum nicht. Genau diese Zwischenzustände werden in der Welt der Zerfallskriege aber immer mehr zur Regel. Im Bosnienkrieg nötigten die internationalen Vermittler die Konfliktparteien vor dem Dayton-Abkommen zu mehr als einem Dutzend Waffenstillstände. Sie wurden allesamt gebrochen, kaum dass die Tinte getrocknet war, mit der die offiziellen Vertreter von Serben, Kroaten und Muslimen ihre Unterschriften geleistet hatten. Das war keine spezielle Kuriosität dieser Weltregion, sondern ein Indiz dafür, wie in der Epoche der Zerfallskriege Krieg und Frieden insgesamt ineinander verschwimmen.
Die Herrschaft der Warensubjektivität gründet letztlich in der Reduktion von Menschen auf zur Tötung freigegebene Biomasse. Im durchstaatlichten Gewaltregime erschien diese Basis als räumlich wie zeitlich eingehegte Sondersphäre, als eine zum Herrschaftsbereich von Recht und Vertrag im Widerspruch stehende, nur in Ausnahmezuständen Realität werdende Gegenwelt. Nur in dieser Konstellation konnte vom unmittelbaren physischen Zwang freie Konkurrenz zur sozialen Normbeziehung aufsteigen. Das poststaatliche Gewaltregime wirft diese Einhegung über den Haufen. Die reguläre Konkurrenz der Warenbesitzer und die irreguläre direkte Totschlagkonkurrenz nähern sich einander an. In den Zusammenbruchsregionen des totalen Weltmarkts ist dieser Durchmischungsprozess bereits in vollem Gange.
6. Die hässliche Rückseite der Individualisierung
In den Weltmarktzentren kann die Herrschaft des Territorialstaats auf eine viel längere Geschichte zurückblicken als an der Weltmarktperipherie und ist dementsprechend wesentlich tiefer verankert. Gleichzeitig liefert die größere Kreditwürdigkeit der westlichen Staaten für die Fortschreibung der Rolle des Staates als ideeller Gesamtkapitalist eine weit solidere monetäre Grundlage. Im Zeichen der Globalisierung wird die Symbiose von Territorialstaat und “seinen” Kapitalien brüchig, dennoch kann die Staatsmacht im Westen diesen Part noch eine ganze Weile weiterspielen. Gerade das Herzstück der staatlichen Souveränität, das staatliche Gewaltmonopol bleibt in seiner Kernsubstanz zunächst einmal ungefährdet. Zwar existieren auch in westlichen Ländern von Banden beherrschte Slums und Banlieues, zwar ist eine zunehmende Privatisierung von “Sicherheit” zu verzeichnen – Symptome für die Entstehung von Zonen unterschiedlicher “Sicherheitsdichte” – die grundsätzliche Suprematie der Staatsgewalt stellen diese Phänomene aber noch nicht in Frage. Auch die andernorts kaum mehr ausmachbare Grenze zwischen Staat und Mafia bleibt im Westen vorerst einigermaßen deutlich.
Lange bevor auch im Westen dem territorialstaatlichen Gewaltregime die monetäre Basis wegbrechen wird, hat auch dort bereits dessen Zersetzung begonnen. Für einen der Ausgangspunkte dieses Prozesses sorgt unmittelbar die neoliberale Offensive und der Vormarsch des totalen Marktes in den kapitalistischen Zentren. In einer Welt, die keine Gesellschaft, sondern nur noch Individuen und Erfolg um jeden Preis kennen will, schießen Ängste ins Kraut, die auf keinen Fall zugelassen werden dürfen; die totale Durchrationalisierung und Vollökonomisierung aller sozialen Beziehungen schafft ein Treibhaus, in dem ihr immanentes Gegenteil, von vornherein gewalttätig aufgeladene Irrationalität, prächtig gedeiht. Der Individualisierungsprozess schlägt auch auf die Gewaltbasis der Konkurrenzsubjektivität durch. Der allen zugemutete Aberwitz, als selbstgenügsames Subjekt existieren zu müssen, übersetzt sich in den irren Impuls, diese unlebbare Existenzweise im Zweifelsfall mit allen Mitteln und am liebsten mit der Waffe in der Hand gegen reale und vor allem imaginäre Gefahren zu verteidigen. Das für das Warensubjekt bestimmende Allmachts-Ohnmachts-Gefühl kommt im Zeitalter der unmittelbaren Unterwerfung unter den totalen Markt zu seiner extremsten Ausbildung. Damit aber nicht genug. Die Allmachtsansprüche lassen sich immer weniger über die Identifikation mit dem nationalstaatlichen Ganzen ausleben. Stattdessen finden sie in pseudoreligiösen Sekten, individuellen Rambo-Phantasien eine zeitgemäße Erscheinungs- und Auflösungsform, bei der die frei werdende Gewaltkomponente sich gegen das Innere der Gesellschaft zu richten droht.
