aus: Lohoff, Ernst; Trenkle, Norbert; Wölflingseder Maria; Lewed, Karl-Heinz (Hg): Dead Men Working. Gebrauchsanweisungen zur Arbeits- und Sozialkritik in Zeiten kapitalistischen Amoklaufs, Münster 2004, S. 13 – 41
von Ernst Lohoff
Die Umwertung des Sozialen
Kaum ein Tag vergeht, an dem Politiker, Arbeitgeberverbände oder irgendwelche so genannten Wirtschaftsexperten nicht mit neuen Vorschlägen zur ›Rettung des Sozialstaats‹ und zur Verbesserung der Arbeitsmarktlage aufwarten würden. Mit einer nie da gewesenen Geschwindigkeit verändert die sich überschlagende ›Reformpolitik‹ das Gesicht der mitteleuropäischen Gesellschaften. Der Begriff ›sozial‹ macht einen grundlegenden Bedeutungswechsel durch. In der Zeit des ›Rheinischen Kapitalismus‹ stand dieses kleine Adjektiv für ein tief gestaffeltes System gesellschaftlicher Institutionen, die der Vernichtungskonkurrenz Grenzen setzten. Auch diejenigen, die aufgrund von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Alter vorübergehend oder dauerhaft daran gehindert waren, vom Verkauf ihrer Arbeitskraft zu leben, sollten von den Früchten der Arbeitsgesellschaft etwas abbekommen. ›Sozial‹ meint dagegen heute, die sukzessive Außerkraftsetzung dieser Ordnung. An die Stelle kollektiv abgefederter Abhängigkeit vom Markt tritt die unmittelbare Auslieferung an die totale, konsequent individualisierte Konkurrenz.
›Sozial ist, was Arbeit schafft‹ lautet die Zauberformel dieser Umwertung. Kapitalverwertung schafft Arbeitsplätze, folglich gilt als ›sozial‹, was diese befördern könnte. Das Wort ›unsozial‹ bezeichnet dagegen alles das, was die ebenso scheuen wie seltenen InvestorenRehlein womöglich schreckt oder gar belastet. Ob Rente, Krankenversicherung oder Arbeitslosengeld: jede Arbeitskraftverkäuferin und jeder Hilfsbedürftige trägt für eine gelingende Verwertung seine Verantwortung. Aus Fürsorge gegenüber der Verwertungsmaschine ist von jeder ›Anspruchshaltung‹ Abstand zu nehmen. Am besten er mutiert zum Elendsunternehmer. Das Motto dieses Umbaus: ›Wo Lohnnebenkosten sind, soll Eigenverantwortung werden.‹ ›Sozial‹ sind fernerhin sämtliche Maßnahmen, die den Druck auf jeden Einzelnen erhöhen, koste es, was es wolle, seine Haut zu Markte zu tragen. Jedwede Laxheit bei der gebotenen Selbstzurichtung zu Humankapital gefährdet nämlich die Grundlage der Gesellschaft und muss dementsprechend Ächtung und die Aberkennung des soziale Existenzrechts nach sich ziehen. Auf den Sozialstaat angewiesen zu sein, heißt, dieser perversen Logik zufolge, einen Anschlag auf ihn zu verüben. Wer vom Markt für überflüssig befundenen Menschen Elend und Demütigungen ersparen will, handelt aber nicht nur gegenüber der Gesellschaft verantwortungslos, er versündigt sich auch noch am ureigensten Recht der Sozialstaatsklienten auf Selbstbestimmung. Indem sie eine Hängemattenmentalität züchte, blockiere die Existenz des Sozialstaats die freie Persönlichkeitsentfaltung. Keine Perfidie, die sich mit diesem Argument nicht rechtfertigen ließe. Hier nur ein Beispiel: In Österreich tobt – wie überall sonst auch – gerade eine Debatte um die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Der emeritierte Wiener Volkswirtschaftsprofessor Erich Streissler übernimmt dabei die Rolle des ›unkonventionellen Vordenkers‹ und schlägt die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 72 Jahre vor. Wie begründet er diese Forderung? Etwa mit der bedenklichen Kassenlage der staatlichen Rentenversicherungen? Weit gefehlt. Die Altersgrenze ist aus Gründen der Humanität anzuheben. Menschen früher aus der Arbeitsmühle zu entlassen und zum alten Eisen zu werfen, heißt, ihnen Gewalt antun! Angesichts der Wucht, mit der dieses Programm der Neubestimmung des Sozialen über diese Gesellschaft hereinbricht und angesichts des hohen Akzeptanzgrads, den es findet, möchte man kotzen. Weit und breit kein Widerstand, der diesen Namen verdienen würde. Höchstens ein paar ewiggestrige linke Gewerkschaftler und Kirchenvertreter wollen nicht so recht mitziehen. Leise geben sie zu bedenken, dass der Mensch vielleicht doch nicht ganz im homo oeconomicus aufgehe, aber nur, um für so viel Unverstand allgemeines Kopfschütteln zu ernten. Ansonsten schweigen die Lämmer.
