01.06.2004 

Antipolitik in Zeiten kapitalistischen Amoklaufs

aus: Lohoff, Ernst; Trenkle, Norbert; Wölflingseder Maria; Lewed, Karl-Heinz (Hg): Dead Men Working. Gebrauchsanweisungen zur Arbeits- und Sozialkritik in Zeiten kapitalistischen Amoklaufs, Münster 2004, S.62 – 84

versão em português

Thesen zur neoliberalen Krisenverwaltung und den Perspektiven sozialer Emanzipation

von Norbert Trenkle

1.

Der innere Drang der kapitalistischen Verwertungslogik, alle gesellschaftlichen Beziehungen in Ware-Geld-Beziehungen zu verwandeln, hat von Anfang an Widerstand hervorgerufen. Auch zwanzig Jahre neoliberaler Hegemonie und der Propaganda, es gebe keine Alternative zur bestehenden Gesellschaftsform, konnten diesen Impuls nicht unterdrücken. Zu unerträglich ist die Erfahrung eines Lebens, das den Gesetzen des totalen Marktes und der allgegenwärtigen Konkurrenz unterworfen ist; zu unerträglich die weltweite Spirale der Verelendung, die vom kapitalistischen Krisenprozess in Gang gesetzt wurde.

Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts hat eine Konjunktur sozialer Kämpfe eingesetzt, die neue Perspektiven für den Widerstand gegen die globale Warengesellschaft eröffnen könnte. Doch übertriebener Optimismus ist nicht angebracht. Gemessen an der weltweiten Mobilisierung und Simultaneität des Protests, ob in Bolivien, Argentinien, Frankreich oder Italien, sowie der medialen Präsenz, etwa der Sozialforen und den großen Demonstrationen der globalisierungskritischen Bewegung, ist es vielmehr erstaunlich, wie gering die materiellen Erfolge ausgefallen sind. In Argentinien wurde zwar die Regierung unter der Parole ›Que se vayan todos‹ gestürzt; Optimisten interpretierten das schon als radikalen Bewusstseinswandel, als grundsätzliche Staatskritik und Abschied von der politischen Illusion. Aber schon ein gutes Jahr später verzeichneten die Präsidentschaftswahlen eine erstaunlich hohe Wahlbeteiligung und der neue Präsident Kirchner genießt zumindest vorläufig eine sehr große Popularität, obwohl er im Grunde nur die bisherige neoliberale Politik fortführt. Ihm ist es allerdings gelungen, davon abzulenken, indem er einerseits die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Militärdiktatur spektakulär in den Vordergrund gerückt hat und andererseits mit dem Versprechen hausieren geht, durch eine neo-keynesianische Politik den Binnenmarkt zu entwickeln und die nationale Industrie wieder zu stärken. Dieses Versprechen ist zwar angesichts der Krisenrealität vollkommen haltlos, doch rührt es an der nostalgischen Sehnsucht nach einer verklärten Vergangenheit gewesener ökonomischer Stärke und appelliert an einen verzweifelten Willen, angesichts der Perspektivlosigkeit jedes Märchen zu glauben.

Auch der erzwungene Regierungswechsel in Bolivien hat nur eine Veränderung der Rhetorik und der symbolischen Politik bewirkt. Zwar werden die Erdgasvorkommen (vorerst) nicht zu Schleuderpreisen verkauft, denn an diesem Vorhaben hatte sich der Protest entzündet. Ansonsten aber versucht der neue Präsident Mesa, den Unmut populistisch zu kanalisieren, indem er beispielsweise die nationalistische Karte spielt und die alte Forderung an Chile nach einem Zugang zum Meer neu erhebt, als würden dadurch die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes gelöst. In Frankreich und Italien schließlich sind die zahlreichen Streiks und Demonstrationen gegen den verschärften Sozialabbau praktisch ins Leere gelaufen, obwohl sie durchaus von großen Teilen der Bevölkerung getragen und unterstützt wurden. Mehr als ein paar oberflächliche kosmetische Korrekturen der neoliberalen Politik kamen nicht heraus. Wohl selten fiel das Missverhältnis zwischen Mobilisierung von Protest und den erzielten Ergebnissen krasser aus.

Nun würde es zu kurz greifen, die sozialen Kämpfe bloß an ihren unmittelbaren politischen Erfolgen zu messen. Gerade nach langen Jahren, in denen sozialer Widerstand und Protest wie gelähmt schien, sind die Kampferfahrungen selbst und die damit einhergehenden Effekte der Selbstorganisation und der Solidarisierung (auch und nicht zuletzt auf der Ebene des Alltags) gar nicht hoch genug einzuschätzen. Dass die Individualisierung und die Alltagskonkurrenz in den sozialen Bewegungen durchbrochen wurde, dies allein stellt einen Fortschritt gegenüber den vielen Jahren oppositioneller Windstille dar. Auch gehen die direkten materiellen Erfolge vor allem in Bolivien und Argentinien durchaus über den erzwungenen politischen Führungswechsel hinaus. Die kollektive Aneignung von Existenz- und Produktionsmitteln, die Besetzung von Fabriken, Gebäuden und Ländereien, die Schaffung autonomer Kommunikations- und Kulturzentren, die Bildung von Kooperativen und Netzwerken der Selbsthilfe, all dies hat nicht nur den Alltag der Beteiligten grundlegend verändert, sondern auch eine Basis für die Mobilisierung des Widerstands und für die Fortsetzung der Kämpfe auf neuem Niveau geschaffen.

Wie sich jedoch die sozialen Auseinandersetzungen der näheren Zukunft entwickeln, ob sie tatsächlich eine neue emanzipatorische Qualität gewinnen, steht keinesfalls schon fest. Dies hängt nicht zuletzt davon ab, wie die offensichtliche Wirkungslosigkeit der bisherigen Kämpfe auf politischer Ebene reflektiert wird und welche Konsequenzen daraus folgen. Die Einsicht, dass die klassischen Emanzipationskonzepte, die immer auf die Übernahme der Staatsmacht in der ein oder anderen Form zielten, obsolet geworden sind, hat sich zwar bis zu einem bestimmten Grad durchgesetzt. In gewisser Weise könnte man sogar von einer teils spontanen, teils bewussten antipolitischen Tendenz sprechen. Doch diese Tendenz ist in sich gebrochen; das Verhältnis zu Politik und Staat bleibt auch bei Bewegungen, die nicht nach den Hebeln der politischen Macht streben, äußerst schillernd. Die Vorstellung, bei veränderten gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen sei auch wieder eine ›andere Politik‹ möglich, hält sich hartnäckig, obwohl niemand so recht anzugeben weiß, worin diese dann eigentlich bestünde. Daher auch die starke Empfänglichkeit für einen Populismus, der in der Simulation einer solchen Politik besteht, nachdem diese ihre reale Grundlage eingebüßt hat. Dieses Gespenst der politischen Illusion verstellt jedoch den Blick auf eine Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation, die nur in der Aufhebung der kapitalistischen Zwangsformen von Arbeit, Geld, Markt und Staat bestehen kann.

 

2.