Das Horrorkonstrukt, mit dem der Staatstheoretiker Hobbes einst die Existenz des Leviathan legitimierte, kehrt als allgemeines Wahrnehmungsraster wieder, und Paranoia steigt zu einer der psychischen Leitstörungen einer Epoche auf die Spitze getriebener ungesellschaftlicher Gesellschaftlichkeit auf. Der Paranoiker “befindet sich in einer Art Naturzustand, ähnlich dem von Hobbes im Leviathan beschriebenen: er ist von Feinden umgeben, isoliert, ohne Bindung an eine Gemeinschaft… Aus dieser Perspektive ist die Paranoia einfach die Situation eines Menschen, der … sich gezwungen sieht, außerhalb der Gesellschaft zu leben. Politische Paranoia ist der unglückliche Versuch, mit anderen wieder in Beziehung zu treten, erneut eine Gemeinschaft herzustellen.”(57)
Am weitesten ist diese Entwicklung sicherlich in den USA gediehen, und zwar auch und vor allem, was ideologisch aufgeladene Gewalt angeht. Rassistische und christlich-fundamentalistische Gruppierungen richten sich dort bezeichnenderweise so gut wie durchgängig nicht nur gegen den bestehenden Staat, sondern zunehmend überhaupt explizit gegen jede übergreifende Staatlichkeit. Der verheerendste Terroranschlag in der Geschichte der USA bis zum 11. September, der Anschlag des Timothy Mc Veigh in Oklahoma im April 1995, galt einem Gebäude der Bundesregierung. Diese Wahl des Zielobjekts ist weder als die Verirrung eines Einzelnen zu betrachten noch beschränkt sich das antistaatliche Motiv auf die extreme Rechte(58) und auf religiöse Sekten vom Schlag der Davidianer. Gerade auch bei Massenorganisationen wie der NRA (National Rifle Association) lässt sich diese Grundorientierung mit Händen greifen.(59)
7. Das “Weltpolizistentum” in der Dekade des Menschenrechtspaternalismus
Das etablierte Gewaltregime wird in den Weltmarktzentren nicht nur durch das Auftauchen neuer Gewaltakteure zersetzt. In der Konfrontation mit diesen beginnt auch die etablierte Staatsgewalt sich vom vertrauten Bezugssystem zu verabschieden, um schließlich selber zur treibenden Kraft seiner Auflösung zu mutieren.
Dieser Prozess gliedert sich in zwei Phasen. Die erste setzte unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus ein. Mit dem Verschwinden der östlichen Konkurrenz war den USA und ihren Juniorpartnern gegenüber allen anderen Staaten eine Art Weltgewaltmonopol zugefallen. Der Westen sah sich nun in der Lage, im Prinzip überall auf der Welt militärisch zu intervenieren, ohne von Seiten der ins Visier geratenen etatistischen Modernisierungsruinen mit nennenswerten Gegenschlägen rechnen zu müssen. Das führte aber nicht nur dazu, dass der schon etwas kriegsentwöhnte Westen am Depotentialisierungsprozess Teil hatte und vermehrt eigene Truppen zu militärischen Operationen an die Weltmarkperipherie entsandte; vor allem stand damit erstmals die strenge Trennung zwischen innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Gewalt ernsthaft zur Disposition, wie sie sich seit dem Westfälischen Frieden von 1648 herausgebildet hatte. Angesichts der eigenen militärischen Übermacht grassierte im Westen der Glaube, es sei möglich, das Modell innerstaatlicher Befriedung qua mit Gewaltmonopol ausgestatteter Polizeimacht auf die internationale Bühne zu übertragen.
Die in den Zusammenbruchsregionen seit Beginn der 90er Jahre allerorten aufbrechenden, meist ethnizistisch eingefärbten Konflikte berührten den Westen lediglich indirekt. Soweit die Zerfallskriege nicht in die kapitalistischen Zentren überschwappende Flüchtlingsbewegungen auslösten (Jugoslawien), warfen sie vornehmlich Legitimationsprobleme auf. Die Fernsehbilder von hässlichen Schlächtereien standen in eklatantem Widerspruch zum westlich-universalistischen Credo, der Triumph von Markt und Demokratie eröffne diesem Planeten eine wunderbare und friedliche Zukunft. Die westlichen Interventionen standen unter einem entsprechenden, nämlich menschenrechts-paternalistischen Vorzeichen. Auch dort, wo die glorreiche Konkurrenzsubjektivität mangels Entwicklungsperspektive nicht mehr in ihre “friedliche”, arbeitsgesellschaftliche Variante finden kann, soll sie sich nicht in ihrer bestialischen Alternativform als Mordsubjektivität austoben. Mit militärischer Präsenz versuchte der Sicherheitsimperialismus gegen die Krisenwirklichkeit auch in de facto abgeschriebenen Weltregionen der “richtigen” Form der Achtung vor den universellen westlichen Prinzipien Geltung zu verschaffen.
