27.12.2004 

Arbeitskritik und soziale Emanzipation


Eine Replik auf Kritiken am Manifest gegen die Arbeit

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erschienen in: Krisis 28 (Oktober 2004)

Norbert Trenkle

Das vor fünf Jahren veröffentlichte Manifest gegen die Arbeit hebt sich zweifellos aus dem Rahmen der sonstigen krisis-Publikationen hervor. Seinem Charakter als Pamphlet entsprechend, zielt es darauf, zentrale theoretische Positionen, die im Laufe der Jahre in dieser Zeitschrift entwickelt wurden, in komprimierter und zugespitzter Form in den öffentlichen Diskurs zu tragen. Dies ist nicht ohne Erfolg geblieben. Wohl keine andere Veröffentlichung der krisis hat so viel Resonanz, auch über den deutschsprachigen Raum hinaus, gefunden – und das heißt nicht zuletzt auch: so viel Kritik auf sich gezogen. Bemerkenswert ist dabei, dass sich die Kritiken quer zu den länderspezifischen und verschiedenen linken Diskursen in vieler Hinsicht überschneiden. Die im Manifest formulierte Kritik trifft also offenbar etwas, das all diesen Diskursen trotz sonstiger Differenzen gemeinsam ist; eine gemeinsame Grundlage, die als so selbstverständlich gilt, dass sie normalerweise nicht einmal mehr ins Bewusstsein rückt.

Die in der letzten Ausgabe der krisis veröffentlichten vier Kritiken am Manifest von Jaime Semprun, Charles Reeve, Luca Santini und Les Éditions Rouge et Noir (im Folgenden ERN) können in diesem Sinne durchaus als exemplarisch gelten. So unterschiedlich ihre Ausgangspunkte, so sehr kreisen sie doch jeweils um die gleichen Fragestellungen und zentrieren sich auf die gleichen Punkte. [1] Insofern ist die folgende Replik auch nicht nur als direkte Antwort auf diese vier Kritiken zu verstehen, sondern sie hat allgemeineren Charakter.

Nichts Neues unter der Sonne?

Sosehr die Polemik gegen die Arbeit als gesellschaftliches Zwangsprinzip spontan starken Anklang findet (übrigens gerade auch bei Menschen, die sich sonst weitgehend außerhalb des linken Diskurses bewegen), so sehr stößt doch die ihr zugrunde liegende fundamentale Arbeitskritik mitsamt ihren Implikationen in der Regel auf heftige Abwehr. Die Stoßrichtung ist dabei zumeist eine doppelte. Zum einen wird uns vorgeworfen, die Arbeitskritik sei ja eigentlich gar nichts Neues, denn es gebe in der Geschichte der Linken eine ganze Traditionslinie, die je nach Perspektive vom Anarchismus über Lafargue bis hin zu den Situationisten und den italienischen Operaisten reicht. Diese Ansätze würden wir jedoch außer Acht lassen und allenfalls am Rande erwähnen, um dann so zu tun, als ständen wir allein auf weiter Flur. So schreibt etwa Charles Reeve: „Hinsichtlich der Kritik des modernen Reformismus wiederholt krisis – mit prononciertem Gusto für Süffisanz –, was bereits geschrieben wurde. Liest man sie aber, gewinnt man den Eindruck, als habe die Kritik des modernen Kapitalismus an dem Tag begonnen, als krisis anfing nachzudenken” (S. 151). [2] Diese und ähnliche Vorwürfe gehen zumeist mit dem Einwand einher, unsere Arbeitskritik greife zu kurz und falle sogar hinter die erwähnte Traditionslinie zurück, weil sie, wie Santini schreibt, die angeblich „wesentliche Bestimmung der Arbeit im kapitalistischen Umfeld” vernachlässige, nämlich „das Moment der Schaffung und Auspressung des Mehrwerts” (S. 155).

Nun sind wir natürlich nicht so vermessen, zu glauben, unsere Arbeitskritik ex nihilo im historisch luftleeren Raum entwickelt zu haben. Auch wenn die Arbeiterbewegung ihrer Grundtendenz nach eine Bewegung für die Anerkennung der Ware Arbeitskraft war und zur Totalisierung der Arbeit als gesellschaftlichem Prinzip erheblich beigetragen hat, bedeutet dies ja nicht, dass sie die Zwänge des kapitalistischen Arbeitsprozesses einfach akzeptiert hätte. Die Kritik am Kommandoregime und an der Entmündigung in der Arbeit ragt bis weit in den linken Mainstream hinein. Doch der Standpunkt dieser Kritiken war immer der Standpunkt der Arbeit. Das heißt: explizit oder implizit galt die Arbeit als überhistorische Kategorie, die nur mehr oder weniger äußerlich der Herrschaft des Kapitals unterworfen ist und deshalb ihrem „Wesen“ nach über den Kapitalismus hinausweist. Darin waren sich die radikalen Strömungen mit dem Mainstream bei allen sonstigen Differenzen grundsätzlich einig. Das gilt auch für die kritischen Strömungen des „westlichen Marxismus“, von Lukács über die Frankfurter Schule und einige ihrer Nachfolger bis hin zu den Situationisten, obwohl sie durch ihren Bezug auf die Marxsche Kritik der Wert- und Warenform die verengte Perspektive des orthodoxen Parteimarxismus aufsprengten und den Blick für eine Kritik des Kapitalismus als umfassender Vergesellschaftungsform öffneten. Lukács etwa, bei dem die geschichtsmetaphysische Teleologie des traditionellen Marxismus ihre höchste theoretische Ausdrucksform gefunden hat, verklärte den Standpunkt der Arbeit ausdrücklich zum Hebel für eine Aufhebung des Kapitalismus und schrieb dem Proletariat als dem sozialen Repräsentanten dieses Standpunkts das „Wesen als identisches Subjekt-Objekt des gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklungsprozesses” (Lukács 1988, S. 267) zu. [3]

Der Vorwurf, unsere Kritik der Arbeit sei ja eigentlich gar nichts Neues und darüber hinaus sogar „verkürzt” (Santini) oder bloß „moralistisch” (Reeve), resultiert daraus, dass die Kritiker genau diesen theoretischen Bezugsrahmen des traditionellen Marxismus wie selbstverständlich voraussetzen und die Kritik daran nicht nachvollziehen (können oder wollen), sondern stattdessen versuchen, das Manifest in ihn hineinzupressen. Das geht nicht ohne argumentative Verdrehungen ab, die sich häufig selbst durch eine nur oberflächliche Lektüre des Textes leicht widerlegen lassen. So behauptet etwa Charles Reeve, im Manifest würde der „Vektor ‚Arbeit’ (…) weder als gesellschaftliches und historisches Verhältnis definiert, noch spezifisch als entfremdete, lohnabhängige Arbeit charakterisiert” (S. 152). Der erste Teil dieser Behauptung ist offensichtlich absurd, denn es gehört ja zu den zentralen Positionen des Manifests, dass die Arbeit das historisch-spezifische Vergesellschaftungsprinzip des Kapitalismus ist. Der zweite Teil des Satzes verweist allerdings darauf, dass Reeve genau mit dieser Position offenbar nichts anfangen kann. Was er mit dem „gesellschaftlichen Verhältnis“ meint, ist die Unterwerfung der vorausgesetzten Kategorie der Arbeit unter „das Kapital“. Entfremdung der Arbeit heißt hier also im Prinzip Entfremdung von ihrem „Wesen”, das „an sich” dem Kapitalismus äußerlich ist. Sie resultiert aus dem Zwang „Waren für andere (den Kapitalisten)” (Fußnote 6, S. 154) zu produzieren. „Kritik der Arbeit” aus dieser Warte ist im Kern reduziert auf eine Kritik der Ausbeutung. Dass wir unsererseits den Gesichtspunkt der Abschöpfung des Mehrwerts nicht selbst in den Mittelpunkt rücken, kann Reeve daher nur so interpretieren, als würden wir ihn überhaupt nicht sehen: „Der Begriff des Profits findet sich nicht bei krisis, das Konzept der Ausbeutung ist irrelevant, denn die kapitalistische Maschine ist reine ‚Selbstzweckmaschine’” (S. 152). Es ist schon einigermaßen verwunderlich, wie Reeve hier den Text gewaltsam gegen seinen Sinn liest. Worin besteht denn der Selbstzweck der kapitalistischen Maschine, wenn nicht darin, den Wert zu vermehren? Die Kategorien Mehrwert und Profit sind natürlich keinesfalls „irrelevant”, aber sie müssen als abgeleitete Momente der übergeordneten Selbstzwecklogik von Kapital und Arbeit begriffen werden, in welcher sich deren grundsätzliche Identität manifestiert.