Der positive Bezug auf die Politik von Seiten sozialer Protestbewegungen und insbesondere der Linken ist ein historisches Produkt der Aufstiegs- und Durchsetzungsgeschichte der modernen warenproduzierenden Gesellschaft. Nachdem der Staat in der frühen Neuzeit eine zentrale Rolle bei der Installation des Kapitalismus spielte, indem er die Monetarisierung der Gesellschaft vorantrieb, den territorial und juristisch abgesicherten Raum für den Warenverkehr schuf und die Menschen für ihr Funktionieren als Arbeits- und Marktsubjekte gewaltsam zurichtete, übernahm er später zunehmend die Aufgabe, die allgemeinen Rahmenbedingungen der Kapitalverwertung abzusichern und zu garantieren. Damit stellte er zugleich auch eine Instanz dar, die dem ungezügelten Spiel der Marktkräfte gewisse Beschränkungen auferlegte und geriet insofern auch zum Adressaten sozialer Forderungen. Aber natürlich war der Staat nie eine außerkapitalistische Instanz, sondern als anderer Pol des Marktes vielmehr Existenzbedingung einer verallgemeinerten Warengesellschaft. Er war niemals dazu in der Lage, die Gesetze der Warenproduktion als solche auszuhebeln oder außer Kraft zu setzen, sondern konnte sie stets nur bis zu einem gewissen Grad regulieren und in bestimmte Bahnen lenken. Ohne diese staatliche Regulation hätte sich der Kapitalismus niemals als umfassendes gesellschaftliches System etablieren können, denn aus der ihm inhärenten Dynamik der Konkurrenz tendiert er dazu, sich selbst und die sozialen und natürlichen Grundlagen des menschlichen Lebens zu zerstören. Die Fähigkeit von Staat und Politik zur Regulation und Begrenzung der Marktlogik war allerdings an ganz spezifische historische Bedingungen gebunden, die von der dritten industriellen Revolution hinweggefegt worden sind. Der auf der Mikroelektronik basierende Quantensprung in der Produktivkraftentwicklung hat zum einen die Grenzen der Nationalökonomien unwiderruflich gesprengt und die Transnationalisierung der Produktions-, Organisationsund Vermarktungsstrukturen des Kapitals vorangetrieben. Damit kulminiert der dem kapitalistischen Expansions- und Wachstumszwang inhärente Prozess der Herstellung des Weltmarkts als Raum einer weitgehend ungehinderten Warenproduktion und -zirkulation. Zum anderen führt die enorme Produktivkraftsteigerung zu einer tiefgreifenden betriebswirtschaftlichen Rationalisierung und Automatisierung in den Kernsektoren der Kapitalverwertung und damit zu einer massiven Verdrängung lebendiger Arbeitskraft. Da aber der einzige Zweck des Kapitalismus darin besteht, aus Wert (dargestellt in Geld) mehr Wert zu machen, und der Inhalt dieser fetischistischen Kategorie die ›abstrakte Arbeit‹ ist, setzt der Verdrängungsprozess lebendiger Arbeitskraft einen grundlegenden Krisenprozess in Gang, der die Grundlagen der kapitalistischen Vergesellschaftung untergräbt.

Diese Krise, in der die inneren Widersprüche des Kapitalismus historisch kulminieren, ist freilich nicht als einmaliger ›Crash‹ oder ›Zusammenbruch‹ zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um einen lang andauernden Prozess, der bereits vor rund drei Jahrzehnten begonnen hat und sich noch über viele Jahrzehnte hinziehen wird. Er stellt sich dar als eine Abwärtsspirale der Zerstörung und Vernichtung der sozialen und natürlichen Lebensgrundlagen, die nur von einer transnationalen Emanzipationsbewegung gestoppt werden kann, indem sie den Bruch mit dem menschenfresserischen System der modernen Warenproduktion vollzieht. Paradoxerweise fällt der Beginn dieses fundamentalen kapitalistischen Krisenprozesses historisch mit der endgültigen Herstellung des Weltmarkts und damit mit der globalen Durchsetzung der Warengesellschaft als alles beherrschende gesellschaftliche Form zusammen. Die kapitalistische Form ist universell geworden, ihr einziger Inhalt jedoch, die Arbeitssubstanz, wird gleichzeitig abgeschmolzen. Es ist gerade dieses Paradoxon einer allgemeinen Form, die ihren Inhalt zerstört, das der Krise ihre brutale Zerstörungskraft und ihre spezifische Verlaufsform verleiht. Auf der einen Seite wurden alle nicht-kapitalistischen Formen sozialer und materieller Reproduktion fast vollständig vernichtet, weshalb im Prinzip alle Menschen weltweit dazu gezwungen sind, ihre Haut in irgendeiner Weise auf dem Markt zu verkaufen, wenn sie überleben wollen. Auf der anderen Seite jedoch sind sie größtenteils für den Kapitalismus überflüssig, weil ihre Arbeitskraft für die Verwertung nicht benötigt wird. In der Konsequenz steigt der Druck auf diejenigen, die noch in die Verwertungsketten integriert sind, immer härter und immer länger zu arbeiten, während gleichzeitig ein zunehmend größerer Teil der Weltbevölkerung ausgeschlossen und marginalisiert wird. Ausdruck davon ist eine beschleunigte Ausbreitung der Armutsarbeit auf absolutem Elendsniveau und ein immer schneller wachsender ›informeller Sektor‹, der keine grundsätzlich andere Qualität besitzt als der ›formelle‹ Sektor, sondern nur die krisenhafte Gestalt repräsentiert, in der der Kapitalismus für die übergroße Mehrheit der Menschheit Wirklichkeit wird.[1]

3.

Da es sich bei dem aktuellen Krisenprozess nicht nur um eine zyklische ökonomische Krise oder um einen vorübergehenden Strukturwandel innerhalb der kapitalistischen Entwicklungsgeschichte handelt, sondern um einen ganz grundlegenden Bruch auf der Ebene der gesellschaftlichen Basisform, versagen alle politischen Versuche einer Krisenbewältigung schon im Ansatz. Denn Politik ist als die der warenproduzierenden Gesellschaft zugehörige, historisch-spezifische Form allgemeingesellschaftlichen Handelns auch auf ganz bestimmte strukturelle Bedingungen angewiesen, insbesondere auf den institutionellen Rahmen des Nationalstaats (zwar gibt es auch internationale Politik, aber diese betrifft, worauf der Begriff schon verweist, die mehr oder weniger gewaltsame und hierarchische Regelung der Beziehungen zwischen Nationalstaaten). Da nun aber der Krisenprozess zusammen mit den Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft auch die Existenzbedingungen des Nationalstaats untergräbt, zerbricht der Bezugsrahmen von Politik, die dadurch in zunehmendem Maße entmachtet wird.

Wie weit die Zersetzung des Staates und die damit verbundene Entmachtung der Politik fortgeschritten ist, hängt freilich in starkem Maße von der Position eines Landes in der Weltmarkthierarchie ab. Während in den besonders von der Krise heimgesuchten Katastrophengebieten der Welt, in großen Teilen Afrikas und Asiens sowie in bestimmten Regionen Osteuropas und Lateinamerikas, der Staat bereits zu einer leeren Hülle geworden ist, innerhalb derer sich konkurrierende Banden um die Restbestände des gesellschaftlichen Reichtums streiten, wachsen solche Tendenzen in den westlichen Ländern erst unter der Oberfläche einer noch weitgehend stabilen Staatlichkeit heran. Symptomatisch dafür ist die zunehmende Verquickung der Staatsapparate mit der organisierten Kriminalität und eine Verschärfung der regionalen sozial-ökonomischen Polarisierung, die häufig ethnizistisch aufgeladen wird und den Ansatz eines staatlichen Zerfalls darstellt. Ökonomisch werden die scheinbar starken Staaten von zwei Seiten her in die Zange genommen. Zum einen schrumpft mit dem Abschmelzen der Arbeitssubstanz die Wertmasse, welche die Staaten durch Steuern und Abgaben abschöpfen können, um ihre Aktivitäten zu finanzieren. Darüber hinaus fällt es den Unternehmen im Zuge der Transnationalisierung immer leichter, sich der Kontrolle durch die Staaten zu entziehen, wie sie unter den Bedingungen einigermaßen kohärenter Nationalökonomien noch ansatzweise möglich war. Stattdessen geraten die Staaten selbst in eine zunehmende Abhängigkeit vom Kapital und müssen alles dafür tun, um es zur Ansiedlung auf ihrem Territorium zu bewegen. Diese absurde ›Standortkonkurrenz‹ wird nicht nur zwischen den Staaten, sondern auch zwischen Regionen und Städten immer härter ausgefochten. Die Folge ist eine fortschreitende Handlungs- und Manövrierunfähigkeit der Politik, die immer weniger dazu in der Lage ist, regulierend in die Marktbeziehungen einzugreifen, und ihrerseits zu einer abhängigen Variable der Weltmarktbewegungen degradiert wird.