Mit dem Menschenrechtspaternalismus hat der Westen eine “mission impossible” zum Programm erhoben. Das emphatisch gemeinte Gefasel von einer neuen Weltordnung war nie etwas anderes, auch nicht einmal im Ansatz je mehr als ein Label für exemplarische Operationen. Allein das schon dementiert den weltpolizeilichen Anspruch. Wo und wann die westlich dominierte Völkergemeinschaft zur interventionistischen Tat schritt (Somalia, Ost-Timor, Kosovo, Bosnien), hatte stets viel mit den Wahrnehmungsrastern einer medial vermittelten Weltöffentlichkeit zu tun und wenig mit einem weitreichenden tragfähigen Konzept. Diese beschränkte Reichweite war indes keineswegs nur eine Frage fehlender politischer Entschlossenheit und mangelhafter Umsetzung. Selbst der Versuch auch nur die akuten Brandherde unter Kontrolle zu bekommen, hätte sowohl die militärisch-logistischen als auch die finanziellen Potenzen des Westens heillos überfordert. Der Westen stand umso mehr vor einer Sisyphus-Arbeit, als zwar das militärische Risiko der diversen “friedenschaffenden” oder “friedenserhaltenden” Maßnahmen sehr begrenzt war und in den meisten Weltregionen auch heute noch ist, dafür aber die Friedens-Sheriffs zur Dauerpräsenz vor Ort verurteilt sind. Diese Notwendigkeit entspringt unmittelbar der phantasmagorischen Zielsetzung. Der Westen kann durch seine Truppen und den Einsatz entsprechender Finanzmittel die Zerfallskriege da und dort zwar sistieren, indem er einigen Warlords in die Parade fährt und andere besticht. Wirkliche Befriedung würde aber gerade den Bruch mit der längst anachronistisch gewordenen Idee nachholender Staatsformierung und kapitalistischer Entwicklung voraussetzen. Dauerhafte Befriedung ist in der Krisenepoche überhaupt nur noch als “Entvolkung” und als emanzipative Entstaatung von unten denkbar, als Bruch mit der westlichen Subjektform und den Imperativen entfesselter Konkurrenz. Das wäre aber natürlich genau das Gegenteil auch der wohlmeinendsten Spielart des Menschenrechtspaternalismus.
Die westliche Politik gegenüber den Zusammenbruchsregionen und maroden Modernisierungsruinen vereint die klammheimliche Anerkennung und die Leugnung des Zerfalls der territorialstaatlichen Ordnung. Während der Westen sich in Berufung auf eine neue “Weltinnenpolitik” über die für die territorialstaatliche Ordnung konstitutive Trennung von innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Gewalt hinwegsetzt, halluziniert er sich gleichzeitig eine nicht vorhandene Nation-Building-Perspektive zurecht und bemüht sich, die eine oder andere Warlord-Fraktion auf reguläre Staatsmacht umzuschulen. In den Hochzeiten der nationalen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt denunzierten die Führer der “freien Welt” die Staatsmacht in spe penetrant als Banditen und Räuber. Heute werden dagegen politisch eingefärbte Mafia-Clan-Führer als Staatsmänner hofiert.
Diese simulative Fortschreibung der kollabierten territorialstaatlichen Ordnung lässt sich aber nicht nur daran festmachen, welche illustren Freunde und Ansprechpartner sich die Menschenrechtshüter vor Ort auswählen. Sie kommt erst recht bei der Feindbestimmung zum Tragen. Das irre Konstrukt der “Schurkenstaaten” spricht in dieser Hinsicht Bände. Indem die westliche Führungsmacht, resistent gegen die simpelsten Fakten, halluziniert, die Gefährdung der neuen Weltordnung gehe vornehmlich von irgendwelchen Modernisierungsruinen wie dem Irak, Libyen und Kuba aus, definiert sie sich genau den Typ von Gegner zurecht, der gegen sie in keiner Weise ankann.
Seit der Eroberung des Inkareichs durch Pizarro hat es wohl keine Kriege mehr gegen, die sich durch eine so extreme Asymmetrie ausgezeichnet hätten, wie die Weltordnungskriege der 90er Jahre. So oft der High-Tech-Militärapparat der USA und ihrer Verbündeten mobil macht, trifft er auf Gegner aus einer anderen Waffenwelt. Versteht man den Begriff des Krieges im strengen Clausewitzschen Sinn, dann fallen die US-amerikanischen Feldzüge der letzten Dekade kategorial eigentlich gar nicht mehr unter diese Rubrik. Wenn nach Clausewitz der Krieg logisch gesehen nicht mit dem Angriff, sondern mit der Verteidigung beginnt, dann ist das Phänomen Krieg an ein Mindestmaß von Verteidigungsfähigkeit gebunden, also an den Willen und die Möglichkeit der angegriffenen Seite, aus Mord und Totschlag eine wechselseitige Angelegenheit zu machen. Diese Bedingung war aber weder bei den Feldzügen gegen den Irak noch bei der Kosovointervention von 1999 gegeben. In beiden Fällen reduzierte sich “Kampf” von westlicher Seite auf eine Art Scheibenschießen aus der Luft auf die abgetakelten und zur Gegenwehr unfähigen Überreste von militärtechnisch hoffnungslos veralteten fordistischen Armeen auf dem Boden. Der Kosovokonflikt lässt sich am ehesten als das Ineinander von zwei Geiselnahmen charakterisieren. Auf der einen Seite terrorisierten und vertrieben serbische Milizen und Soldateska die kosovo-albanische Zivilbevölkerung, auf der anderen Seite strafte die Nato die Bewohner Serbiens dafür ersatzweise ab und legte die Infrastruktur Restjugoslawiens in Schutt und Asche, ohne dass dazu ein Nato-Soldat hätte den Boden des Landes betreten müssen.
8. Die Grenzen der Allmacht
Die größte “Militärmacht aller Zeiten” wird nie auf einen Gegner treffen, der auch nur einen Bruchteil der den USA zur Verfügung stehenden militärischen Ressourcen in die Waagschale werfen könnte. Diese Asymmetrie garantiert freilich noch lange nicht den Triumph der Übermacht. Dem Westen verdorren ein ums andere Mal die Früchte seiner militärischen Erfolge nicht nur nachträglich angesichts des inneren Widerspruchs, Kontrolle auszuüben ohne kapitalistische Landnahme und Inwertsetzung in Gang setzen zu können; auch der Fähigkeit zum allzeitigen militärischen Triumph sind Grenzen gesetzt. Die erste Limitierung liegt in den extremen Kosten des High-Tech-Militärapparats der USA. Von der den “neuen Kriegen” eigenen Tendenz zur Minimierung der Gestehungskosten von Mord und Zerstörung ist die verbliebene Supermacht nicht nur ausgeschlossen; sie erlebt das genaue Gegenteil. In den Weltordungskriegen des Westens sind erstmals in der Kriegsgeschichte, High-Tech-sei-Dank, die Geschosse in der Regel weit kostspieliger als die anvisierten Ziele.