Es geht nicht einfach nur um die Einsicht, dass die Arbeit ein immanentes Prinzip des Kapitalismus und keine überhistorische Kategorie ist. Entscheidend ist vielmehr, dass es sich um das zentrale Zwangs- und Vermittlungsprinzip der warenproduzierenden Gesellschaft handelt, das eine ganz spezifische Form unpersönlicher und verselbständigter Herrschaft konstituiert, die Marx mit dem Begriff des Fetischismus belegt hat. Diese Herrschaft drückt sich für die Einzelnen zunächst in dem grundsätzlichen Zwang aus, die eigene Lebensenergie in irgendeiner Weise in „Arbeit” zu verwandeln um zu überleben, sei es, dass sie sich als „Arbeitskraft” gegen Lohn verkaufen, sei es, dass sie irgendwelche Waren (materielle Produkte oder Dienstleistungen) herstellen und auf den Markt werfen, in denen sich ihre Arbeitszeit in verdinglichter Form „darstellt”. Und dies bedeutet: Die Menschen in der warenproduzierenden Gesellschaft vermitteln ihre Beziehungen untereinander und zum gesellschaftlichen Gesamtaggregat über die Arbeit bzw. über die Verausgabung von Arbeitskraft. Diese Vermittlung erfolgt nicht über die jeweils spezifischen Inhalte der qualitativ unterschiedlichen Tätigkeiten, also über die konkrete Seite der Arbeit und der produzierten Waren. Von diesen Inhalten wird vielmehr abstrahiert. Es zählt nicht, was, wie und unter welchen Bedingungen hergestellt wird, sondern ausschließlich dass Arbeitskraft in der Produktion von Waren verausgabt wurde.

Die ihrem Inhalt nach unterschiedlichen Arbeiten werden damit auf einen Nenner gebracht und einander gleichgesetzt; sie gelten nur noch als verschiedene Darstellungsformen „abstrakter Arbeit”. Die stofflichen und qualitativen Unterschiede der Tätigkeiten und der produzierten Gegenstände werden in diesem In-Beziehung-Setzen ausgelöscht. Aus dieser Perspektive ist dann beispielsweise die Montage eines Motors und die Pflege eines Kranken in der Klinik identisch, denn beide Tätigkeiten werden darauf reduziert, Verausgabung von Lebensenergie in der Form der Arbeit zu sein; sie gelten als bestimmte Portionen verausgabter abstrakter Arbeitszeit und stellen – gemessen an dieser Arbeitszeit – einen bestimmten „Wert” dar: „Was im Kapitalismus die Arbeit allgemein macht, ist nicht die Binsenwahrheit, dass sie der gemeinsame Nenner aller verschiedenen spezifischen Arten der Arbeit ist. Vielmehr ist es die gesellschaftliche Funktion der Arbeit, die sie allgemein macht. Als eine gesellschaftlich vermittelnde Tätigkeit abstrahiert die Arbeit von der Besonderheit ihres Produkts, und somit von der Besonderheit ihrer eigenen konkreten Form. In der Marxschen Analyse bringt die Kategorie der abstrakten Arbeit diesen realen gesellschaftlichen Abstraktionsprozess zum Ausdruck. Sie basiert nicht auf einem bloß begrifflichen Abstraktionsprozess. Als Praxis ist die Arbeit, die eine gesellschaftliche Vermittlung konstituiert, Arbeit im allgemeinen. Außerdem setzen wir uns hier mit einer Gesellschaft auseinander, in der die Warenform verallgemeinert und deshalb gesellschaftlich bestimmend ist: Die Arbeit aller Produzenten dient als Mittel, mit dem die Produkte anderer beschafft werden können. Deshalb dient die ‚Arbeit im allgemeinen‘ auf gesellschaftlich-allgemeine Art und Weise als vermittelnde Tätigkeit” (Postone 2003, S. 235).

Diese höchst eigenartige und historisch ganz spezifische Form gesellschaftlicher Vermittlung ist untrennbar verbunden mit der Warenproduktion als gesellschaftlichem System. Denn die Absurdität, die darin liegt, lebendige Aktivität in einer verdinglichten gesellschaftlichen Kategorie gewissermaßen einzufrieren, also als „tote Arbeit” oder „Wert” darzustellen, bedarf eines stofflichen Trägers: der Ware. Diese fungiert jedoch nicht als bloßer Tauschgegenstand, der hergestellt wird, um andere Gebrauchswerte zu erwerben. Sicherlich vollziehen die Einzelnen, indem sie ihre Arbeitskraft zum Erwerb von Konsumgütern verkaufen, den einfachen Kreislauf Ware-Geld-Ware. Doch dieser Kreislauf des Verkaufens und Kaufens steht im Kontext und im Dienste eines vorgelagerten „höheren Zwecks”: des Zwecks, aus Geld mehr Geld zu machen, also der Verwertung des Werts. Jede einzelne Ware ist bloßes Mittel zu diesem Zweck. Sie fungiert primär als Trägerin und Repräsentantin des Werts, der sich in letzter Instanz immer wieder in Geld darstellen muss. Ihre konkrete Seite, der Gebrauchswert, ist nur Abfallprodukt dieser Funktion, lästige stoffliche Eigenschaft, ohne die sich der Verkauf leider nicht realisieren lässt (was man, nebenbei bemerkt, den meisten Waren ja auch ansieht).

Weil aber der Wert nichts anderes darstellt als „tote Arbeit”, ist die Akkumulation von Kapital nicht etwa der Arbeit äußerlich, sondern ihrem Charakter als allgemeinem gesellschaftlichem Zwangs- und Vermittlungsprinzip inhärent. Kapitalakkumulation heißt nichts anderes, als dass permanent lebendige Arbeit verausgabt werden muss, um der aufgehäuften „toten Arbeit” neue hinzuzufügen. Da sich auf diese Weise die abstrakte Arbeit ständig auf sich selbst bezieht, kann gesagt werden, dass es sich bei der Vernutzung von Arbeit um eine selbstbezügliche, selbstzweckhafte und selbstläufige Vermittlungsbewegung handelt. Um eine gesellschaftliche Vermittlung, die ihrem Wesen nach unabhängig vom menschlichen Wollen ist, die den Menschen als scheinbar äußere Gewalt gegenübertritt und ihnen ihre Zwangsgesetze aufherrscht, obwohl es sich dabei ja bloß um die Form ihres eigenen gesellschaftlichen Zusammenhangs handelt. Um es mit Marx auszudrücken: „Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. (…) Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist“ (Marx 1983, S. 86f.).

Kritik der Arbeit aus dieser Perspektive heißt also weit mehr, als Kritik an einer bestimmten Tätigkeitsform und an den verschiedenen Zwängen des kapitalistischen Arbeits- und Produktionsprozesses, wie dem Kommandoregime oder der Abpressung des Mehrwerts. Sie bedeutet Kritik an dem konstitutiven kapitalistischen Zwangs- und Vermittlungsprinzip, das untrennbar mit den Fetischformen von Ware und Wert verbunden ist; sie bedeutet den endgültigen Abschied von jeglichem Positivbezug auf den „Standpunkt der Arbeit“, wie modernisiert und verdünnt er auch daherkommen mag; und sie bedeutet damit einen grundsätzlichen Perspektivwechsel in der Kritik des Kapitalismus.

Instrumentelles Handeln

Ähnlich wie Reeve vollzieht auch Santini diesen Perspektivwechsel nicht nach, wenn er an der oben bereits erwähnten Stelle schreibt: „Die Autoren der Gruppe krisis erfassen jedoch nicht das entscheidende Moment, auf dem die versteckte Allianz zwischen Kapital und Arbeit beruht; sie verdunkeln vielmehr das Moment der Schaffung und Auspressung des Mehrwerts, d.h. den Prozess, mittels dem die Arbeit Werte schafft, die das Kapital sich aneignet” (S. 155). Diese Aussage ist schon in sich nicht stimmig, denn mit der „Auspressung des Mehrwerts“ ist ja gerade der immanente Interessengegensatz und nicht etwa die „Allianz” zwischen Arbeit und Kapital bezeichnet. Auch wenn dieser Interessengegensatz für sich genommen nichts Sprengendes hat, sondern ein Moment innerhalb der Verlaufsform der Warengesellschaft darstellt, so konstituiert er selbst doch keinesfalls die Identität zwischen Kapital und Arbeit, sondern setzt sie vielmehr bereits voraus. Durch die Verengung seines Blicks auf die Ausbeutung kann Santini jedoch gerade diese vorausgesetzte Ebene der gesellschaftlichen Konstitution, des gemeinsamen Bezugsfeldes von Arbeit und Kapital, innerhalb dessen sich auch ihr Interessengegensatz entfaltet, nicht in den Blick bekommen. Implizit setzt auch er also die Arbeit als ontologische, überhistorische Kategorie voraus, die erst dadurch in Bezug zum Kapital tritt, dass sie von diesem unterjocht und ausgesaugt wird. „An sich” sind – nach Santinis Verständnis – sich diese beiden Kategorien also fremd und entspringen keinesfalls einem gemeinsamen gesellschaftlichen Verhältnis.