Die Entmachtung des Staates gegenüber dem selbstläufigen Prozess der kapitalistischen Krise wird vielfach so erklärt, als sei sie das Ergebnis einer bestimmten politischen Strategie oder Richtungsentscheidung, die auf den Namen des Neoliberalismus hört und von mächtigen Interessengruppen durchgesetzt wurde. Diese Sichtweise, wie man sie vor allem im Umfeld des Neo-Keynesianismus und des alten Klassenkampf-Marxismus findet, erfüllt eigentlich nur den ideologischen Zweck, den alten Glauben an die politische Machbarkeit – oder anders gesagt: an das Primat der Politik – aufrechtzuerhalten. Demnach komme es eigentlich nur darauf an, eine soziale Gegenmacht aufzubauen, um dann unter veränderten gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen eine ›andere Politik‹ durchzusetzen.

Diese politizistische Sichtweise verschleiert die Dramatik der ablaufenden Entwicklung und verstellt deshalb den Blick für eine notwendige Neuorientierung der emanzipatorischen Bewegungen. Dennoch besitzt sie insofern einen realen Kern, als sie – wenn auch verzerrt – auf die subjektive Handlungsdimension im Krisenprozess verweist. Der blinde historische Entwicklungsverlauf der Selbstzerstörung des Kapitalismus setzt sich in seinen Konsequenzen nicht einfach automatisch und unmittelbar in allen gesellschaftlichen Strukturen und Bereiche durch, sondern muss über gesellschaftliche und politische Handlungen und Entscheidungen sowie über die Veränderung der ideologischen Wahrnehmungsmuster vermittelt werden. In diesem Vermittlungsprozess kommt der Politik noch einmal eine wichtige Rolle zu; doch die besteht nicht mehr in der Regulierung sozial-ökonomischer Prozesse, sondern nur noch in der unwiderruflichen Zerstörung ihres ureigensten Bezugsfeldes. Die viel gerühmte ›Wiedererlangung der Handlungsfähigkeit‹, über die alle neoliberalen Ideologen schwadronieren, wenn sie die ›Lähmung der Politik‹ durch den Sozialstaat und die Bürokratie beklagen, besteht in nichts anderem als in einem einzigen Abrissunternehmen (sozial)staatlicher Strukturen. Ist es abgeschlossen, hat die Politik sich selbst den Boden unter den Füßen entzogen. Was dann noch von ihr übrig bleibt, ist allenfalls eine Fassade von Postpolitik, hinter der die Verwilderung und der Zerfall der gesellschaftlichen Beziehungen voranschreitet.

Eine solche rein destruktive ›Politik‹ der Selbstabwicklung hätte sich freilich niemals flächendeckend im Weltmaßstab durchsetzen können, wäre sie bloß das Instrument mächtiger Kapitalinteressen. Vielmehr erklärt sie sich nur als spezifische Verarbeitungsform des objektiven Drucks, den der Globalisierungs- und Krisenprozess ausübt. Erst das Ende des Fordismus, das Aufsprengen der relativen Kohärenz von Nationalstaat und Nationalökonomie und die Verschärfung der Weltmarktkonkurrenz (die u.a. die Grundlagen der binnenmarktorientierten Entwicklungsmodelle der Dritten Welt und des staatskapitalistischen ›Realsozialismus‹ vernichtete) schuf den Boden, auf dem der Neoliberalismus seine Hegemonie erringen konnte. Seine ›politischen Konzepte‹ bestehen allerdings nur darin, die vom Krisenprozess erzwungene Entsicherung der Konkurrenz ›bewusst‹ zu exekutieren und alle Barrieren beiseite zu räumen, die ihr noch im Weg stehen könnten. Dazu gehört beispielsweise das Niederreißen von Handelsschranken (Zöllen, Einfuhrbeschränkungen etc.), die Privatisierung der Infrastruktur, der Kahlschlag der Sozialsysteme, die Deregulierung des Arbeitsmarktes und dergleichen mehr.

Solche Maßnahmen sind natürlich immer umstritten und umkämpft und müssen gegen mehr oder weniger harte Widerstände notfalls auch gewaltsam durchgesetzt werden. Dafür wiederum bedarf es einer politischen Personage, die nicht davor zurückschreckt, das schmutzige Geschäft zu erledigen: so etwa der Militärjunta in Chile, die mit ihrem Putsch gegen die sozialistische Regierung 1973 den Weg für das erste neoliberale ›Experiment‹ öffnete, oder einer Margaret Thatcher, der es

u.a. gelang, die Macht der britischen Gewerkschaftsbewegung zu brechen – um nur zwei Beispiele nennen. Auf globaler Ebene spielen darüber hinaus natürlich auch Institutionen wie der IWF und die Weltbank mit ihren berüchtigten ›Strukturanpassungsprogrammen‹ zur Öffnung der Märkte, der Privatisierung und der Streichung von Sozialleistungen eine wichtige Rolle.

Nicht, dass der Neoliberalismus eine klare Vorstellung über die selbstläufigen ökonomischen Basisprozesse besitzen würde. Vielmehr ist er Ideologie ganz im Sinne des Marxschen Diktums: notwendig falsches Bewusstsein. Als solches jedoch erfüllt er durchaus eine handlungsleitende Funktion für die kapitalistische Krisenverwaltung. Im Grunde handelt es sich um ein höchst primitives Gedankengebäude, das nicht einmal den simpelsten Maßstäben der bürgerlich-positivistischen Wissenschaft genügt. Schon in den 1960er Jahren bemerkte Hans Albert, einer der führenden Köpfe des modernen Positivismus, dass die neoklassische Volkswirtschaftslehre (die ›theoretische‹ Grundlage des Neoliberalismus) im Grunde puren »Modellplatonismus« betreibe, der nichts über die empirische Wirklichkeit aussage. Man könnte aber auch von einem geschlossenen Wahnsystem sprechen, das gerade als solches dem wahnsinnigen Amoklauf kapitalistischer Selbstzerstörung entspricht. Funktional für die Krisenverwaltung ist der Neoliberalismus paradoxerweise, weil er den Krisenprozess verschleiert und die Realität konsequent ausblendet, also theoretisch nichtet. Genau das prädestiniert ihn zur Basisideologie einer Epoche, in der die entfesselte, selbstläufige Dynamik des Kapitalismus nur noch eine Richtung kennt: die Vernichtung der Welt.

 

4.