Die Ware Arbeitskraft – keine Ware wie jede andere
So durchschlagenden Erfolg die arbeitsterroristische Gehirnwäsche hat, rechter Jubel will unter den Einpeitschern nicht aufbranden. Stattdessen zeigen sie sich ob des Erreichten hochgradig unzufrieden. Die Diagnose ›Reformstau‹ macht nach wie vor die Runde, und sämtliche selbsternannten Standort-Retter beschweren sich unisono über das ›kakophonische Stimmengewirr‹ aus unausgegorenen Vorschlägen, über ›kurzatmigen Aktionismus‹ auf Seiten der Regierung und darüber, dass die konkurrierenden Anbieter ›bloßes Stückwerk‹ liefern würden. Nicht nur in Hollywood folgt auf miese Filme vom Kaliber »Nackte Kanone« unweigerlich der zweite, dritte und vierte Teil, auch in Berlin wird seit Herbst 2003 bereits »Hartz 4« verhandelt. Man muss wahrlich kein Prophet sein um vorherzusagen, dass auch diesem Wurf eine ›Nachbesserung‹ nach der anderen folgen wird.
Fanatiker können nie genug bekommen. Das ist allerdings nicht der einzige Grund für das nimmermüde Klagelied und immergleiche Spiel. Bei aller inneren Kohärenz, in ein konsistentes Gesamtkonzept übersetzt sich das arbeitsterroristische Programm tatsächlich in keiner Weise. Nicht nur, dass Teilmaßnahmen unerwünschte fatale Nebenwirkungen zeitigen, sie geraten auch regelmäßig in Widerspruch zueinander; keines der lauthals verkündeten Ziele wird erreicht. Mit einer dauerhaften Stabilisierung der Sozialversicherungskassen ist ebenso wenig zu rechnen wie mit einer Senkung der Arbeitslosenzahlen – von statistischen Effekten einmal abgesehen. Durch den großartigen Umbau der Arbeitsämter in ›Jobagenturen‹ bekommen die privaten Zeitarbeitsfirmen Konkurrenz, zusätzliche Arbeitsplätze entstehen deswegen aber noch lange nicht. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit bleibt angesichts zunehmender Arbeitshetze und Massenarbeitslosigkeit eine Farce. Es stellt sich immer nur die Frage, wer für die aussortierten Älteren zuständig ist, Arbeitsamt oder Rentenversicherung, und auf welches Armutsniveau sie künftig herabgedrückt werden. Und auch sonst gilt: Was die eine öffentliche Kasse entlastet, belastet die andere. Aufgrund der Deregulierung der Ladenöffnungszeiten findet kein Konsument auch nur einen Cent mehr im Portemonnaie, und die in Deutschland als Konjunkturbelebungsmaßnahme angepriesene Abschaffung der Gewerbesteuer ruiniert vornehmlich die kommunalen Haushalte.
Keine Anpassung der Arbeitsbedingungen an das globale Elendsniveau, die im Dumping-Wettbewerb auf dem Weltarbeitsmarkt nicht sofort getoppt würde. Dass angesichts der massenhaften Freisetzung von Arbeitskräften aufgrund des beschleunigten Produktivitätszuwachses phantasiert wird, die Noch-Beschäftigten müssten künftig länger arbeiten, damit die Arbeitslosen endlich in Lohn und Brot kommen, verweist weniger auf höhere Hirnakrobatik denn auf fortgeschrittene Hirnerweichung. Die heimischen Lohnabhängigen werden zu privater Vorsorge für Krankheit und Alter verdonnert, ihnen wird ›Lohnverzicht‹ diktiert, und gleichzeitig denunziert man sie als feige ›Angstsparer‹, die anders als die verantwortungsvollen und daher verschuldungsfreudigen US-amerikanischen Helden des Konsums an der Nachfragefront jämmerlich versagen – alles in einem Atemzug! Das Werk hochkomplex denkender Dialektiker? Wohl eher etwas anderes.