Es verwundert daher nicht, dass Santini mit der These von der konstitutiven Identität von Arbeit und Kapital wenig anfangen und sie sich nur äußerlich erklären kann: „Die Autoren handeln in einer einzigen Kritik Kapital und Arbeit ab, weil beide letztendlich instrumentell agieren ohne Rücksicht auf die konkreten Ziele und materiellen Zwecke, die in der produktiven Tätigkeit angelegt sind” (S. 155). Nun kann zwar die Arbeit in der Tat auch als instrumentelle Tätigkeit bestimmt werden, doch haben wir keinesfalls behauptet, dass darauf die Identität von Kapital und Arbeit beruhe. Vielmehr ergibt sich diese Bestimmung als ein Moment aus dem Charakter der Arbeit als auf sich selbst bezogenes gesellschaftliches Vermittlungs- und Bewegungsprinzip der warenproduzierenden Gesellschaft. Die Gleichgültigkeit gegenüber dem einzelnen Zweck ist in der grundsätzlichen Gleichgültigkeit der Verwertungsbewegung angelegt, für die der Gebrauchswert der Ware ja nur ein lästiges Beiwerk darstellt. „Bei der Produktion für (Mehr-)Wert ist das Ziel selbst ein Mittel. Folglich zielt Produktion im Kapitalismus notwendigerweise auf Quantitäten, auf eine stetig zunehmende Mehrwertmasse. Dies ist die Grundlage der Marxschen Analyse der Produktion im Kapitalismus als Produktion um der Produktion willen. Darin leitet sich die Instrumentalisierung der Welt aus der Determinierung von Produktion und der gesellschaftlichen Verhältnisse durch diese historisch spezifische Form gesellschaftlicher Vermittlung her; sie ist keine Folge der zunehmenden Komplexität materieller Produktion als solcher. Produktion um der Produktion willen bedeutet, dass diese kein Mittel mehr zu einem substantiellen Zweck ist, sondern ein Mittel zu einem Zweck, der seinerseits ein Mittel ist: Moment einer unendlichen Kette der Expansion. Produktion im Kapitalismus wird Mittel zum Mittel“ (Postone 2003, S. 280). Auch für die Arbeitenden selbst ergibt sich der instrumentelle Bezug zu ihrer Tätigkeit aus dem spezifischen Charakter der warenproduzierenden Arbeit. Für sie ist die Arbeit nur Mittel zum Zweck, um am gesamtgesellschaftlichen Warenreichtum partizipieren zu können, also um sich mit ihrem eigenen gesellschaftlichen Zusammenhang auf spezifische Weise zu vermitteln. Und darin ist die Abstraktion vom jeweils besonderen Inhalt ihrer Tätigkeit angelegt. Was sie an ihrer Arbeit interessieren muss, ist der Tauschwert, der es ihnen ermöglicht, andere Waren zu erwerben. Der Gebrauchswert hat mit der von ihnen verrichteten Arbeit nichts zu tun. Insofern verhalten sie sich dem konkreten Inhalt der Arbeit gegenüber genauso gleichgültig und instrumentell wie die Verwertungsbewegung als solche.

Es ist alles andere als nebensächlich, in welchen Bezugsrahmen die Kritik des instrumentellen Handelns gestellt wird. Das zeigt gerade der Verweis auf die Kritische Theorie, in deren Tradition Santini das Manifest einordnet, wenn er schreibt, unsere Kritik der Arbeit sei „unzweifelhaft im Stil der Frankfurter Schule” (S. 155) gehalten. Dass wir der Kritischen Theorie vieles verdanken, soll natürlich nicht abgestritten werden. Doch darf nicht übersehen werden, dass deren Kritik des instrumentellen Handelns, wie sie insbesondere Horkheimer entwickelt hat, sich ausdrücklich auf ein überhistorisches Verständnis von Arbeit als „Naturbearbeitung“ im allgemeinsten Sinne bezieht. Die Perspektive ist also eine ganz andere. Die Instrumentalität ist demnach ein untrennbares Merkmal von Naturbezug und Tätigkeit des Menschen schlechthin, eine Art ontologisches Schicksal der Menschwerdung, das daher auch nicht aufgehoben werden kann (vgl. Trenkle 2002). Ihren Ursprung hat sie gewissermaßen dort, wo die Menschen damit begannen, sich des Faustkeils zu bedienen. Dass die moderne Gesellschaft durch und durch instrumentellen Charakter besitzt, führt Horkheimer daher auch nicht auf deren kapitalistische Formiertheit zurück, sondern auf die zunehmende Komplexität der materiellen Produktion und auf die Entwicklung industrieller Produktionsmethoden. [4] Diese (an Max Weber orientierte) Auffassung ist nur allzu offensichtlich innerlich verwandt mit dem arbeitsontologischen Verständnis des traditionellen Marxismus. Stellte für diesen jedoch die Arbeit als vermeintlich nicht-kapitalistisches Prinzip den Inbegriff von Vernunft und damit den Hebel für die Aufhebung des Kapitalismus dar, so nimmt Horkheimer nur die entgegengesetzte Perspektive ein. Er überwindet nicht den „Standpunkt der Arbeit“, sondern verkehrt ihn nur in sein pessimistisches Gegenteil. Hoffnung auf eine Aufhebung der Instrumentalität des Weltbezugs kann er keine mehr erkennen. Moishe Postone hat dafür zu Recht den Begriff des „Kritischen Pessimismus“ geprägt (Postone 2003, S. 169ff.).

Kapitalismus oder Industriegesellschaft?

Eine strukturell mit diesem „Kritischen Pessimismus” verwandte Position vertritt Jaime Semprun, wenn er dem Manifest vorwirft, dem Produktivkraftfetischismus der alten Arbeiterbewegung verhaftet zu bleiben, und selbst dagegen eine Gesellschaftskritik stellt, die sich auf die Kritik der modernen Technologie zentriert: „Der für die Warengesellschaft (aber vielleicht auch für die Zivilisation und die Chancen der Humanisierung, die sie im Lauf der Geschichte erzeugt hat) fatale Widerspruch ist der zwischen diesen bestimmten Produktionsmitteln, also dem ‚verwissenschaftlichten Sachkapital’, der modernen Technologie, einerseits, und andererseits den vitalen Notwendigkeiten der Naturaneignung, denen keine menschliche Gesellschaft sich entziehen kann” (S. 149). Semprun spricht zwar hier und an anderen Stellen von der „Warengesellschaft” und dem „Kapitalismus”, doch geht er in seiner Analyse in keiner Weise auf die spezifische gesellschaftliche Form und ihre inneren Widersprüche ein, sondern verwendet diese Begriffe im Kern nur als Synonyme für die „Industriegesellschaft”. Die Zumutungen, Verheerungen und Katastrophen der Moderne werden nicht etwa auf die verselbständigte Dynamik von Ware, Wert und Arbeit zurückgeführt, sondern unmittelbar der modernen Technologie als Ursache zugeschrieben. Die simple Gleichung, die Semprun aufmacht, lautet: Kapitalismus = Industriegesellschaft. Deshalb bedeutet für ihn die Aufhebung des Kapitalismus auch so viel wie Abschaffung von moderner Technologie und industrieller Produktion in toto.

Nun soll freilich nicht bestritten werden, dass die moderne Industrieproduktion nicht nur historisch zusammen mit der kapitalistischen Vergesellschaftung entsteht, sondern auch inhärent kapitalistisch strukturiert ist. Insofern kann man durchaus sagen, dass die Warengesellschaft die einzige in der Geschichte der Menschheit ist, die den Namen „Industriegesellschaft” verdient, und daher muss eine Kritik des Kapitalismus auch eine Kritik der industriellen Produktionsweise einschließen. Dennoch ist es verkehrt, beide Begriffe einfach synonym zu setzen; denn auch wenn der Kapitalismus die Industrieproduktion hervorgebracht und sie nach seinem Bilde geformt hat, geht sie dennoch nicht in ihm auf. Deshalb lassen sich der fetischistische Selbstlauf, die Herrschaftsmechanismen und die inneren Widersprüche des warenproduzierenden Systems zwar an ihr aufzeigen, nicht aber aus ihr heraus erklären. Und deshalb bedeutet Aufhebung des Kapitalismus auch nicht Abschaffung der industriellen Produktion überhaupt, sondern deren grundlegende Transformation.