Den neoliberalen Ideologen zufolge resultieren die strukturellen Probleme des Kapitalismus bekanntlich immer nur daraus, dass der Staat gegenüber dem Markt zu viel Einfluss habe und die angeblich heilsame Wirkung der freien Konkurrenz durch allerlei Regularien – insbesondere natürlich die Rechte von Lohnabhängigen und ökologische Mindeststandards – behindert werde. Befolge daher die Gesellschaft das Rezept der Zurückdrängung des Staates und der Entfesselung der Marktkräfte nur konsequent, leite das angeblich eine neue Wunderära von Wachstum, Wohlstand und Massenarbeit ein. Einmal abgesehen davon, dass das Versprechen, alle menschlichen Regungen restlos in solche von Ware und Geld zu verwandeln, einer veritablen Drohung und Horrorvorstellung gleichkommt, muss festgestellt werden, dass sich der Neoliberalismus – selbst noch gemessen an seinen eigenen Maßstäben – auf ganzer Linie blamiert hat. Sogar in dem primitiven Sinne eines Auseinanderfallens von Anspruch und Wirklichkeit handelt es sich also um pure Ideologie. Seine angeblichen ökonomischen ›Erfolge‹ (Wirtschaftswachstum, Schaffung neuer Arbeitsplätze etc.) sind nichts als Schwindel. Erstens konzentrieren sie sich auf einige Kernregionen des Weltmarkts und auch dort auf immer kleinere Segmente des Territoriums und der Bevölkerung, während auf der anderen Seite immer größere Teile der Welt für die Kapitalverwertung faktisch überflüssig geworden sind; von den Waren- und Geldströmen praktisch abgeschnitten, werden sie in eine Abwärtsspirale der Verelendung gestürzt. Zweitens sind selbst in den vorläufig vom Krisenprozess nicht ganz so stark betroffenen Regionen und gesellschaftlichen Segmenten die marktwirtschaftlichen ›Erfolge‹ nicht etwa das Ergebnis einer freien Entfaltung der Marktkräfte und eines Rückzugs des Staates aus der Ökonomie. Sie resultieren keinesfalls aus einer Umsetzung der reinen Lehre des Neoliberalismus, sondern sind in Wirklichkeit das Ergebnis permanenter mega-keynesianischer Staatsinterventionen in die wirtschaftlichen Kreisläufe. Die staatlichen Ausgaben wurden im Verlaufe der 80er und 90er Jahre in den Ländern, die noch in nennenswertem Ausmaß am Weltmarkt partizipieren, nicht zurückgefahren, sondern im Gegenteil sogar noch gesteigert, oder sind zumindest im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt gleich geblieben. Das gilt gerade auch für die Kernländer des Neoliberalismus, die USA und Großbritannien. In beiden Ländern liegt die so genannte Staatsquote (der Anteil des Staates an der gesamten Wirtschaftsleistung) heute praktisch ebenso hoch wie in den 1970er Jahren, und dies obwohl in der Zwischenzeit der größte Teil der Infrastruktur privatisiert wurde und von den Sozialsystemen nur mehr einige Ruinen übrig geblieben sind.

Hinter diesem quantitativ gleich bleibenden Staatsanteil an der Ökonomie verbirgt sich allerdings ein qualitativ entscheidender Strukturbruch gegenüber der Nachkriegsära des Fordismus, der für den Verlauf des kapitalistischen Krisenprozesses und seine politische Verwaltung charakteristisch ist. Dazu gehört zunächst, dass die Ausgaben des Staates in wachsendem Maße über Kredite finanziert werden. Auch dies ist das glatte Gegenteil dessen, was der Neoliberalismus propagiert. Als Ziel wurde stets ein ausgeglichener Haushalt gefordert und der fordistische Interventionsstaat wegen seiner Verschuldung kritisiert, die aber im Vergleich zum heutigen Stand gerade mal die berühmten Peanuts ausmachte (1975 betrug die gesamte aufaddierte und damals schon skandalierte Staatsverschuldung der USA rund 540 Milliarden Dollar; dagegen hat die US-Regierung allein im Jahr 2003 ein Haushaltsdefizit in fast der gleichen Höhe produziert). Der strukturelle ökonomische Grund dieser Entwicklung ist schlicht die stockende Akkumulation des Kapitals, die aufgrund der fortschreitenden Untergrabung der Arbeits- und Wertsubstanz nicht mehr auf realökonomischer Grundlage in Gang kommen kann und deshalb mit staatlichen und privaten Krediten und einer ungeheuren Aufblähung der Börsenspekulation künstlich angeheizt werden muss.[2]

 

Diese Kredite werden aber nicht oder nur sehr partiell für den Ausbau der allgemeinen Infrastruktur oder anderer allgemeingesellschaftlicher Aufgaben verwendet, sondern dienen im Grunde nur noch dem blanken Systemerhalt gegen die Schwerkraft des Krisenprozesses. Es wird Liquidität in die Finanzmärkte gepumpt, damit die kapitalistische Akkumulation nicht zum Erliegen kommt. Dafür türmen sich die Schulden und ungedeckten Spekulationswerte zu gigantischen Gebirgen auf, die natürlich früher oder später in sich zusammenkrachen müssen – mit katastrophalen sozial-ökonomischen Folgen. Ganz besonders krass zeigt sich dies in peripheren Staaten, wie beispielsweise Argentinien, wo die Kreditaufnahme in den gesamten 1990er Jahren volkswirtschaftlich gesehen eigentlich nur den einen Zweck erfüllte, die Währung zu stützen, um auf diese Weise für den Zufluss von Finanzkapital attraktiv zu bleiben. Diese zirkuläre Logik der Finanzmarktteilnahme (ständig steigende Kreditaufnahme, um kreditwürdig zu bleiben) bescherte dem Land unter ungeheuren Kosten eine äußerst kurze Boomphase und schürte in Teilen der Bevölkerung die Illusion, bald den Anschluss an die ›Erste Welt‹ zu erreichen. Tatsächlich jedoch stiegen die Schulden gerade in dieser ultra-neoliberalen Phase exponentiell an, während gleichzeitig die Infrastruktur und die staatlichen Unternehmen zu Schleuderpreisen verscherbelt wurden. Das staatliche Personal, das in der fordistischen Nachkriegsära für Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der öffentlichen Versorgung zuständig war, mutierte zum Plünderungskollektiv, das die gesellschaftliche Substanz am Weltmarkt verramschte, um sich selbst zu bereichern und nebenbei noch einmal ein kurzes Strohfeuer der Kapitalverwertung zu entfachen – bevor der umso heftigere Absturz kam.

Eine ganz ähnliche Entwicklung bricht sich derzeit in den kapitalistischen Kernländern Bahn. Um die kapitalistische Form aufrechtzuerhalten und einen schrumpfenden Kern der Kapitalverwertung zu sichern, werden keine Kosten gescheut und der Bevölkerung immer größere Opfer abverlangt. Sozialleistungen und allgemeine Infrastruktur erscheinen vom Standpunkt der ›Standortkonkurrenz‹ bloß noch als Ballast, der abzuwerfen ist. Gleichzeitig soll die Privatisierung des öffentlichen Sektors neue Anlagesphären für das Kapital erschließen; doch die sind nur solange privatwirtschaftlich profitabel, wie die dort in der Vergangenheit aufgehäufte Substanz, etwa in der Gestalt von Kliniken, Eisenbahnnetz oder Wasserleitungen, ausgeplündert und aufgebraucht werden kann. Immer rücksichtsloser wird so der gesellschaftliche Reichtum in den Ofen der Verwertung geworfen, um ihn noch einmal kurzfristig anzuheizen, während gleichzeitig immer größere Teile der Bevölkerung von öffentlichen Versorgungsleistungen (Gesundheit, Transport, sauberes Wasser etc.) ausgeschlossen und in die Armut gedrängt werden.[3] Im Prinzip ist diese Entwicklung die gleiche in allen Teilen der Welt: Der Kapitalismus frisst seine eigene historisch produzierte gesellschaftliche Substanz auf und mutiert damit zu einem System globaler Plünderungsökonomie. Prinzipiell ist es kein Unterschied, ob beispielsweise in Großbritannien das Bahnnetz an Privatfirmen verscherbelt wird, die es in wenigen Jahren verschleißen und auf den Stand eines Dritte Welt Landes herunterfahren, um sich ihre Profite zu sichern, oder ob ein afrikanischer Warlord sich die Koltanminen unter den Nagel reißt, um das Metall auf den Weltmarkt zu werfen. Nur die Methoden sind in Großbritannien etwas ziviler und der Zersetzungsgrad des Staates noch nicht soweit vorangeschritten, wie im ehemaligen Zaire. Grundsätzlich haben wir es jedoch mit einem einheitlichen Trend in der gesamten Welt zu tun, mit einer Abwärtsspirale der Vernichtung und des systemischen Autokannibalismus. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Weltgegenden resultieren grundsätzlich nur daraus, dass die Substanz die verzehrt werden kann in den kapitalistischen Metropolen sehr viel größer ist als in einem peripheren Land, das nur auf eine kurze Geschichte kapitalistischer und nationalstaatlicher Entwicklung zurückblickt. Darüber hinaus spielt natürlich auch das politische und militärische Machtgefälle eine Rolle, das es den mächtigeren Staaten erlaubt, einen Teil ihrer Krisenkosten zeitweise auf andere schwächere Länder und Regionen abzuwälzen.