In diesem Zusammenhang lohnt es sich, den beim US-Militärapparat hoch im Kurs stehenden Begriff “chirurgische Schläge” etwas genauer anzusehen. Natürlich handelt es sich dabei in erster Linie um dreiste Propaganda. Gleichzeitig bezeichnet dieser Ausdruck als Euphemismus auch eine spezielle Gefechtsökonomie, eine den Nachwehen des Menschenrechtspaternalismus geschuldete originelle Übergipfelung des American Way of Fighting. Schon in den fordistischen Kriegen zeichnete sich der US-amerikanische Vernichtungsapparat gegenüber der Konkurrenz durch eine extrem hohe organische Zusammensetzung aus. Ob im Zweiten Weltkrieg, in Korea oder in Vietnam, die US-amerikanische Kriegführung war darauf geeicht, die eigenen Verluste an Menschen durch gigantischen Materialaufwand zu minimieren. Im Kosovokrieg und Irakkrieg hatte erstmals der Gegner an dieser relativen Schonung teil. Es ging um “schöne Bilder” und eine eindrucksvolle Machtdemonstration, während Vernichtungseffizienz klein geschrieben wurde. Noch nie wurde gemessen an der Zahl der Opfer auch nur annähernd ein derartiger Feuerzauber ins Werk gesetzt. Sowohl was den eingesetzten Gebrauchswert (Sprengkraft in TNT-Einheiten) als auch den verpulverten Geldwert angeht, waren die direkten Opfer der Weltordnungskriege die mit Abstand am aufwendigsten produzierten Toten der Kriegsgeschichte. Feldzüge vom Kaliber der Kriege gegen das Hussein-Regime können sich die USA nicht allzu oft leisten.
Zweitens ist die Streitmacht der Supermacht auf einen ganz bestimmten Kontrahententypus geeicht. Sie kann nur Gegner demonstrativ in Grund und Boden trampeln, die essentiell auf territoriale Kontrolle angewiesen sind – und sei es nur für plünderungsökonomische Zwecke – und sich als Staat oder Pseudostaat organisieren. Im Kampf mit Gewaltsubjekten, die kein kartographisch erfasstes, geographisch klar umrissenes Ziel mehr abgeben, sieht das ganz anders aus. Die High-Tech-Militärmaschine schlägt ins Leere, sobald die westlichen Zentren keinen zwischenstaatlichen Konflikt mehr führen können, sondern aus dem Inneren der globalen Weltmarktgesellschaft angegriffen werden.
Der 11. September markiert einen historischen Einschnitt. Der Anschlag auf das World Trade Center hat zusammen mit der Verwundbarkeit der kapitalistischen Zentren schlagartig offen gelegt, welcher Typus von Gewaltakteur geeignet ist, die westliche Übermacht herauszufordern. Über das weitere Schicksal von Al Qaida lässt sich nur spekulieren; darüber, dass diese Organisation zu einer Art Prototypus einer neuen Gewaltepoche werden wird, kaum. Mit dem 11. September trat aber auch der Sicherheitsimperialismus in eine neue Phase. Angesichts der eigenen Verwundbarkeit streift das Weltpolizistentum das Paternalistische zugunsten offener brutaler Repression ab. Wie in allen Kriegen werden sich auch im Krieg gegen den Terror die Kontrahenten immer ähnlicher.
9. Der Ausnahmezustand als Regelzustand oder: Guantánamo ist überall
Dem “Krieg gegen den Terror” und vor allem seiner zweiten Etappe, dem Feldzug zum Sturz des Baath-Regimes, kommt eine transitorische Funktion zu. Zwar dokumentiert schon die Feindbestimmung, dass sich die westliche Führungsmacht in die abgeschlossene Epoche zwischenstaatlicher Kriege zurückhalluziniert; mit dem Hussein-Regime haben sich die USA und ihre Juniorpartner zielsicher einen territorialstaatlich organisierten Ersatzgegner auserkoren, also ein Angriffsziel, bei dem sie mit ihrer High-Tech-Militärmaschine locker punkten können – ganz im Gegensatz zur Auseinandersetzung mit ihrem eigentlichen Gegner dem transnationalen und deterritorialisierten Terrornetzwerk al Qaida; und doch hat der selbstherrliche Weltpolizist gleichzeitig selber mit einem gewaltigen Tritt eine Tür zu einer neuen Epoche aufgestoßen, die besser geschlossen geblieben wäre.
Zunächst einmal haben sich die USA mit ihrem Triumph über Saddam Husseins “Schurkenstaat” und der Besetzung des Iraks genau die Sorte Nachfolgekonflikt an den Hals geholt, die sie mit dem Konstrukt des “Schurkenstaates” weghalluziniert haben. Nach ihrem schnellen Sieg findet sich die Supermacht erst einmal auf unabsehbare Zeit als Kombattant in einem Low Intensitiy War gegen einen ungreifbaren, deterritorialisierten Feind wieder.(60) Den US-Streitkräften dürfte es in ihrem irakischen Protektorat kaum besser ergehen als dem militärisch ebenfalls haushoch überlegenen Israel angesichts der heillosen Al Aksa-Intifada.