Die innere Verwandtschaft von kapitalistischer Produktionsweise und Industrieproduktion ergibt sich daraus, wie schon Marx im Kapital ausführlich gezeigt hat, dass erst in ihr das Kapitalverhältnis sich als gesellschaftlich totales etablieren kann. Eine gesellschaftliche Formation, die sich über die Verausgabung von abstrakter Arbeit vermittelt und darüber dem blinden Zwang der unendlichen Anhäufung abstrakter Wertquanten ausgesetzt ist, drängt notwendigerweise zur Entwicklung von Methoden, diesen Zwang auf ständig erweiterter Stufenleiter zu reproduzieren. Im Mittelpunkt steht dabei einerseits die permanente Steigerung der Produktion um der Produktion willen in Gestalt eines wachsenden Ausstoßes von Waren als Repräsentanten von „toter Arbeit”. Andererseits muss die Produktion das Kriterium der „Effizienz” erfüllen, was letztlich nichts anderes bedeutet als „Zeiteffizienz”; auf diese Weise wird der Teil des Arbeitstages ausgedehnt, in dem die Arbeitskräfte Mehrwert schöpfen, also Wert, der ihre eigenen Reproduktions- oder Lebenshaltungskosten übersteigt und der Akkumulation des Kapitals dient. Marx spricht in diesem Zusammenhang bekanntlich von der „relativen Mehrwertproduktion”, die erst durch die systematische Anwendung der Wissenschaft auf die Produktion, die „große Maschinerie” und die damit einhergehende „Rationalisierung” der Produktionsprozesse möglich wird. Es lässt sich also durchaus sagen, dass sich das Kapital in der modernen Industrie eine Produktionsweise nach seinem Bilde geformt hat: In ihr materialisiert und konkretisiert sich die „Realabstraktion” des Werts. Sie tritt den Menschen inkarniert in handfesten, konkreten Apparaturen und Organisationsstrukturen entgegen und zwingt ihnen so die ihr inhärente Rationalität und ihren Zeittakt auf.

Und dabei bleibt es nicht. In dem Maße, wie sich die Warengesellschaft als Totalität etabliert, dehnt sich die Logik der „Rationalisierung” und der Zeiteffizienz auf alle gesellschaftlichen Bereiche aus und prägt umfassend den Alltag, das Denken und Handeln der modernen Menschen. Insofern hat Semprun selbstverständlich Recht, wenn er von der „Verödung des Lebens” (S. 147) spricht und beispielsweise die „Massenbehausungen” und „Trabantenstädte“ als „Zelle(n) des Existenzminimums” (S. 148) charakterisiert. Dennoch liegt er falsch, wenn er dies unmittelbar auf „die Industrie” und die modernen Produktivkräfte zurückführt. Denn auch wenn uns die Zwänge von Wert und Ware nicht unvermittelt als solche, sondern in der Gestalt von Dingen und materiellen gesellschaftlichen Strukturen gegenübertreten, können sie doch nicht auf diese selbst reduziert werden. Umgekehrt dürfen zwar diese Dinge und Strukturen nicht von der Kritik ausgenommen und als gesellschaftlich „neutral” behandelt werden; aber die Kritik muss darauf zielen, sie als Repräsentanten und Materialisierungen der Waren- und Wertlogik zu analysieren und die Repressivität und versachlichte Herrschaft dieser Logik an ihnen aufzuweisen.

Die unvermittelte Identifikation von stofflichen Gegenständen und gesellschaftlicher Form hingegen ist selbst Ausdruck eines verdinglichenden Denkens, das nur die abstrakte Umkehrung jenes Produktivkraftfetischismus darstellt, dem der traditionelle Marxismus anhing. Ihm zufolge ist die „Entwicklung der Produktivkräfte“ eine Art Naturgesetz der Geschichte, ein überhistorischer Prozess, den der Kapitalismus in seiner „historischen Mission“ zwar enorm beschleunigte, aber keinesfalls grundlegend prägte. Dementsprechend wurden die Zwänge des kapitalistischen Produktions- und Industriesystems (Arbeitshetze, extreme Arbeitsteilung, Kommandoregime etc.) nur äußerlich auf „die Produktionsverhältnisse” zurückgeführt, die dieser reduzierten Sichtweise entsprechend bloß mit Klassenherrschaft, Ausbeutung und Profitmacherei identisch sein sollen. Diese mechanistische Interpretation des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen zu verwerfen, heißt nun allerdings nicht, ihn für obsolet zu erklären. Vielmehr kann gezeigt werden, dass er sich in der modernen industriellen Produktionsweise selbst ausdrückt – und zwar in doppelter Weise. Zum einen als Krisenpotenz, die sich auf immer höherer Stufe reproduziert, zum anderen darin, dass die kapitalistische Entwicklung zwar bestimmte Möglichkeiten und Potentiale hervorbringt, gleichzeitig jedoch deren Realisierung verhindert oder sie sogar in Destruktivkräfte verwandelt.

Und das gilt nicht nur für den warenförmigen Produktionsprozess als solchen, sondern ebenso für seine Produkte. Auch der Gebrauchswert der Waren ist nicht etwa bloß neutrale stoffliche Eigenschaft gesellschaftlicher „Produkte”, die vom Tauschwert überformt werden, sondern Materialisierung des Werts und seiner Gleichgültigkeit gegenüber der Welt. Besonders drastisch lässt sich dies am Beispiel des Autoverkehrs zeigen. Als Fortbewegungssystem einer auf andauernde Mobilität verpflichteten, in atomisierte Einzelne zersplitterten Gesellschaft stellt es seiner stofflichen Struktur nach geradezu ein Spiegelbild der Wertlogik dar; dies nicht nur wegen seiner Vorreiterrolle bei der Produktion der Klimakatastrophe und der Verwüstung des öffentlichen Raumes. Vielmehr reflektiert der Autoverkehr idealtypisch auch das soziale Verhältnis der bürgerlichen Subjekte als ungesellschaftlich-gesellschaftliche, als vermasste und voneinander isolierte zugleich.

Es versteht sich daher eigentlich von selbst, dass nicht die „Befreiung“ des „Gebrauchswerts Auto” von seiner „Tauschwerthülle” auf das „Programm der Abschaffungen” gehört, sondern die Abschaltung des Autoverkehrs als System gesellschaftlicher Fortbewegung (was die Verwendung von Autos für ganz bestimmte Zwecke ja nicht ausschließen muss). Das heißt aber umgekehrt nicht, dass eine befreite Gesellschaft wieder zu Ochsenkarren und Pferdekutschen zurückkehren müsste. Vielmehr wird es darum gehen, Verkehrssysteme zu schaffen, die es allen Menschen auf der Welt ermöglichen, sich frei nach ihren Bedürfnissen und überallhin zu bewegen, ohne die Naturgrundlagen und die Landschaften zu zerstören und ohne sich zum eingekapselten und zähnefletschenden Blechkistensubjekt zurichten zu müssen. Wenn Semprun behauptet, das Manifest verfalle dem „Glauben, man könne den Gebrauchswert und die emanzipatorische Technik intakt wieder vorfinden, sobald sie von ihrer kapitalistischen Form befreit sind” (S. 149), dann ist das reine Projektion und durch den Text in keiner Weise gedeckt. Semprun schreibt uns diese Position des traditionellen Marxismus zu, weil sie es ihm erlaubt, seine eigene Sichtweise als den Gipfel radikaler Kritik darzustellen; in Wahrheit stellt sie jedoch nur eine spiegelbildliche Verkürzung dar.