Im Einzelnen sind diese Unterschiede zwischen den verschiedenen Weltregionen (oder auch innerhalb dieser Regionen) alles andere als nebensächlich, weil sie über Leben und Tod entscheiden können; auch die Bedingungen für die Formierung sozialen Widerstands sind selbstverständlich andere, je nachdem, ob man es mit einem noch halbwegs funktionierenden Staatsapparat zu tun hat oder sich gegen marodierende Banden zur Wehr setzen muss. Die Übergänge allerdings sind fließend, weil überall auf der Welt die (ohnehin immer schon durchlässigen) Grenzen zwischen organisierter Kriminalität und Politik, zwischen Bandenwesen und privaten Sicherheitsdiensten immer weiter aufweichen.[4] Der Staat büßt auf diese Weise den Allgemeinheitscharakter ein, den er bis zu einem gewissen Grad in den kapitalistischen Kernländern (und nur dort) besessen hat, und mutiert zu einem Akteur der allgemeinen Plünderungsökonomie.

5.

Die politisch vermittelte Durchsetzung der vom kapitalistischen Krisenprozess geforderten Opfer und Zumutungen wäre ohne eine massive ideologische Flankierung kaum möglich gewesen. Denn auch die kapitalistische Krisenverwaltung kann auf eine öffentliche Legitimierung ihres Handelns nicht ganz verzichten. Doch die Entfesselung der Vernichtungskonkurrenz, der Übergang zur Plünderungsökonomie und der massenhafte soziale Ausschluss, lässt sich nicht länger mit dem Versprechen allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritts begründen, wie es für den größten Teil des 20. Jahrhunderts prägend war. An seine Stelle musste die neoliberale Ideologie der individuellen Verantwortung und Leistung treten.

 

Dieses ideologische Motiv hat zunächst den großen ›Vorteil‹, dass es sich hervorragend dafür eignet, die durchschlagende destruktive Wucht des ablaufenden Krisenprozesses zu verdrängen und unsichtbar zu machen, indem die Herausgefallenen für ihr Schicksal selbst verantwortlich gemacht werden; sie haben sich eben nicht genug angestrengt, waren faul oder können sich nicht richtig verkaufen. Diese Zuschreibung findet dabei nicht nur auf der Ebene der Individuen, sondern auch auf der von Institutionen und Staaten statt. Gerät ein Staat in die Krise, so werden dafür regelmäßig die Ursachen nicht etwa in der Weltmarktkonkurrenz gesucht, die aus ihrer inneren Logik heraus Opfer produziert, sondern in einer falschen Politik, der Korruption, einer mangelnden Leistungsbereitschaft der Bevölkerung und dergleichen mehr. Rational betrachtet, ist es zwar vollkommen lächerlich anzunehmen, dass rund 80 Prozent der Menschen auf der Welt nur deshalb im Elend leben, weil sie sich nicht genug ins Zeug gelegt haben oder von unfähigen und korrupten Politikern regiert werden; oder gar, dass es nur einer demokratischen Regierung und einer Öffnung der Märkte bedürfe, um ihnen den Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum zu erschließen. Aber der Wille, an solche Märchen zu glauben, ist groß. Da seine Triebkraft nicht rational, sondern ein unbändiger Wunsch der Verdrängung ist, lässt er sich durch Argumente und die Evidenz empirischer Entwicklungen nur schwer erschüttern. Verdrängen wollen die vorläufigen Krisengewinnler und noch nicht abgestürzten Bevölkerungssegmente nicht nur das stetig anwachsende Massenelend in der Welt und ihr damit verbundenes schlechtes Gewissen, sondern vor allem auch die Ahnung, dass sie selbst nur ein paar Schritte vom Abgrund entfernt sind und ihm ständig bedrohlich näher kommen.

Die Individualisierung der ›Verantwortung‹ für das eigene Schicksal hat der Neoliberalismus natürlich nicht erfunden. Sie stellt eine Basisideologie der modernen Warengesellschaft dar und ist zugleich ein ganz wesentliches Strukturelement der für sie charakteristischen Herrschaftsform. Darin reflektiert sich die Verwandlung der Menschen in Ware-Geld-Subjekte, die allesamt dem Zwangsprinzip des Werts unterworfen sind und sich tagtäglich in der Konkurrenz behaupten müssen. Dies ist der strukturelle Grund, weshalb kapitalistische Herrschaft ein gegenüber anderen, historisch vorgängigen Herrschaftsformen grundsätzlich viel höheres Maß an individueller Selbstbeherrschung und -disziplinierung abverlangt, die nichts anderes darstellt, als die individuelle Verinnerlichung der versachlichten Herrschaftsnormen; die Menschen müssen sich selbst unterwerfen und zum Objekt machen, zu einer verkäuflichen Sache.

Dieses Moment der permanenten Selbstunterwerfung (das beispielsweise Foucault in seinen Studien zur Disziplinargesellschaft und zur Gouvernementalität historisch untersucht und beschrieben hat) gewinnt im kapitalistischen Krisenprozess ein verstärktes Gewicht. Es ist nicht nur Funktionsbedingung für den zunehmend deregulierten Arbeitsmarkt und sorgt für die Bereitschaft, sich immer schlechteren und anstrengenderen Arbeitsbedingungen zu unterwerfen und möglichst viel Leistung aus sich herauszupressen. Zugleich und vor allem erlaubt es, den Verelendungs- und Ausschlussprozess relativ reibungslos zu organisieren und den Widerstand zu minimieren. Insofern sind der Kahlschlag der sozialen Sicherungssysteme, die Privatisierung des öffentlichen Sektors und die Entfesselung der Konkurrenz nicht nur Ausdruck des Übergangs zur globalen Plünderungsökonomie, sondern stellen zugleich auch ungeheure Disziplinierungsmaßnahmen dar, die diesen Prozess flankieren. Die Methode ist im Grunde sehr simpel: Halte die Menschen immer auf Trab, gönne ihnen keine Ruhepause, und sie werden die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht angreifen. Und wer würde dies besser schaffen als der totale Markt mit seiner brutalen Konkurrenz? In der Ära des Fordismus wurde dem Sozialstaat von linken Kritikern vorgeworfen, er diene der Ruhigstellung der Massen, kontrolliere sie mit seiner Bürokratie und speise sie mit Brotkrumen ab, um sie davon abzuhalten, die ganze Bäckerei zu fordern. Nicht zu Unrecht. Doch in der fundamentalen kapitalistischen Krise wird diese Kontroll- und Disziplinierungsmethode prekär, ja sogar dysfunktional. Denn es erfordert nicht nur einen immer höheren finanziellen und bürokratischen Aufwand, die wachsende Zahl derjenigen, die vom regulären Verwertungsprozess ausgespuckt werden, zu alimentieren. Vor allem gehen die Druckmittel verloren. So war es ja beispielsweise bei faktisch sechs bis sieben Millionen Arbeitslosen in der Bundesrepublik lange Zeit mit ein wenig Geschick durchaus möglich, sich dem Arbeitszwang zu entziehen und zumindest teilweise von Sozialleistungen zu leben. Doch diese fordistischen Hintertürchen des Arbeitszwangs werden nun systematisch verriegelt.