Gleichzeitig hat die westliche Vormacht mit dem Irakfeldzug den Boden des Menschenrechtspaternalismus verlassen. Die USA haben damit begonnen, selbst als transnationaler Gewaltakteur zu agieren, der keinerlei Limitierung mehr anerkennt. Während der Menschenrechtspaternalismus noch auf anomische Zustände reagierte, beansprucht die Führung der letzten Supermacht das Urrecht aller Souveränität, die Ausrufung des Ausnahmezustands, für die globale Bühne, und kombiniert die Elemente zwischenstaatlicher Kriegführung und die Praxis des innerstaatlichen Ausnahmezustands zu einem neuartigen Gewaltregime. Der “Krieg gegen den Terror” steht für die Selbstermächtigung eines von internationalen Vereinbarungen, Kriegsrecht und innerstaatlichem Recht gleichermaßen entbundenen Leviathan.
Am Irakfeldzug 2003 lässt sich die neue Qualität unschwer ausmachen. Er sprengte gleich dreifach, nämlich strukturell, in der Anlage der militärischen Operationen und in Hinblick auf die Kriegsziele das Bezugssystem zwischenstaatlicher Konflikte. Zwangsabrüstung oder Regimewechsel, die Begründung für den Angriff auf den Irak, wären in diesem Universum als Casus belli undenkbar gewesen. Nicht dass ausländische Mächte in der Vergangenheit niemals am Sturz von Regierungen beteiligt gewesen wären; gerade die USA haben bekanntlich reichlich Übung in dieser Disziplin. Diesmal figuriert der von außen erzwungene Regimewechsel aber als hochoffizielles und lauthals verkündetes Kriegsziel. Sämtliche zwischenstaatlichen Kriege seit 1648 erfüllten Clausewitz’ allgemeinste Definition des Krieges: “Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.”(61) Der Angriff auf den Irak von 2003 fügt sich nicht mehr in diese Ordnung. Er bezweckt nicht den gegnerischen Souverän zum Nachgeben zu nötigen. Bevor die USA Truppen gen Bagdad in Marsch setzten, hatten sie vielmehr dem irakischen Staat einseitig den Status des Völkerrechtssubjekts aberkannt, ein absolut vorbildloser Vorgang in der Geschichte.(62) Als Souverän konnte die irakische Führung gar nicht mehr nachgeben, weil Nachgeben nur noch hätte heißen können, die eigene Nicht-Existenz als Souverän einzuräumen, und zwar nicht nur was die Zukunft, sondern auch was Gegenwart und Vergangenheit angeht.(63)
Die militärischen Operationen des Irakkriegs 2003 spiegeln das auf ihre Weise wider. Sie vermengten Elemente staatlicher Kriegführung mit Fahndungsmaßnahmen gegen das herrschende Regime, die frei nach dem Motto “Wanted dead or alive” durchgezogen wurden. Die kriegerischen Handlungen eröffnete bezeichnenderweise ein (fehlgeschlagener) Angriff auf den vermeintlichen Aufenthaltsort Saddam Husseins.
Im Kampf gegen den irakischen Diktator ging es nicht mehr nach der Façon zwischenstaatlicher Kriege darum, der gegnerischen Regierung ihr militärisches Instrument aus der Hand zu schlagen und sie wehrlos zu machen. Das militärische Unternehmen ähnelte vielmehr einer Abrechnung nach Mafia-Art, genauer: es hatte etwas von der Vorgehensweise der Rächer in Hollywoodfilmen. Aus dem ehemaligen Träger der feindlichen Souveränität ist zum Töten freigegebene Biomasse geworden. Die Sonderbehandlung, die den Saddam-Söhnen statt ihrer Verhaftung zuteil wurde, spricht in diesem Zusammenhang ebenso Bände wie die anschließende Zurschaustellung ihrer Leichen. Als Anfang der 90er Jahre tote GIs für die Kameras durch die Straßen von Mogadischu geschleift wurden, war die westliche Öffentlichkeit noch empört. Eine Dekade später zeigt die US-Administration: soweit ist sie mental nicht mehr von den Aidid-Banden entfernt. Sie baut darauf, dass die amerikanische Fernsehöffentlichkeit auf dem Niveau des jubilierenden Mobs der somalischen Hauptstadt angelangt ist, wenn sie sich als Herr über Leben und Tod inszeniert.
Schon seiner demokratiemissionarischen und sicherheitsimperialistischen Intention wegen liegt im “Krieg gegen den Terror” eine Tendenz zur Entgrenzung. Ein Kriegsziel wie “Sicherheit” ist weder erreichbar noch objektivierbar, und es kann nur dem freien Ermessen des Leviathan überlassen bleiben, es als hinlänglich erreicht zu definieren oder nicht. Aber auch seiner zeitlichen und geographischen Struktur nach fällt der “Krieg gegen den Terror” nicht einfach in die Rubriken lang und weiträumig, sondern unter die Kategorie uferlos. Mit der Begründung der präventiven Bekämpfung des Terrorismus könnte so ziemlich jeder Staat zum Angriffsziel werden. Was könnte mehr zur Entfesselung des fundamentalistischen Desperadotums beitragen als der Krieg, der zu seiner Niederschlagung geführt wird?