Es ist nur allzu simpel, der blinden Technik- und Wissenschaftsbegeisterung des traditionellen Marxismus (die derzeit im Neo-Operaismus von Hardt/Negri eine Renaissance erlebt) nun eine ebenso pauschale Ablehnung entgegenzuhalten. Vielmehr wird eine befreite Gesellschaft die Technologie und das Wissen, das der Kapitalismus in fetischistischer und großenteils destruktiver Form hervorgebracht hat, jeweils konkret daraufhin untersuchen müssen, ob und inwieweit sie zum Nutzen aller transformiert und entwickelt werden können oder nicht. [5] Dazu gehört selbstverständlich auch die Entscheidung, bestimmte Wissenspotentiale nicht auszuschöpfen (etwa naturwissenschaftliche Erkenntnisse über die Genmanipulation) und einen erheblichen Teil der kapitalistischen Technologie stillzulegen (z.B. viele Verfahren in der industrialisierten Landwirtschaft) oder nur sehr selektiv anzuwenden. Allgemeine Kriterien dafür lassen sich a priori nicht angeben. Denn die Befreiung von der unpersönlichen, fetischistischen Herrschaft des Werts bedeutet eben auch, dass die Gesellschaftsmitglieder nicht immer schon einem vorausgesetzten abstrakt-allgemeinen Prinzip unterworfen sind, das ihre Entscheidungen in einer bestimmten und einheitlichen Weise vorstrukturiert. Deshalb können sie dann nach den verschiedensten qualitativen, sinnlichen und ästhetischen Kriterien entscheiden, was sie wollen und was nicht. Die herrschende Gesellschaft ist hingegen gezwungen alle gesellschaftlichen Bereiche technologisch und organisatorisch durchzurationalisieren. Sie hat in dieser Hinsicht gar keine Wahlmöglichkeiten, weil sie dem rigorosen Diktat der Zeitersparnis und -verdichtung unterworfen ist. Eine Gesellschaft frei assoziierter Individuen, die sich nicht über Warenproduktion und Wertverwertung vermitteln, sondern über Verfahren direkter Kommunikation, kann im Gegensatz dazu bewusst entscheiden, wo zum Beispiel sinnvollerweise Roboter oder andere Automatisierungsverfahren angewandt werden sollen, um lästige Routinetätigkeiten zu beseitigen oder zu reduzieren, und wo dies nicht wünschenswert ist oder sogar schädlich sein könnte.

Semprun mag darin eine „Inkonsequenz“ (S. 149) sehen, doch die liegt in der Sache selbst. Wo er dem Manifest ein wenig gönnerhaft zugesteht, es würde an manchen Stellen vor seiner eigenen angeblich technikfetischistischen Sichtweise zurückschrecken, es sei dort „ein gewisses Zaudern” (S. 148f.) zu verspüren, erwartet er eine Eindeutigkeit, die es nur geben kann, wenn man den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen vollkommen einseitig auflöst und an die Stelle des herrschenden gesellschaftlichen Zwangsprinzips ein anderes, ebenso abstrakt-allgemeines Prinzip setzen will, nämlich die unterschiedslose Abschaffung jeglicher industriellen Produktion und modernen Technologie. Insofern ist Sempruns vorgebliche Radikalität in Wahrheit nur der in sein Gegenteil verkehrte Rigorismus der bürgerlichen Gesellschaft, von dem es sich zu befreien gilt.

Ende der Arbeit?

Da Semprun den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen vollkommen ignoriert, kann er auch die von ihm ausgelöste Krisendynamik und vor allem ihre Brisanz nicht erkennen. Eine Krise der Arbeit gibt es in seinen Augen überhaupt nicht, denn auch wenn die „technologische Erneuerung“ teilweise lebendige Arbeitskraft verdränge, habe der gleiche Prozess doch zugleich viele andere „Lohnarbeitstätigkeiten“ überhaupt erst „gesellschaftlich notwendig gemacht“, nämlich „die psycho-soziale Betreuung der ‚einsamen Massen’, die Polizeikontrolle der ‚Barbarisierung’, die ‚Gesundheits’industrie (…), die Zerstreuung sowie die ‚kulturellen’ Kompensationen für die Verödung des Lebens, ganz zu schweigen von den ‚Reparaturen’, dem technischen Herumbasteln an der Neo-Natur“ (S. 147). Von einem Verschwinden und Überflüssigwerden der Arbeit also keine Spur.

Semprun verwechselt auch hier wieder die Ebenen der Argumentation. Natürlich schafft die moderne Warengesellschaft (und nicht der „technologische Prozess“ als solcher) jede Menge Tätigkeiten, die keinen anderen Zweck haben, als das Funktionieren der Verwertungsmaschinerie zu gewährleisten, Tätigkeiten, die also einzig und allein innerhalb der Logik dieser Gesellschaft „notwendig“ sind. Das gilt neben den von Semprun erwähnten Bereichen auch für einen großen Teil der materiellen Warenproduktion selbst, der in erheblichem Maße kompensatorischen Charakter hat, und es gilt vor allem auch für den gesamten Sektor der Waren- und Geldzirkulation, von der Buchhaltung über das Marketing bis hin zur staatlichen Umverteilungsbürokratie (vgl. dazu ausführlich Valdivia 2004 und 1997). Doch auch wenn diese Tätigkeiten mit der Totalisierung der Warenproduktion zum gesellschaftlichen System einen immer größeren relativen Anteil an der gesellschaftlichen Gesamtarbeit umfassen, so ändert dies nichts daran, dass sie auf eine funktionierende Kapitalverwertung angewiesen sind. Das heißt, sie werden nur so lange ausgeübt, wie sie entweder selbst wertproduktiv sind, also zur Vermehrung der Wertmasse beitragen, oder über die Abschöpfung von Wert finanziert werden können (wie im Fall der Staatstätigkeiten und des Sektors der Warenzirkulation). Gerät also die Kapitalverwertung aufgrund der ungeheuren Rationalisierungsprozesse insgesamt in die Krise, so bleiben natürlich auch diese Sektoren davon nicht ausgespart. Wie überall anders kommt es zur Stilllegung „unrentabler“ Produktionen und zu Einsparungen in den öffentlich finanzierten Bereichen, wobei natürlich nicht aufgrund stofflich-sinnlicher Kriterien und konkreter Bedürftigkeit, sondern allein aufgrund von „Verkäuflichkeit“ und „Finanzierbarkeit“ entschieden wird. So werden beispielsweise Gesundheitsleistungen nicht mehr öffentlich bereitgestellt, während gleichzeitig weiterhin massenhaft Autos auf den Markt geworfen werden. Und das bedeutet von der anderen Seite her betrachtet: Während diejenigen, die ihre Arbeitskraft noch verkaufen können, auch weiterhin am kompensatorischen Konsum partizipieren, soweit es ihre Kaufkraft eben zulässt, sind immer mehr „überflüssig“ gemachte Menschen nicht mehr in der Lage selbst noch die elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Es geht daher vollkommen an der Sache vorbei, diese beiden Seiten gegeneinander auszuspielen, wie Semprun es tut. Er verfehlt damit argumentativ die zentrale These des Manifests, dass die tief greifende Rationalisierung im Gefolge der mikroelektronischen Revolution die Arbeitssubstanz abschmilzt und damit die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft insgesamt untergräbt. Dies folgt aus seiner Reduktion des Kapitalismus auf die Kategorie der „Industriegesellschaft“, womit er eine Eindimensionalität erzeugt, die keinen Raum für den inneren Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen mehr bietet und einer ökonomiekritischen und krisentheoretischen Analyse den Boden entzieht.

Aber auch andere Kritiker, die sich wie Santini und ERN explizit auf die Ebene der Mehrwertproduktion beziehen, kommen in ihrer Infragestellung der Krisendiagnose nicht über die Oberfläche der Erscheinungen hinweg – und treffen sich dabei teilweise mit Semprun. So schreibt Santini: „Die Arbeitslosigkeit ist nicht das explosive Problem, das die Moderne beenden wird, weil zugleich mit der Zerstörung der alten typischen ‚Arbeitsplätze’ neue Arbeiten entstehen und neue Möglichkeiten der Auspressung von Mehrwert ständig hinzukommen“ (S. 157). Als Beleg für diese These verweist er insbesondere auf das Wachstum der „informellen Ökonomie“ und den „ausgedehnten Sektor der Freiwilligenarbeit“ (ebd.). Ganz ähnlich argumentieren ERN, die zwar feststellen: „Der feste und durch Tarifverträge garantierte Arbeitsplatz neigt tatsächlich dazu zu verschwinden“, sogleich aber hinzufügen: „Jedoch macht er einer Vielfalt von Lohnarbeitsformen Platz: Zeitarbeit, Vertragsarbeit, Teilzeitarbeit, Selbstunternehmertum, Schwarzarbeit usw.“ (S. 160). Die grundsätzliche Schwäche dieser Kritiken besteht darin, dass sie sich gar nicht oder nur oberflächlich auf den theoretischen Begründungszusammenhang der Krisendiagnose einlassen, sondern ihr mehr oder weniger unvermittelt scheinbar selbstevidente empirische Belege entgegenhalten. Damit aber sitzen sie den widersprüchlichen Erscheinungsformen auf, in denen sich der Krisenprozess durchsetzt und vermittelt.