Wenn die neoliberalen Agitatoren die ›Ineffizienz‹ der Arbeits(losen)verwaltung in der Bundesrepublik anprangern (und sich dabei höchst populistisch den verbreiteten Affekt gegen die angeblich faulen Beamten zunutze machen), dann ist das ein Frontalangriff auf den aus kapitalistischer Sicht obsolet gewordenen gesellschaftlichen Integrationsanspruch, der in den sozialstaatlichen Institutionen den Fordismus noch lange überlebt hat. Zwar sind schon seit Ende der 80er Jahre die Leistungsansprüche kontinuierlich gekürzt und die Druckmittel verschärft worden, doch in den letzten zwei Jahren hat ein Kurswechsel stattgefunden, der einen qualitativen Einschnitt darstellt. Es geht jetzt schlicht und einfach nur noch darum, möglichst viele Menschen aus der Statistik und aus dem Leistungsbezug herauszudrängen. Damit mutiert die staatliche Arbeitsverwaltung von der Integrationsinstanz zu einem Protagonisten der Selektion und des gesellschaftlichen Ausschlusses – und dies durchaus ›erfolgreich‹ in ihrem eigenen Sinne.

6.

Nach über zwanzig Jahren seines Wütens auf dem Planeten hat der Neoliberalismus viel von seiner ideologischen Glaubwürdigkeit eingebüßt. Auch konnten seine inneren Widersprüche nicht völlig unbemerkt bleiben. Daher war es nicht überraschend, dass seine propagandistischen Parolen inzwischen etwas entschärft und durch eine neue Rhetorik des ›Sozialen‹ und des ›aktivierenden Staates‹ flankiert wurden. Insbesondere in den westeuropäischen Ländern, in denen noch relativ große Restbestände der fordistischen Sozialsysteme und eine vergleichsweise gut ausgebaute öffentliche Infrastruktur überlebt haben, war dieser rhetorische Kurswechsel sogar die entscheidende Voraussetzung dafür, im Eiltempo nachzuholen, was in den Kernländern des Neoliberalismus und an der Weltmarktperipherie längst durchgesetzt worden ist. Das ›Soziale‹ erfährt in diesem Zusammenhang einen ganz grundlegenden Bedeutungswechsel. An die Stelle der Befriedung durch den fordistischen Sozialstaat tritt ein Polizei-, Sicherheits- und Gefängniskomplex, der die quasi-automatische Dauerdisziplinierung durch den deregulierten Arbeitsmarkt flankiert. Von den staatlichen Sozialsystemen bleibt nur ein Restbestand übrig, der erstens dazu dient, die für die Standortkonkurrenz ›unbrauchbaren‹ Teile der Arbeitsbevölkerung auszusortieren und die ›brauchbaren‹ prekär abzusichern. Zweitens soll er zugleich aus legitimatorischen Gründen so etwas wie ›soziale Gerechtigkeit‹ simulieren, damit sich auch die Mittelschichten des sozialdemokratischen und grünen Wählerpotentials wider besseren Wissens einreden können, es finde gar kein Ausschluss statt, sondern jeder erhalte seine ›Chance‹. Die Sorge um ihr gutes Gewissen stand für dieses Klientel ja ohnehin immer im Mittelpunkt, schon als es in den 70er und 80er Jahren noch für die sandinistische Befreiungsbewegung spendete oder mit dem Gefühl moralischer Erhebung den Jute-statt-Plastik-Beutel durch die Gegend trug. Nun, wo die Zeiten härter werden und der eigene Status bedroht ist, kommt das sozialdarwinistische Urgestein der bürgerlichen Ethik wieder zum Vorschein, wonach nur wer arbeite (oder zumindest arbeiten wolle) ein Existenzrecht habe. Dazu gehört auch, dass die notdürftige Auffanglinie, die für die absolut Verarmten geschaffen wird, rein karitativen Charakter hat, also nicht mehr (oder immer weniger) auf einklagbaren Rechtsansprüchen beruht, sondern der Willkür überlassen ist und jederzeit aufgekündet werden kann. Diese Armutsversorgung wird ihrerseits zunehmend auf private Initiativen des humanitär-industriellen Komplexes (Wohltätigkeitsorganisationen und NGOs) verschoben und eignet sich überdies hervorragend für populistische Klientelpolitik und Imagewerbung. Typisch dafür ist das Programm Zero Fomem (Null Hunger) des brasilianischen Präsidenten Lula, das seiner Fortsetzung der neoliberalen Politik eine höhere Legitimation verschaffen soll, indem es verspricht, die Marginalisierten mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen. Es ist bezeichnend, dass nicht einmal dieses erbärmliche Versprechen eingelöst wird, obwohl es nur einen winzigen Bruchteil des vorhandenen Reichtumspotentials beanspruchen würde. Von den rund 35 Millionen Bedürftigen haben bisher gerade einmal 5 Millionen ein paar Brotkrumen aus diesem Programm erhalten. Dennoch gelingt es dem ehemaligen Hoffnungsträger der Linken offenbar (vorerst) noch, sich über die mediale Vermarktung dieser schäbigen Tour einen gewissen Rückhalt bei den weitgehend entpolitisierten marginalisierten Bevölkerungsteilen zu sichern. Flankiert wird diese Mischung aus Repression und Armenspeisung, wie sie sich auch in den Kernländern der EU herauszubilden beginnt, von einem verlogenen Diskurs der Neubelebung ›bürgerlicher Werte‹. Anklang findet er vor allem bei einem Teil der Mittelschichten, der – aus Angst vor den unschönen Konsequenzen sozialer Desintegration wie Kriminalität, Gewalt und Bandenwesen – seine ›gesellschaftliche Verantwortung‹ in Gestalt der schwarzen Pädagogik wiederentdeckt. Schuld an der sozialen Polarisierung soll eine falsch verstandene Liberalität sein, die es versäumt habe, den ›Unterschichten‹ die nötigen kulturellen Kompetenzen, Benimmregeln und Sekundärtugenden, wie Pflichtgefühl, Höflichkeit, Pünktlichkeit etc., beizubringen. Da sei es kein Wunder, dass sie in der Konkurrenz nicht mithalten könnten und stattdessen mit der Chipstüte vor dem Fernseher dahinvegetierten.

»Nicht Armut ist das Hauptproblem der Unterschicht. Sondern der massenhafte Konsum von Fast Food und TV«, behauptet etwa ein gewisser Paul Nolte, seines Zeichens Professor an der International University Bremen, im Kampfblatt des Neoliberalismus für den gehobenen Geschmack (Das große Fressen, in: Die Zeit 17.12.2003). Deshalb müsse das »Bürgertum« (wer auch immer das sein soll) endlich wieder seinem Erziehungsauftrag nachkommen:

»Wir stehen vor einem Neubeginn, einem Paradigmenwechsel im politischen Umgang mit den Unterschichten. Wir sind zu lange einem Konzept gefolgt, das man als ›fürsorgliche Vernachlässigung‹ bezeichnen könnte. Einer vergleichsweise hohen materiellen Fürsorge der Unterschicht steht eine Vernachlässigung in sozialer und kulturelle Hinsicht gegenüber. Das Ziel muss es wieder sein, Kulturen der Armut und der Abhängigkeit, des Bildungsmangels und der Unselbständigkeit nicht sich selbst zu überlassen, sondern sich einzumischen, sie herauszufordern und aufzubrechen. Es geht um Integration in die Mehrheitsgesellschaft, aber auch – für viele ein heikles Thema – um die Vermittlung kultureller Standards und Leitbilder« (ebd.).