Eher dürfte die Quadratur des Kreises gelingen, als dass der Krieg gegen den Terror mit einem Sieg-Frieden für die Demokratie endet. Am historischen Horizont steht vielmehr die Drohung, dass er in einen vom Leviathan und den terroristischen Behemoths gemeinsam getragenen Ausnahmezustand einmündet. Das Ergebnis des Irakkriegs liefert bereits einen gewissen Vorgeschmack, wie es weitergehen könnte. Anders als der aus der Aufstiegsepoche der Warengesellschaft vertraute geographisch (Lager und Front) und zeitlich limitierte Ausnahmezustand zeichnet sich der permanente und auch räumlich allgegenwärtige Ausnahmezustand unter westlicher Beteiligung ab.
Zunächst einmal dürfte der Parallelamoklauf der Weltmacht zum islamistisch-fundamentalistischen Amoklauf vorzugsweise den Nahen Osten verheeren. Es liegt aber nicht unbedingt in der Logik der Sache, dass es dabei bleibt. Der sicherheitsimperialistische Leviathan kann mit seinem Bemühen letztlich nur scheitern, die Gewaltirrationalität zu externalisieren und als äußeren Krieg zu führen bzw. sie polizeitechnisch in den Griff zu bekommen. Ob islamistische Fundamentalisten den blanken Vernichtungswillen, die Ultima Ratio der Warensubjektivität in deren westliche Urheimat tragen oder andere terroristische Behemoths den Job übernehmen; dem sicherheitsimperialistischen Leviathan dürfte sich allemal Anlass und Gelegenheit bieten, auch zu Hause seinen Beitrag zur Beseitigung der warengesellschaftlichen Normalität zu leisten. Der amerikanische Patriot Act, die Außerkraftsetzung von Grundrechten, die auch in Deutschland diskutierte Übernahme von Polizeifunktionen durch das Militär, das alles sind Indizien dafür, wohin das staatliche Gewaltregime treiben kann, wenn ihm die Grundlage unter den Füßen wegbricht: Richtung permanenten Ausnahmezustand.
Fußnoten
1) Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Stuttgart 1984, S. 33.
2) Zitiert nach Karl Otto Hondrich, Lehrmeister Krieg, Hamburg 1992, S. 16.
3) Thomas Hobbes, Leviathan, Neuwied 1984, S. 94.
4) Hegel-Werke Bd. 3, S. 36.
5) In der marxistischen Tradition, etwa in der Kojèveschen Interpretation, wurde der Gegensatz von Herr und Knecht klassenmäßig interpretiert. Wie schon Werner Marx recht überzeugend dargelegt hat, sind Herr und Knecht aber eher intrasubjektiv zu fassen als “zwei ungleiche, entgegengesetzte Gestalten des Bewusstseins”, die in ein und demselben Individuum angesiedelt sind. Das Warensubjekt ist zugleich Herr und Knecht. (Vgl. Werner Marx, Das Selbstbewusstsein in Hegels Phänomenologie des Geistes, Frankfurt 1986, S. 73 f.)
6) G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 111.
7) Hegel-Werke Bd. 3, S. 153.
8) Hegel-Werke Bd. 3, S. 332.
9) Vgl. Christina von Braun, Nichtich, Frankfurt, 1999, S. 231 f.
10) Hegel-Werke Bd. 3, S. 353.
11) Hegel-Werke Bd. 3, S. 436.
12) Hegel Studienausgabe, Bd. 2, Frankfurt 1968, S. 53.
13) Sigmund Freud, Gesammelte Werke IX, Frankfurt 1968, S. 176.
14) A.a.O., S. 176.
15) Im Naturzustand von Hobbes existieren keine Frauen und Kinder, sondern nur Familienoberhäupter.
16) A.a.O., S. 40.
17) Dass Freuds Betrachtung die weibliche Entwicklung ausspart, ist nicht als Manko zu betrachten, sondern, von einer Theorie des warengesellschaftlichen Gewaltkerns aus betrachtet, nur logisch. Der strukturell männliche Charakter der Warensubjektivität kommt am schärfsten zum Vorschein, wo es um dieses Innerste geht.
18) Zum Begriff der Nachträglichkeit vgl. Robert Bösch, Zwischen Allmacht und Ohnmacht, Krisis 23, S. 103.
19) A.a.O., S. 106 f.
20) Der Terminus “Nirwana Prinzip” stammt streng genommen eigentlich gar nicht von Freud, sondern von Barbara Low. Er bezeichnet den angeblich allumfassenden Wunsch des Organismus, ins Nichts zurückzukehren. Freud adaptierte diese Vorstellung ohne Abstrich und übernahm auch diesen Begriff, explizit u.a. in GW XIII, S. 60.
21) Vgl. in diesem Zusammenhang den Beitrag von Karl-Heinz Wedel, Die Höllenfahrt des Selbst, Krisis 26.
22) Das gilt natürlich auch für die Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland und den meisten anderen kriegführenden Ländern nach dem Ersten Weltkrieg. Sie hatte die Ausrichtung der gesamten Produktion auf Kriegsbedarf und die Generalmobilmachung aller Ressourcen unter Einschluss der weiblichen Arbeitskraft zum historischen Hintergrund.