Zu diesen Erscheinungsformen gehört, dass sich die Form der Arbeit in der Tat fast universell durchgesetzt hat, dass also weltweit immer mehr Menschen dazu gezwungen sind, ihre Arbeitskraft entweder direkt oder über den Umweg selbst produzierter Waren und Dienstleistungen irgendwie zu verkaufen, um überleben zu können. Das liegt schlicht daran, dass die Warenproduktion alle anderen Formen sozialer Reproduktion zerstört oder marginalisiert hat. Allerdings sagt dies nicht das Geringste darüber aus, ob diese Arbeiten auch wertproduktiv sind, ob sie also zur Akkumulation von Kapital beitragen und in welchem Ausmaß. Bei der von Santini angeführten „Freiwilligenarbeit“ (und der sich damit überschneidenden staatlichen Zwangsarbeit) ist dies sowieso nicht der Fall, da ja selbst noch die Entlohnung entfällt. In aller Regel substituieren diese Tätigkeiten nur staatliche oder öffentliche Aktivitäten. Zwar wird so durchaus zum Funktionieren des kapitalistischen Gesamtzusammenhangs beigetragen, nur dass diese Arbeit nicht einmal mehr aus der abgeschöpften Wertmasse finanziert wird. Insofern spricht ihre Zunahme gerade nicht gegen die Krisendiagnose, sondern kann vielmehr als ein Krisensymptom gelten.

Aber auch für einen ganz erheblichen Teil des informellen Sektors gilt, dass er nicht zur Ausdehnung der Wertmasse und damit zur Kapitalakkumulation beiträgt. Das gilt nicht nur für den großen Bereich der Selbsthilfe, sondern ebenso auch für all die unzähligen Tätigkeiten, die sich zwar über Ware und Geld vermitteln, aber nur der persönlichen Reproduktion dienen. So erlischt beispielsweise der von einem Schuhputzer oder einer Haushaltshilfe produzierte Wert unmittelbar im Konsum und dient also nicht der Verwertung von Kapital. Das gilt übrigens unabhängig davon, ob diese Tätigkeiten nun „formell“ oder „informell“ ausgeübt werden. Insofern ist dies gar nicht das entscheidende Merkmal. Dennoch ist das rasante Wachstum der „Informalität“ nicht nur in der Peripherie, sondern zunehmend auch innerhalb der Metropolen durchaus ein Zeichen für das Abschmelzen der Arbeitssubstanz; denn es verweist darauf, dass die Wertschöpfung in einem Großteil der Welt so gering ausfällt, dass sie weder zur Kapitalverwertung (über Mehrwert) noch zur Finanzierung staatlicher Funktionen (über Steuern und Abgaben) oder gar zur Absicherung der persönlichen Zukunft (über Versicherungen und Ersparnisse) ausreicht, sondern bestenfalls noch das prekäre Überleben auf immer niedrigerem Niveau gewährleisten kann (vgl. Trenkle 1999).

Aber auch der Verweis auf die Masse prekarisierter Arbeiten in den unzähligen kleinkapitalistischen Klitschen und Sweatshops, den Maquilas und Weltmarktfabriken (egal ob nun im informellen oder formellen Sektor), die ihrem Charakter nach durchaus wertproduktiv sind, widerlegt die Krisendiagnose keinesfalls. Denn er blendet die Frage nach dem Produktivitätsniveau dieser Arbeiten einfach aus. Diese Frage ist aber höchst bedeutsam, denn der Wert eines Produkts ergibt sich ja bekanntlich nicht einfach aus der unmittelbar für seine Herstellung verwendeten Arbeitszeit, sondern aus der gesellschaftlich notwendigen. Die wiederum wird definiert durch das jeweils vorherrschende Produktivitätsniveau, und das heißt heute: durch die Produktivitätsstandards der durchrationalisierten, technologisch hochgerüsteten Kernsektoren der Weltmarktproduktion. An ihnen muss sich jede einzelne Arbeitsstunde in der Welt messen lassen; erreicht sie das Niveau nicht, stellt sie eben entsprechend weniger Wert dar. Dies verweist auf einen zentralen Wesenszug der abstrakten Herrschaft des Werts: als vorausgesetztes universelles Prinzip setzt er zugleich universelle Maßstäbe für Arbeitszeit und „Effizienz“, denen sich letztlich alle Menschen auf der Erde unterwerfen müssen, ohne darauf Einfluss zu haben. Darüber wacht der Weltmarkt mit unerbittlicher Konsequenz.

Was aber bedeutet das? Zunächst: Wo die Produktion sich nicht auf dem höchsten technologisch-organisatorischen Niveau bewegt, kann der Rückstand zwar durch Ausdehnung der Arbeitszeiten, Herabsenkung der Arbeitsstandards und Einsparung von Kosten bei Arbeitssicherheit, Umweltschutz etc. „ausgeglichen“ werden. Doch auch wenn damit eine profitable Verwertung des betreffenden Einzelkapitals erreicht werden mag, so bedeutet es keinesfalls ein Wachstum der Wertmasse auf der Ebene des gesellschaftlichen Gesamtkapitals. Denn die solcherart vernutzte Arbeitskraft ist gemessen am Weltniveau extrem unterproduktiv, insofern als beispielsweise 12 Stunden brutalster Schufterei in einem Sweatshop weniger Wert darstellen als eine Stunde oder wenige Minuten Arbeit in einer High-Tech-Weltmarktfabrik. Auch wenn die Menschen noch so sehr ausgepresst werden, kann dies die gigantische (und immer größer werdende) Produktivkraftlücke niemals kompensieren. Die gewaltige Ausbreitung der prekarisierten Elendsarbeit ist insofern auch nicht Ausdruck einer Verbreiterung der Wert- bzw. der Akkumulationsbasis des Kapitals und damit einer kapitalistischen Lösung der Krise, sondern vielmehr eine ihrer Verlaufs- und Durchsetzungsformen. Während es den Einzelkapitalien vollkommen egal ist, wie sie ihre Profite erwirtschaften, und sie daher je nach Gelegenheit und Kostengefälle hochproduktive High-Tech-Sektoren und unterproduktive Billigarbeit kombinieren, ist die Masse der Menschen schlicht und einfach dazu gezwungen, sich irgendwie zu verkaufen, weil sie unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen keine Alternative dazu besitzen.

Es greift viel zu kurz, diese Entwicklung einfach nur als „neue Organisation des Systems“ zu beschreiben, die „verschiedene Formen der Arbeitsorganisation nebeneinander bestehen“ lässt (S. 161), wie ERN dies tun. Das ist nicht viel mehr als eine empirisch verkürzte Momentaufnahme. Tatsächlich handelt es sich bei diesem „Nebeneinander“ um den widersprüchlich-dynamischen Prozess einer Abwärtsspirale von Abschmelzen der Wertbasis und Prekarisierung. Während einerseits das Produktivitätsniveau in den Kernsektoren der Weltmarktproduktion immer weiter in die Höhe geschraubt und dadurch der Wert der unterproduktiven Arbeit permanent gesenkt wird, verschärft die Verdrängung der lebendigen Arbeit zugleich die Dumpingkonkurrenz unter den Überflüssiggemachten, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind. Diese Spirale ist Ausdruck des fundamentalen Krisenprozesses, der sich zwar noch über viele Jahrzehnte hinziehen kann, der aber aus sich heraus nur eine Richtung kennt: abwärts.

Allerdings, auch wenn dieser Krisenprozess letztendlich die Grundlagen der warenproduzierenden Gesellschaft als Ganzer untergräbt, trifft er in seinem Verlauf doch nicht alle in der gleichen Weise, sondern verschärft die bereits grundsätzlich in deren Basisstruktur angelegten Hierarchien, Spaltungen und Ausschlüsse – auf einem insgesamt sinkenden Niveau der materiellen und sozialen Reproduktion. Insofern ist es zweifellos richtig, wenn ERN darauf hinweisen, dass Frauen „besonders betroffen (sind), so dass man von einer geschlechterspezifischen Flexibilisierung sprechen kann“ (S. 161). Allerdings geht es an der Sache vorbei, dies als „bewusste Strategie zur Reproduktion des Kapitals“ (S. 159) im Sinne einer weiteren Erschließung neuer Felder für die Akkumulation zu sehen, zu denen neben der Gentechnik auch die Hausarbeit gehören soll. Der Zug fährt vielmehr genau in die entgegengesetzte Richtung. In der Hochphase der kapitalistischen Entwicklung, im fordistischen Expansionsboom der Nachkriegszeit, wurde in der Tat ein gewisser Teil der Tätigkeiten, die mit der Durchsetzung der Warenproduktion „weiblich“ eingeschrieben und aus der Sphäre der Arbeit abgespalten wurden, kommerzialisiert (Haushaltsgeräte, konfektionierte Nahrungsmittel etc.) oder durch staatlich organisierte Dienstleistungen (vor allem im Gesundheits- und Pflegesektor) substituiert; das setzte die zugrunde liegende Abspaltungslogik zwar nicht außer Kraft, trug aber dazu bei, ihre Grenzen zu verschieben und damit eine gewisse Verwirrung in der patriarchalen Ordnung zu stiften.