Der von Nolte angewandte diskursive ›Trick‹ ist bezeichnend für die derzeitige Umbruchphase in der Bundesrepublik und anderen EU-Ländern. Er appelliert noch an den Anspruch der ›Integration‹, aber der soll nicht mehr über materielle Teilhabe eingelöst werden – denn die sei ja angeblich gesichert, wie der Experte für amerikanische und deutsche Sozialgeschichte mit kontrafaktischer Kaltschnäuzigkeit behauptet –, sondern über die Vermittlung bürgerlicher Werte. Damit liefert er seinem geneigten Mittelschichtspublikum eine ideologische Verarbeitungsform, wie es sich gesellschaftlich verantwortlich fühlen kann, ganz ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn es sich vor den sozialen Folgen der Krise in separierte Wohnviertel und bewachte Shoppingcenter verkriecht – solange es sich dies noch leisten kann.

Für sich genommen ist der Rekurs auf die von der kapitalistischen Durchkommerzialisierung selbst vernichtete ›Kultur bürgerlicher Werte‹ ein reines Phantasma und ein weiteres Zeichen für den Übergang in eine Periode der Simulation und Halluzination. Doch erfüllt er auch den Zweck, die real stattfindende Repression etwas angenehmer zu verpacken. Wie die Praxis aussieht, die dem von Herrn Nolte und seinesgleichen ausgerufenen ›Paradigmenwechsel‹ entspricht, kann man in den so genannten boot camps in den USA besichtigen, wo devianten Jugendlichen der Unterschichten mit extremem militärischen Drill und Methoden der Gehirnwäsche beigebracht wird, als anständige Staatsbürger zu funktionieren. Wer diese wohlmeinende Lektion in bürgerlichen Werten lebendig übersteht, hat ganz hautnah erfahren, wie die ›Fürsorge‹ aussieht, die dem Herrn Professor vorschwebt.

Nicht zufällig erinnert der Repressions- und Erziehungsdiskurs und die dazugehörige Praxis an die frühkapitalistische Umgangsweise mit den Unterschichten und den ›gefährlichen Klassen‹. In der Krise der Warengesellschaft kommt der gewaltsame und herrschaftliche Kern des Kapitalismus wieder ganz deutlich zum Vorschein. Und doch gibt es einen nicht unwesentlichen Unterschied: Es geht jetzt nicht mehr darum, bäuerliche Unterschichten gewaltsam für die regelmäßige Verausgabung ihrer Lebensenergie im Arbeitsrhythmus von Manufaktur und Fabrik zuzurichten und damit den Boden für die kapitalistische Expansion zu bereiten. Im Gegenteil besteht das unbewusst-bewusste Ziel darin, die große Masse der ›Überflüssigen‹ so zu disziplinieren, dass sie den kapitalistischen Restbetrieb und diejenigen, die noch daran teilhaben, möglichst nicht stören. Die Ausgeschlossenen und Ausgespuckten sollen sich möglichst ruhig in ihr Schicksal fügen. Natürlich können Hunderte von Millionen Menschen, die weltweit kapitalistisch marginalisiert worden sind, nicht auf diese Weise im Zaum gehalten werden. Solange von ihnen keine Gefahr für den schrumpfenden Sektor der Kapitalverwertung und des Weltmarktkonsums ausgeht, werden sie sich selbst überlassen und durch ein immer schärferes Grenzregime daran gehindert, in die Zentren vorzudringen. Doch da Zentren und Peripherie sich immer stärker durchmischen, gewinnt auch die Bewachung der inneren Grenzen ein immer höheres Gewicht. Der Diskurs über ›bürgerliche Werte‹ liefert die moralische Begleitmusik dazu.

7.

Angesichts der Zersetzung des Staates und seiner Mutation von einer Instanz der kapitalistischen Regulation und der gesellschaftlichen Allgemeinheit zu einem Akteur der Vernichtungskonkurrenz und der Plünderungsökonomie muss das Verhältnis der sozialen Bewegungen zu ihm – oder vielmehr zu seinen Zersetzungsprodukten – radikal neu definiert werden. Wenn die Linke weiterhin Illusionen über die Möglichkeit einer ›anderen Politik‹ nährt und propagiert, dann läuft das erstens ins Leere, weil diese Konzepte unter den objektiven Bedingungen der Krise nicht einmal mehr den Hauch einer praktischen Chance haben; gerade jene selten gewordenen Exemplare der Sozialdemokratie beweisen das, die wie Lula in Brasilien, noch mit einem gewissen sozialen Anspruch an die Regierung gelangt sind. Darüber hinaus zieht zweitens dieses vorprogrammierte Scheitern eine negative, weil unkritische, Desillusionierung nach sich und befördert damit die regressiven Verarbeitungsformen des Krisenprozesses: Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und Verschwörungstheorien jeder Art, die ohnehin überall auf der Welt Hochkonjunktur haben. Auch die sozialen Bewegungen selbst sind keinesfalls frei davon. Insbesondere antisemitische Tendenzen finden vielfach Eingang in scheinbar kapitalismuskritische Argumentationen oder werden zumindest völlig unreflektiert mitgeschleppt und toleriert.

Mindestens genauso stark sind die Tendenzen zur ethnizistischen, regionalistischen und religiösen Identitätspolitik, die gegenüber dem undurchschauten und unkontrollierbaren gesellschaftlichen Gesamtprozess das Gefühl der ›Gemeinschaft‹ vermittelt. Ein trauriges Beispiel dafür ist die Entwicklung der mexikanischen EZLN, die nach dem Scheitern ihres politischen Konzepts einer Transformation des mexikanischen Staates durch den Druck der ›Zivilgesellschaft‹ nun zunehmend indigene Identitäten in den Mittelpunkt rückt. Aber auch in anderen Teilen der Welt gibt es ganz analoge Entwicklungen von Bewegungen, deren emanzipativer Anspruch durch ihren Ethnizismus dementiert wird, so etwa die Aymara-Bewegung in Bolivien oder die verschiedenen regionalistischen bzw. separatistischen Linksparteien in Spanien. Diese Formen der Abwendung von der Politik haben mit deren Überwindung nichts zu tun, sondern stellen im Grunde Varianten ihres Verfalls dar. Dass sich mit dem Staat keine Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation mehr verbinden lässt, darf nicht heißen, die Ebene des gesellschaftlich Allgemeinen zu räumen. Vielmehr muss dem Populismus, der postpolitischen Simulation, der kapitalistischen Krisenverwaltung und den regressiven Verarbeitungsformen der Krise gerade auch auf dieser Ebene entschieden entgegengetreten werden. Das hat mit der Illusion einer ›anderen Politik‹ nichts zu tun, sondern lässt sich am ehesten noch als Antipolitik bezeichnen[5]. Ihre Perspektive ist nicht die Eroberung des Staates, sondern seine Aufhebung. Deshalb stellt Antipolitik auch kein fest umrissenes, positives und vereinheitlichendes ›Programm‹ dar, sondern hat den Charakter einer provisorischen ›Negativstrategie‹, die in dem Maße erlöscht, wie sie erfolgreich ist und ihre Antipoden verschwinden. Und deshalb läuft sie auch nicht auf die Vereinheitlichung der sozialen Bewegungen unter einem Kommando und mit einer Avantgarde an der Spitze hinaus, wie es in der Logik der Politik und der Parteiorganisationen liegt, die immer schon die Herrschaftsstrukturen des Staates repräsentieren und reproduzieren. Zugleich soll der Begriff Antipolitik aber auch darauf verweisen, dass ein bloß unverbindliches Nebeneinander der Kämpfe zum Scheitern verurteilt ist. Denn diese Kämpfe bewegen sich allesamt in einem gemeinsamen Rahmen globalisierter Zwangsstrukturen, die durch das uniformierende, abstrakt-universalistische Prinzip der Waren- und Wertform konstituiert werden. Ihr gemeinsames Ziel muss es daher sein, diesen Rahmen zu sprengen, um den Horizont für eine wirklich plurale Weltgesellschaft frei assoziierter Individuen zu öffnen[6]. Zwar ist es richtig, dass sich die kapitalistische Herrschaft gerade wegen ihrer Allgegenwart im Prinzip an jeder Stelle und an jedem Ort angreifen lässt. Doch können die Teilkämpfe auch jederzeit in Konkurrenz und identitäre Abgrenzung umschlagen, wenn sie nicht die gemeinsame Perspektive verbindet, die warengesellschaftlichen Zwangsformen und die damit verbundenen Subjektstrukturen aufzuheben. In diesem Sinne heißt Antipolitik, die gesellschaftlichen Institutionen kapitalistischer Herrschaft durchaus ernst zu nehmen und sich mit ihnen auf der Ebene des gesellschaftlich Allgemeinen entschieden zu konfrontieren. Damit wird die Tatsache anerkannt, dass auch unter den Bedingungen der Krise die staatlichen Akteure einen veritablen Machtfaktor repräsentieren; nicht nur verwalten sie immer noch einen erheblichen Teil des gesellschaftlichen Reichtums, sondern regulieren und kontrollieren vor allem auch über Polizei und Justiz den Zugang zu ihm. Das zeigt sich drastisch insbesondere dort, wo, wie in Argentinien, besetzte Fabriken geräumt werden, obwohl sie für eine marktwirtschaftliche Produktion unrentabel geworden sind[7]. Trotzdem wird mit aller Gewalt das Privateigentum geschützt, weil es ein Grundprinzip der Warengesellschaft darstellt.