23) Der Begriff ICH bezeichnet hier nicht die gleichnamige psychische Instanz der Freudschen Psychoanalyse, sondern in Anlehnung an die Begriffsbildung von Christina von Braun den mit der Unterwerfung unter die Logik von Abstraktion und Warenform entstandenen “Kunstkörper”.
24) Bei Hegel scheint der innere Zusammenhang zwischen Krieg und der Formung des friedlich arbeitenden Konkurrenzsubjekts durchaus auf. Freilich stellt er die realen Verhältnisse auf den Kopf, indem er den zwischenstaatlichen Krieg als notwendige Auffrischung des auf dem Weg zur Anerkennung als Selbstbewusstsein unerlässlichen Zweikampfs behandelt. In Wirklichkeit war die Installation und Fortentwicklung des “Selbstbewusstseins” der glorreichen Waren-Subjekte das genuine Werk der zwischenstaatlichen Kriege.
25) Das Verb pacare bedeutet befrieden und unterwerfen.
26) Giorgio Agamben, Homo sacer, Frankfurt 2002. Vgl. den Beitrag von Karl-Heinz Wedel, Rechtsform und Homo sacer, in dieser Krisis-Ausgabe.
27) Hier ist etwa an die Schlussphase des Dreißigjährigen Kriegs zu denken.
28) Die Erfolge des französischen Königs demonstrierten eindrucksvoll die Überlegenheit einer zentralisierten, dem Souverän unmittelbar unterstellten Armee gegenüber der Kriegführung der Condottieri.
29) Vom Beginn des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts verzehnfachte sich die Zahl der Soldaten in Europa. Vgl. Cora Stephan, Das Handwerk des Krieges, Berlin 1998, S. 146.
30) Im Ersten Weltkrieg entfielen noch über 90 Prozent der Todesopfer auf Armee-Angehörige, im Vietnamkrieg weniger als 10 Prozent.
31) Der Bau der Chinesischen Mauer war wohl die einzige hervorstechende Ausnahme. Bei diesem mit Hungersnöten und Bauernaufständen erkauften Kraftakt handelte es sich bezeichnenderweise aber um eine defensive Maßnahme.
32) Von diesem Muster wich nur der Peloponnesische Krieg ab. Er endete denn auch mit dem gemeinsamen Niedergang sämtlicher an ihm beteiligten Mächte und ganz Griechenlands und dem Aufstieg Mazedoniens zur Vormacht.
33) Clausewitz’ Kriegstheorie beansprucht universelle Gültigkeit. Realiter fasst sie nur die Charakteristika des durchstaatlichten modernen Krieges. Die dafür aber sehr präzise.
34) Der von Fremdenhass und Gewaltverherrlichung strotzende Text der Marseillaise kündet vom Geist dieser neuen bürgerlichen Zeit.
35) Vom Kriege, S. 62.
36) Von allen Kriegen des 19. Jahrhunderts nimmt am ehesten der Amerikanische Bürgerkrieg die Industrialisierung der Kriegführung vorweg, wofür ein Grund sicherlich in seiner schieren Länge zu suchen ist. Die Kriege nach 1815 waren ansonsten eher von kurzer Dauer.
37) Das Zitat beinhaltet einen Übersetzungsfehler. Bei Heraklit ist gar nicht von Krieg die Rede, sondern ganz allgemein von “Kampf” und “Auseinandersetzung”. Vgl. Wolfgang Schadewaldt, Anfänge der Philosophie, S. 389.
38) Was für den Fahrzeugbau gilt, gilt genauso für die Fabrikation von Flugzeugen, für den Film oder die Nachrichtentechnik.
39) Diesen Zusammenhang hat wohl am klarsten Modis Ekstein in seinem 1989 erschienenen “Rites of Spring” herausgearbeitet. Dieses Werk liegt auch in deutscher Übersetzung vor: Modis Ekstein, Tanz über Gräben – Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg, Hamburg 1990.
40) Zitiert nach Modris Ekstein, Tanz über Gräben, S. 321.
41) Jacques Rivière, zitiert nach Modris Ekstein, a.a.O., S. 266.
42) Brief vom 26.3.1917, zitiert nach Modris Eksteins, S. 263.
43) Ernst Jünger, Der Kampf um das Reich, Essen 1929, Vorwort S. 9.
44) Reste dieser Ursprünge scheinen sich noch recht lange gehalten zu haben. In meiner Schulzeit jedenfalls war ich in der Mittelstufe eines bayrischen Gymnasiums noch Mitte der 70er Jahre mit einem Mathematiklehrer konfrontiert, der bei einschlägigen Prüfungen regelmäßig “anschauliche” Aufgaben aus dem Bereich der Artillerie zu stellen pflegte.
45) Die so genannte friedliche Nutzung der Kernenergie war nie etwas anderes als ein Abfallprodukt der militärischen.
46) Vgl. Robert Kurz, Weltordnungskrieg, Bad Honnef 2003, S.23 f..
47) Zitiert nach Sibylle Tönnies, Pazifismus passé, Hamburg 1997, S. 77.
48) A.a.0., S. 77.
49) Ralph Freedman, Hermann Hesse – Autor der Krise, Frankfurt 1982, S. 221.
50) Zitiert nach Peter Bürger, Ursprung des postmodernen Denkens. S. 26.
51) Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, Frankfurt 1992, S. 34.
52) Götz Eisenberg, Amok-Kinder der Kälte, Hamburg 2000, S. 13.