Im Krisenprozess sind es aber genau diese Tätigkeiten, die als erste auf spezifische Weise wieder „reprivatisiert“ werden und nun in verstärktem Maße auf „die Familie“, was unter den Bedingungen der herrschenden Geschlechterhierarchie heißt: auf die Frauen, abgewälzt werden. Und das ist nicht nur ein äußerlicher Prozess der Regression auf der Ebene der geschlechtlichen „Arbeitsteilung“, sondern geht mit einer Revitalisierung der kapitalistisch konstituierten Geschlechterordnung und einer „Verwilderung des Patriarchats“ (Scholz 1998) einher. Nicht zufällig sind es in den größer werdenden Krisen- und Katastrophengebieten der Welt überwiegend Frauen, die individuell und kollektiv für das (Über-)Leben sorgen und die Netzwerke der Selbsthilfe und Selbstorganisation tragen. Umgekehrt sind es fast ausschließlich Männer, die in Form individueller Gewalt und organisierten Bandenwesens die Grundlagen der Reproduktion noch weiter zerstören, als es der ökonomische Krisenprozess ohnehin tut. Objektive und subjektive Barbarisierung der kapitalistischen Gesellschaft verschränken sich auf diese Weise in ihrem Niedergang ganz unmittelbar.

Dagegen wenden ERN ein: „… nicht nur in den kapitalistischen Gesellschaften barbarisiert sich das Patriarchat“ (S. 159). Doch welche nicht-kapitalistischen Gesellschaften meinen sie? Die Warengesellschaft hat sich längst als weltweites System etabliert und alle anderen sozialen und kulturellen Vergesellschaftungsformen verschluckt oder marginalisiert. Und dazu gehört nicht nur, dass sich Arbeit, Wert und Ware global als die Zwangsprinzipien der gesellschaftlichen Vermittlung durchgesetzt haben; auch die untrennbar mit ihnen zusammenhängende Struktur der Geschlechterhierarchie hat sich verallgemeinert. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Warengesellschaft das Patriarchat aus dem Nichts geschaffen hätte, wie ERN unterstellen; doch ist ihr eine ganz bestimmte Form geschlechtshierarchischer Ordnung inhärent, die auf der Abspaltung all jener sinnlich-emotionaler Momente beruht, die nicht in der abstrakten Selbstbewegung des Werts aufgehen und die strukturell „weiblich“ eingeschrieben werden (Scholz 1999). Natürlich gibt es auch innerhalb dieser Ordnung allerlei Differenzen, die aus unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und den je verschiedenen Geschichten der Integration in das kapitalistische Weltsystem resultieren. Doch was da weltweit an scheinbar „archaischen Formen“ patriarchaler Herrschaft in der Krise aufscheint, lässt sich ebenso durchgängig als Phänomen der „Modernisierung“ und ihres Zusammenbruchs entschlüsseln, wie die damit verbundenen „Fundamentalismen“ (etwa bei den Taliban).

Warten auf den eigenen Tod?

Zu den gängigen Einwänden gegen die Diagnose, der Kapitalismus stoße an seine absoluten Grenzen, gehört, diese sei „objektivistisch“ (Santini, S. 156), „katastrophistisch“ (Reeve, S. 152) und „zutiefst deterministisch“ (ERN, S. 160). In der Regel ist dies darüber hinaus mit dem Vorwurf des Attentismus verbunden. Es wird also die selbstmörderische Konsequenz unterstellt, dass es eines bewussten Handelns zur Aufhebung der Warengesellschaft gar nicht bedürfe, weil diese sich ja schon von selbst erledige. „Denn wer darauf wartet, dass die Maschine des Kapitals von selbst stoppt, läuft Gefahr, auf den eigenen Tod zu warten“ (ERN, S. 163). Nun hat aber das Manifest an keiner Stelle behauptet, man solle die Arme verschränken und auf „den Zusammenbruch des Kapitalismus“ warten. Im Gegenteil, es ist eine einzige Aufforderung, sich gegen die Zumutungen des Krisenprozesses und seiner Verwaltung zur Wehr zu setzen. Wie also kommt es zu dieser doch recht seltsamen Lesart?

Was hier herumspukt, ist das Schreckgespenst der Geschichtsmetaphysik des traditionellen Marxismus, der zufolge die Prognose objektiver Grenzen der kapitalistischen Gesellschaft immer untrennbar mit deren Aufhebung verknüpft war. Dies ergab sich theorieimmanent aus der zugleich äußerlichen wie positiven Sicht auf den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Denn dieser bereite angeblich die sozialistische Gesellschaft vor, indem er die Vergesellschaftung der Produktionsmittel vorantreibe und gleichzeitig den Klassengegensatz verschärfe, so dass es letztlich nur darauf ankomme, dass „das Proletariat“ sich dessen bewusst werde und die Herrschaft „des Kapitals“ breche. In dieser Perspektive immer schon vorausgesetzt war das angeblich „objektiv“ gegebene Subjekt der Emanzipation, das allerdings erst noch seiner historischen Aufgabe bewusst werden und sich dementsprechend organisieren müsse.

Nach dem Abschied vom Geschichtsoptimismus der Arbeiterbewegung hat die Linke zugleich auch den Gedanken einer inhärenten Schranke des Kapitalismus gleich mit verworfen. Wer darauf beharrt, setzt sich dem Vorwurf der Geschichtsmetaphysik aus. Demgegenüber gilt es nun weithin als ausgemacht, dass der Kapitalismus auf ewig weiter bestehen könne, solange er eben nicht von einem starken Gegensubjekt von der Bildfläche gefegt werde. Diese Auffassung scheint gar keiner näheren Begründung mehr zu bedürfen. Es kommt ihren Vertretern gar nicht in den Sinn, dass sie selbst zutiefst geschichtsmetaphysisch ist, denn sie schreibt dem Kapitalismus eine Art ewiges Leben und eine unendliche Potenz der Regeneration zu, ohne dies näher zu begründen. Der aus heutiger Sicht groteske Geschichtsoptimismus der alten Arbeiterbewegung und des traditionellen Marxismus war jedoch nicht deshalb falsch, weil er auf einer objektivierten Logik beharrte, die im Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen angelegt sei. Falsch war es erstens, diese historisch ganz spezifische Eigenart der kapitalistischen Gesellschaft zu einer übergreifenden Logik der Geschichte überhaupt zu verklären („Historischer Materialismus“), und zweitens, zu unterstellen, sie führe letztlich zumindest bis an die Schwelle gesellschaftlicher Emanzipation heran (vgl. den Aufsatz von Christian Höner in dieser Ausgabe der krisis sowie Trenkle 2000).

Tatsächlich ist die selbstläufige Entwicklungslogik der warenproduzierenden Gesellschaft in ihrer Grundtendenz keineswegs positiv. Auch wenn sie, wie oben ausgeführt, bestimmte Potentiale hervorgebracht hat, die in einer befreiten Gesellschaft sinnvoll entwickelt und genutzt werden können, bedeutet dies noch lange nicht, dass sie auch die objektiven und subjektiven Bedingungen für ihre eigene Aufhebung schafft. Als verselbständigtes Fetischsystem, in dem die gesellschaftlichen Beziehungen in verdinglichter Form ihr Eigenleben führen, die die Menschen als scheinbar äußerliche Gewalt beherrschen, und das sich jeglichem konkreten Inhalt und sinnlichen Zweck gegenüber vollkommen gleichgültig verhält, ist ihm eine grundlegende Tendenz der Vernichtung und Zerstörung eingeschrieben.

