Rot-grüne Reformen
Erschienen in: Jungle World 35/2003
Ernst Lohoff
Kein Tag vergeht, an dem die Politiker, die Unternehmerverbände oder irgendwelche Wirtschaftsexperten nicht mit neuen Vorschlägen zur »Reform des Sozialstaats« aufwarten. So kakophonisch das Stimmengewirr auch anmutet: Wohin die Reise geht, ist völlig klar. Keine der ergriffenen Maßnahmen wird auch nur annähernd halten, was ihre Urheber versprechen. Mit einer dauerhaften Auffüllung der Sozialversicherungskassen ist genauso wenig zu rechnen wie mit einer nennenswerten Senkung der Arbeitslosenziffern. Und doch verändert die sich überschlagende »Reformpolitik« mit einer nie dagewesenen Geschwindigkeit die Republik.
Der Begriff »sozial« erlebt einen grundlegenden Bedeutungswandel. In der Zeit des Rheinischen Kapitalismus stand dieses Adjektiv für ein tief gestaffeltes System gesellschaftlicher Institutionen und für eine Umverteilung, die der Vernichtungskonkurrenz Grenzen setzte. Auch diejenigen, die wegen Arbeitslosigkeit, einer Krankheit oder wegen ihres Alters nicht vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben konnten, sollten von den Früchten der Arbeitsgesellschaft etwas abbekommen.
Sozial heißt heute, diese Ordnung zu demontieren und an die Stelle der indirekten, kollektiven Abhängigkeit vom Markt die unmittelbare Auslieferung an die totale individuelle Konkurrenz zu setzen. »Sozial ist, was Arbeit schafft«, lautet die Zauberformel dieser Umwertung. Arbeit schafft das Kapital, ergo ist alles sozial, was dem Kapital gefallen könnte. Geht es um die Rente, um die Krankenversicherung oder um das Arbeitslosengeld, hat jeder Arbeitskraftverkäufer seiner Fürsorgepflicht gegenüber dem Kapital nachzukommen. Wo Lohnnebenkosten sind, soll »Eigenverantwortung« werden.
Asozial ist, was den Zwang, seine Haut um jeden Preis zu Markte zu tragen, in irgendeiner Weise mildern könnte. Wer den Sozialstaat benötigt, verübt einen Anschlag auf ihn und muss dafür bestraft werden.
Diese Gesellschaft und ihre Arbeitsreligion gründen auf dem Dogma, ein halbwegs komfortables Leben könne nur das Abfallprodukt einer gelingenden kapitalistischen Verwertung sein. Wer diese Ansicht teilt, kann tausendfach die »soziale Schieflage« der gehandelten Konzepte beklagen, nützen wird das wenig. Für die Bedeutungsverkehrung des Wortes »sozial« sind nämlich nicht nur unglückselige politische Kräfteverhältnisse verantwortlich. Wenn die Arbeitskraft zum Auslaufmodell wird, taugt die gemeinsame Abhängigkeit von der Arbeit nicht mehr als Basis sozialer Integration, sondern nur der gemeinsame Kampf gegen den Arbeitszwang.
Die Entwicklung geht auch am linken Soziotop nicht spurlos vorüber. Die linke Szene rekrutiert sich vorzugsweise aus Menschen, die es verstanden haben, ihre persönliche Reproduktion einigermaßen arbeitsarm zu organisieren. Das wird nun zusehends schwieriger. Den Arbeitszumutungen auszuweichen, wird zur Schwerstarbeit. Mit den Nischen, die der Sozialstaat ließ, verschwindet eine der traditionellen Existenzbedingungen der Linken.
Es ist erschreckend, wie wenig Widerstand gegen die sozialen Zumutungen sich rührt. Aber ebenso gelähmt wie der Rest der Gesellschaft zeigt sich die Linke. Behandelt sie weiterhin die Distanz zum Arbeitsidiotismus als Frage des individuellen Gusto und nicht als die zentrale gesellschaftliche Frage, gibt sie sich selber auf.