Wo die kapitalistische Krise die Grundlage der Warenproduktion untergräbt und die staatlichen Zerfallsprodukte selbst die Zerstörung und Plünderung der gesellschaftlichen Substanz aktiv vorantreiben, sind Forderungen nach einer Umverteilung des monetären Reichtums und nach einer Regulation des Marktes pure Luftschlösser. Das Motto ›Geld ist genug da‹ ist in jeder Hinsicht verkehrt. Erstens stimmt es nicht, weil die Krise eben genau eine der Waren- und Geldform ist, die zusammen mit der Arbeits- und Wertsubstanz untergraben wird[8]. Zweitens wird damit die Reduktion des stofflichen Reichtums auf die bornierte Form des abstrakten, monetären Reichtums fraglos akzeptiert, statt sie zu kritisieren. Ziel der gesellschaftlichen Emanzipation kann es aber nur sein, diese Reduktion zu beenden und den gesellschaftlichen Reichtum direkt und ohne Umweg über den Fetisch von Ware und Geld zu produzieren und zu verwalten[9].

Die Vorstellung, es könnte ein Zurück zu einem irgendwie ›regulierten‹ oder ›zivilisatorisch gebändigten‹ Kapitalismus geben, ist vollkommen haltlos. Der ›wilde Kapitalismus‹ von heute, der Kapitalismus der seine eigene Substanz und damit auch die Menschheit buchstäblich auffrisst und vernichtet, ist die einzige Form, in der er heute noch existieren kann. Es gibt keine zivilisatorischen Werte der bürgerlichen Gesellschaft mehr gegen ›die Barbarei‹ zu verteidigen, denn die innere Logik dieser Gesellschaft führt in die Barbarei. Eine Emanzipation kann es nur jenseits von ihr geben. Der Ansatzpunkt jeder emanzipativen Gegenwehr muss daher auch sein, sich dem Trend entgegenzustellen, wonach der stoffliche Reichtum rücksichtslos dem Krisenprozess geopfert wird. In dieser Hinsicht ist Antipolitik durchaus kompatibel mit dem Widerstand gegen die neoliberale Krisenverwaltung, etwa mit dem Kampf gegen die Privatisierung des Wassers, wie er beispielsweise in Bolivien erfolgreich geführt wurde, oder mit dem Kampf gegen die Zerschlagung des öffentlichen Gesundheitswesens, wie sie derzeit in den europäischen Ländern stattfindet. Immanente Kämpfe und eine Perspektive der Aufhebung des warenproduzierenden Systems schließen sich keinesfalls aus, sondern sind aufeinander verwiesen. Letztlich lassen sich diese Kämpfe überhaupt nur mit einer solchen Perspektive führen, denn andernfalls sind die Bewegungen stets mit der systemischen Logik (Standortkonkurrenz, ›Rentabilität‹ etc.) erpressbar und der Blick auf den einzigen Ausweg, die offensive Aneignung des stofflichen Reichtums und des gesellschaftlichen Zusammenhangs, bleibt versperrt. Diesen Ausweg zu erkennen, ist nicht nur eine Frage der intellektuellen Einsicht, sondern könnte die Qualität der sozialen Kämpfe entscheidend verändern: »Wenn eine Idee die Massen ergreift, wird sie zur materiellen Gewalt« (Marx).

[1] Vgl. dazu Norbert Trenkle: Es rettet Euch kein Billiglohn!, in: Kurz/Lohoff/Trenkle: Feierabend!, Hamburg 1999 sowie ders.: Das Ende der Arbeit / Informalisiertes Elend, in iz3w, März 2003 (www.krisis.org

[2] Vgl. dazu Robert Kurz: Die Himmelfahrt des Geldes, in: Krisis 16/17, Bad Honnef 1995; Ernst Lohoff: Große Fluchten. Krise und Entwicklung des Kapitals, in: Weg und Ziel 1/2000, Wien (www.krisis.org)

[3] Vgl. den Beitrag von Ernst Lohoff: Ziel 1/2000, Wien sowie unter www.krisis.org Das Schweigen der Lämmer in diesem Buch.

[4] So berichtet etwa das Colectivo Situaciones aus Argentinien: »Am 26. Juni 2002 wurden mit Darío Santillán und Maximiliano Costeki zwei Mitglieder der Arbeitslosenkoordination Coordinadora de Trabajadores Desocupados Aníbal Verón ermordet. Die Repression gegen die sozialen Bewegungen tritt sowohl in staatlicher Uniform als auch in einer ganzen Palette anderer Vorgehensweisen auf. […] Wir sprechen hier von polizeiähnlichen Söldnergruppen, pöbelnden Halbstarkenbanden mit Mafiakontakten sowie den Sicherheitsunternehmen, die sich zu wahren Privatarmeen entwickelt haben und im direkten Dienst von Konzernen oder Gruppierungen der politischen Macht stehen. Die verschiedenen Ausdrucksformen der Repression beweisen, dass der Angriff auf radikale gesellschaftsverändernde Praxen nicht unbedingt eine einheitliche Form aufweisen muss« (s. Colectivo Situaciones, Vorwort zu: Que se vayan todos! Krise und Widerstand in Argentinien, Berlin 2003, S. 22 f.).

[5] Vgl. dazu Robert Kurz: Antipolitik und Antiökonomie, in: Krisis 19, Bad Honnef 1997; Robert Kurz/Norbert Trenkle: Die Aufhebung der Arbeit, in Kurz/Lohoff/Trenkle (Hrsg.): Feierabend, Hamburg 1999; Ernst Lohoff: Determinismus und Emanzipation, in: Krisis 18, Bad Honnef 1996 (www.krisis.org)

[6] Vgl. dazu Norbert Trenkle: Weltgesellschaft ohne Geld, in Krisis 18, Bad Honnef 1996 (www.krisis.org)

[7] Vgl. dazu den Beitrag von Marco Fernandes in diesem Buch

[8] Empirisch drückt sich dies zum einen in den entsprechenden Entwertungsschüben (Inflation, Währungsabstürze, Finanzmarktkrisen) aus und andererseits darin, dass immer mehr Menschen von den Geldquellen abgeschnitten werden.

[9] Vgl. dazu auch den Artikel von Andreas Exner in diesem Buch sowie zum Reichtumsbegriff Ernst Lohoff: Zur Dialektik von Mangel und Überfluss, in Krisis 21/22, Bad Honnef 1998