Dies als „Katastrophismus“ abzutun, läuft letztlich auf die Ausblendung der realen Katastrophe hinaus, die der Krisenprozess ganz real schon heute für einen Großteil der Menschheit bedeutet, der vom System der abstrakten Arbeit für überflüssig erklärt wurde. Denn seine schlimmsten Verwüstungen richtet die Krise ja gerade dort an, wo eine Kapitalverwertung im breiten Maßstab gar nicht mehr möglich ist. Etwa dort, wo mit dem Zusammenbruch der Weltmarktteilnahme auch der Nationalstaat zerfällt und nun marodierende Banden die Konkurrenz in Form des Krieges und der Plünderung fortsetzen – wie in großen Teilen Afrikas und des ehemaligen Ostblocks. Oder wo Menschen der Zugang zu landwirtschaftlichen Flächen, Gebäuden und Fabriken verwehrt wird, obwohl diese längst nicht mehr kapitalistisch vernutzt werden können, weil die Absatzmärkte zusammengebrochen sind. Es interessiert nicht, dass Menschen verhungern, obwohl nebenan Ressourcen brachliegen oder stillgelegt werden, weil sie in der Form von Arbeit und Warenproduktion nicht mehr „rentabel“ sind. Damit wird die absolute Gleichgültigkeit dieser gesellschaftlichen Form gegenüber den konkreten Bedürfnissen der Menschen in ihrer ganzen Härte sichtbar. Ressourcen sind nur dann gesellschaftlich gültig, wenn sie Wert repräsentieren und für die Verwertung von Wert eingesetzt werden können. Jede andere Möglichkeit ihrer Nutzung, etwa die selbstorganisierte Produktion von Lebensmitteln für Menschen, die Hunger haben, aber keine Kaufkraft besitzen, wird von vorneherein für unstatthaft erklärt und notfalls gewaltsam verhindert. Der Selbstzweckcharakter der Warenform wird hier vollends grotesk. Die gesellschaftliche Form wird nur noch um ihrer selbst willen mit aller Gewalt aufrechterhalten, obwohl ihre Substanz, die massenhafte Vernutzung lebendiger Arbeitskraft, verschwindet. Damit schlägt der Fetischismus von Arbeit und Warenform in die offene Vernichtung der Welt um. Was innerhalb der warengesellschaftlichen Formprinzipien nicht mehr möglich ist, soll überhaupt nicht mehr sein dürfen.

Die grundsätzliche Schwierigkeit besteht unter diesen Bedingungen darin, dass sich eine soziale Emanzipationsbewegung nur gegen die objektivierte Zerstörungs- und Vernichtungslogik des Krisenprozesses formieren kann. Dies ist eine grundsätzlich andere historische Situation als diejenige, in der sich die Arbeiterbewegung herausbildete. Als organisierte Repräsentantin der Ware Arbeitskraft hatte sie den objektiven Trend einer Verallgemeinerung des Systems von Ware und Arbeit im Rücken; und das schürte ihren Geschichtsoptimismus, obwohl es in Wahrheit ein Zeichen für ihre grundsätzliche Immanenz war. Damit soll nicht geleugnet werden, dass es in der Arbeiterbewegung überschüssige emanzipatorische Momente und Tendenzen gab, die über die Immanenz des Kampfes um die gesellschaftliche Anerkennung der Arbeitskraftverkäufer hinausgingen. Doch repräsentierten sie eben gerade nicht das „An Sich“ des Proletariats und wurden deshalb auch unter dem objektiven Druck der kapitalistischen Expansionsbewegung stets integriert oder neutralisiert. Die Möglichkeit sozialer Emanzipation liegt insofern nicht darin begründet, dass ein prädestiniertes objektiv gegebenes Subjekt „in seinen Kämpfen (…) zum Subjekt ‚für sich’“ wird (S. 162), wie ERN in Anlehnung an Lukács schreiben, sondern darin, dass solche Momente prinzipiell in jeder solidarischen Gegenwehr gegen die Zumutungen des Krisenprozesses und seiner (post-)politischen Verwaltung auf allen Ebenen und in allen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenhangs enthalten sind. Es kommt darauf an, was sich ausgehend von ihnen entwickelt (vgl. Lohoff 2004 und Trenkle 2004). Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die Einsicht, dass es innerhalb der kapitalistischen Logik keinerlei Perspektiven mehr gibt und dass daher die Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums im Bruch mit dieser Logik eine existentielle Notwendigkeit darstellt. Insofern ist die Krisenanalyse alles andere als eine Aufforderung, auf den eigenen Tod zu warten. Sie steckt vielmehr den Rahmen ab, in dem sich die Kämpfe für die soziale Emanzipation unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts bewegen werden.

Literatur

Les Éditions Rouge et Noir: Kommentare und Gedanken zur Krise der Arbeit, in: krisis 27, Bad Honnef 2003 [Nachwort zu: Manifeste contre le travail, Québec 2003, Übers. Wolfgang Kukulies].

Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt 1985 [1947].

Ernst Lohoff: Das Schweigen der Lämmer, in: Lohoff u.a. (Hg.): Dead Men Working, 2004.

Ernst Lohoff, Norbert Trenkle, Maria Wölflingseder und Karl-Heinz Lewed (Hg.): Dead Men Working. Gebrauchsanweisungen zur Arbeits- und Sozialkritik in Zeiten kapitalistischen Amoklaufs, Münster 2004.

Georg Lukács: Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats, in: Geschichte und Klassenbewusstsein, Darmstadt 1988 [1922].

Karl Marx: Das Kapital (Erster Band), MEW 23, Berlin 1983 [1867].

Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, Freiburg i. Br. 2003 [Time, Labour and Social Domination, Cambridge/New York 1993].

Charles Reeve: Wenn der Berg kreißt und eine Maus gebiert, in: krisis 27, Bad Honnef 2003 [Aus: Oiseau-tempête 10/2004, Übers. Wolfgang Kukulies].

Luca Santini: Anmerkungen zum „Manifest gegen die Arbeit“, in: krisis 27, Bad Honnef 2003 [Appunti su il „Manifesto contro il lavoro“, in: INFOXOA 016, Rom 2003, Übers. Lorenz Glatz].

Franz Schandl: Mehrwert und Verwertung – Ausführungen zum Okkultismus der Ware Arbeitskraft, in: Streifzüge 30/2004, Wien.

Roswitha Scholz: Die Verwilderung des Patriarchats in der Postmoderne, in krisis 21/22, Bad Honnef 1998.

Dies.: Wert und Geschlechterverhältnis, in Streifzüge 2/1999, Wien.

Jaime Semprun: Bemerkungen zum „Manifest gegen die Arbeit“, in: krisis 27, Übers. Anselm Jappe u. Wolfgang Kukulies, Bad Honnef 2003.

Norbert Trenkle: Es rettet Euch kein Billiglohn!, in: Robert Kurz, Ernst Lohoff und Norbert Trenkle (Hg.): Feierabend! Elf Attacken gegen die Arbeit, Hamburg 1999.

Ders.: Kapitulation vorm Kapitalismus, in: Konkret Juli 2000.

Ders.: Gebrochene Negativität. Anmerkungen zu Adornos und Horkheimers Aufklärungskritik, in: krisis 25, Bad Honnef 2002.

Ders.: Antipolitik in Zeiten kapitalistischen Amoklaufs, in: Lohoff u.a. (Hg.): Dead Men Working, 2004.

Gaston Valdivia: „Zeit“ ist Geld und Geld ist „Zeit“. Von der Produktion der „Zeit“ zu ihrer marktwirtschaftlichen Dekonstruktion, in: krisis 19, Bad Honnef 1997.

Ders.: Zeitverschwendung Marktwirtschaft, in Lohoff u.a. (Hg.): Dead Men Working, 2004.


Fußnoten

[1] Einige Einwände lassen sich wohl auch darauf zurückführen, dass die Texte, in denen die eher apodiktischen Thesen des Manifests ausführlicher theoretisch begründet werden, nur partiell übersetzt vorliegen. Andererseits wurden auch im deutschsprachigen Raum ganz ähnliche Kritiken formuliert.

[2] Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich die Seitenzahlen in den Klammern auf krisis 27.

[3] Zur Kritik an Lukács vgl. Postone 2003, vor allem S. 122ff.

[4] „Die vollständige Transformation der Welt in eine Welt, die mehr eine von Mitteln ist als von Zwecken, ist selbst die Folge der historischen Entwicklung der Produktionsmethoden. Indem die materielle Produktion und soziale Organisation komplizierter und verdinglichter werden, wird es immer schwieriger, die Mittel als solche zu erkennen, da sie die Erscheinung autonomer Wesenheiten annehmen“ (Horkheimer 1985, S. 101).

[5] Es geht nicht darum, zu behaupten, nur der Kapitalismus hätte diese Potentiale hervorbringen können. Dies hätte prinzipiell auch in anderer Weise geschehen können. Insofern braucht es auch keine nachträgliche Rechtfertigung der „zivilisatorischen Mission” des Kapitals, wie sie der historische Materialismus mit seinem mechanischen Geschichtsoptimismus und seiner Teleologie immer vertreten hat. Aber es ist nun einmal als historisches Faktum zu konstatieren, dass der Kapitalismus bestimmte Potentiale hervorgebracht hat – so wie frühere fetischistische Gesellschaften auch – und dies ist die Grundlage, auf der eine Befreiung ansetzen muss.