53) Menschen, die im Kampf bewusst ihr Leben opferten, sind kein ganz neues historisches Phänomen. In der altrömischen Tradition steht dafür die Figur des Devotus. Auch die islamische Sekte der Assassinen schickte im 12. Jahrhundert Krieger in den Kampf, die keinen Gedanken ans Überleben verschwendeten. Die Verknüpfung von Selbst- und Massenmord, die Kombination von höchster Mordeffizienz und Suizid ist dagegen ein ganz neues Phänomen, obwohl die waffentechnischen Voraussetzungen schon lange gegeben sind. Das erste Unternehmen dieser Art datiert auf den November 1982, als ein 17jähriger Islamist das Hauptquartier der israelischen Besatzer im südlibanesischen Tyros attackierte.
54) Christoph Kucklick, Hania Liczak, Christoph Reuter, Selbstmordattentäter – Die Macht der Ohnmächtigen, in Hans Frank, Kai Hirschmann (Hrsg.), Die weltweite Gefahr Terrorismus als internationale Herausforderung, Berlin 2002, S. 264.
55) Wo Staaten “ethnische Säuberungen” zum politischen Ziel erhoben, wurden sie bezeichnenderweise in der Regel erst nach Abschluss der Kampfhandlungen eingeleitet oder unabhängig von ihnen durchgeführt. Man denke in diesem Zusammenhang vor allem an den Vernichtungskrieg des nationalsozialistischen Deutschlands im Osten. In den neuen Kriegen bilden sie das Zentrum militärischer Operationen.
56) Diese Fähigkeit beruht allerdings bekanntlich darauf, dass die US-Administration für ihr Rüstungsprogramm die Weltfinanzmärkte anzapfen kann.
57) Robert S. Robins, Jerrold M. Post, Die Psychologie des Terrors, München 2002, S. 96.
58) Der von William Pierce verfasste Roman “Turner Diaries”, der absolute Renner in der rechtsradikalen amerikanischen Szene kann als Beleg für diese Ausrichtung gelten. Er verschmilzt die Verteidigung des privaten Waffenbesitzes, den Kampf gegen die Regierung und die Ausrottung von Juden und Schwarzen zu einem Gesamtkomplex. “Die Handlung der Turner Diaries ist eine wahnwitzige Triumphphantasie. Sie schildert Amerika, nachdem seit 18 Monaten jeglicher private Waffenbesitz durch den Cohen Act verboten ist. Die Hauptfigur, der arische Held Earl Turner, erzählt, welche Rolle er beim Sturz der US-Regierung in der Großen Revolution der neunziger Jahre gespielt hat. Turner ist Mitglied eines Geheimbundes, der Organisation, deren Ziel es ist, die Macht der Weißen in den Vereinigten Staaten wiederherzustellen und dazu alle Nichtweißen und Juden zu töten. Im Schlussteil des Buches werden Millionen amerikanischer Juden, Schwarzer, Latinos und ,Rassenverräter’ am ,Tag des großen Hängens’ umgebracht.” (A.a.O., S. 277)
59) Der antietatistische Affekt kann in den USA auf eine lange Geschichte zurückblicken. Mord und Totschlag waren westlich des Atlantiks noch nie derart unumschränkt staatliches Privileg wie in Europa oder Ostasien. Das heißt freilich nicht, dass Frankreich, Deutschland oder Japan gegen diese Tendenz immun wären.
60) Natürlich können sich die westlichen Truppen auch aus Bosnien und anderen Krisenregionen, in denen sie sich seit den 90er Jahren unter der Fahne der UNO und des Menschenrechtspaternalismus engagiert haben, nicht ohne weiteres zurückziehen; es ist aber nicht nur aufgrund von legitimatorischen Problemen etwas ganz anderes, in der Funktion des Zwangsschiedsrichters bleiben zu müssen, als den Part einer aktiven Kriegspartei zu spielen.
61) Clausewitz, Vom Kriege, S. 61.
62) Im Zweiten Golfkrieg war es noch darum gegangen, den Irak mit militärischen Mitteln zum Rückzug aus dem besetzten Kuwait zu zwingen. Als Versuch, das Völkerrechtssubjekt Irak, vertreten durch seine Regierung, zu bestimmten Maßnahmen zu nötigen, fügte sich dieses Unternehmen noch in die Tradition zwischenstaatlicher Kriege ein. In der Welt zwischenstaatlicher Kriege gab es durchaus auch die Auslöschung von Völkerrechtssubjekten, nämlich in der Form der Annexion. Der Irakkrieg von 2003 hat aber einen ganz anderen Charakter. Die Abdankung als eigenes Völkerrechtssubjekt via Eingliederung des unterlegenen Staates ist diesmal nicht das Resultat des kriegerischen Aktes, sondern dessen Ausgangspunkt!
63) Hier liegt der prinzipielle Unterschied zum Ende von existierenden Völkerrechtssubjekten in der Welt zwischenstaatlicher Kriege in der Form der Annexion. Die Abdankung als eigenes Völkerrechtssubjekt bezog sich nur auf die Zukunft. Es gehört gerade dagegen zur Legitimationsproduktion für die siegreiche Seite, nach Möglichkeit das bisherige Völkerrechtssubjekt dazu zu bekommen, seine Abdankung selber zu unterschreiben, wodurch umgekehrt sein bisheriger Status anerkannt wurde. Beim Irakkrieg von 2003 ist die Auslöschung des Völkerrechtssubjekts nicht Resultat des kriegerischen Aktes, sie ist vielmehr dessen Ausgangspunkt!