Auch wenn die Arbeitsideologen sich und dem werten Publikum das partout einreden: Die mangelnde Konsistenz der verschiedenen Maßnahmen ist keineswegs nur einer inkonsequenten Umsetzung geschuldet. Die eigentliche Crux ist die Zielvorgabe. Bei der Quadratur des Kreises hat noch nie jemand eine gute Figur gemacht. Beim Projekt ›Rettung des Sozialstaats‹ durch Anpassung an die wirtschaftlichen Erfordernisse handelt es sich um ein Endlosunternehmen, das nie ans offizielle Ziel gelangt, sondern stets nur immer unverschämtere Zumutungen produziert. Wie man es auch dreht und wendet, unter der totalen Herrschaft der Ökonomie ist für die breite Masse der Bevölkerung weltweit nicht einmal ein Minimum an Wohlstand vorgesehen – und zwar verrückterweise, gerade weil das Produktivitätsniveau so enorm gesteigert wurde. Die Ökonomisierungslogik gebietet nämlich nicht nur die Verwandlung von allem und jedem in einen Gegenstand der Verwertung und damit der Verausgabung von abstrakter Arbeit, ihr ist zugleich der Drang inhärent, Arbeitszeit einzusparen. Unter den Bedingungen der mikroelektronischen Revolution läuft Letzteres aber auf die sukzessive Entkoppelung der Reichtumsproduktion von der Anwendung lebendiger Arbeit hinaus. Wie immer Wirtschaftspolitik an den Steuerungsrädchen auch drehen mag, gegen den historischen Prozess der Marginalisierung lebendiger Arbeit – und damit derjenigen, die darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen – kommt sie nicht an. Die Brutalisierung der Arbeitsbedingungen mag so weit voranschreiten wie sie will, der Preis der Ware Arbeitskraft ins Bodenlose sinken: Das transnationale Kapital bleibt, was das Verspeisen lebendiger Arbeit angeht, strukturell appetitlos. Beim globalen Dumping-Wettbewerb der Lohnabhängigen geht es nur darum, welche Konkurrenten dem Kapital noch einmal gnadenhalber ihre Arbeitskraft in den Rachen werfen dürfen, er vergrößert aber nicht die Verdauungsfähigkeit des magenkranken Verwertungsmolochs.
Der Arbeitsmarkt sei ein Markt wie jeder andere und die Arbeitskraft eine Ware wie jede andere. Man müsse dem nur ohne falsche Gefühlsduselei Rechnung tragen, dann fänden im freien Spiel der Kräfte Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage schon zueinander, so hämmert die ökonomieterroristische Propaganda es allen ein. Dauerhafte Unterbeschäftigung sei ex definitione das Resultat von ›Unflexibilität‹ auf der Angebotsseite und falschen, die notwendigen Anpassungsprozesse blockierenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Dieses menschenverachtende Dogma übersieht die primitivsten ökonomischen Zusammenhänge. Die Basisware der kapitalistischen Gesellschaft, die Ware Arbeitskraft, hat einen ganz besonderen Charakter. Die Anbieter anderer Waren fahren bei mangelnder Nachfrage deren Produktion herunter und ziehen sich von den wenig lukrativen Märkten zurück. Wird ein Gut zum Anachronismus – wie die klassische Schreibmaschine nach der Erfindung des Computers oder die Kutsche im Gefolge der Automobilmachung –, dann wird dessen Fertigung eingestellt, und es verschwindet vom Markt. Den Anbietern der Ware Arbeitskraft ist dieser Weg allerdings dummerweise strukturell verstellt. Sie können zwar von einem Teilarbeitsmarkt in den anderen wechseln, die Möglichkeit, dem Arbeitsmarkt als solchem Lebewohl zu sagen, steht ihnen aber keineswegs offen. Da der herrschende Arbeitsterrorismus zudem sein Möglichstes tut, um auch noch die durch die Existenz sozialer Sicherungssysteme entstehenden Schlupflöcher abzudichten, haben sie keine Alternative, als irgendwie doch noch ihre unverkäufliche Ware am den Mann zu bringen. (Von Lottogewinnen, Millionenerbschaften, kriminellen Karrieren und solchen als Fakir und Hungerkünstler sehen wir hier einmal ab.) Aber nicht nur, dass ein Wegbrechen der Arbeitsnachfrage keine Verringerung des Arbeitsangebots nach sich zieht; in einer den ökonomischen Imperativen unterworfenen Welt führt sie im Gegenteil sogar zu dessen Anwachsen. In für sie besseren Zeiten waren die Arbeitskraftverkäufer noch in der glücklichen Lage, haushälterisch mit ihrer Arbeitskraft umgehen zu können und ein gewisses Maß an Verkaufszurückhaltung zu üben. Sie existierten nicht nur als Arbeitsvernutzungseinheiten, sondern konnten nebenbei mit ihrem Leben noch etwas anderes anfangen, weil die Löhne sich auf einem annehmbaren Niveau bewegten und der Sozialstaat eine gewisse Sicherheit bot. Die zunehmende Verdrängung lebendiger Arbeit aus der kapitalistischen Reichtumsproduktion setzt diesem Zustand ein Ende. Allein, wer bereit ist, bis an die Grenzen physischer Leistungsfähigkeit zu schuften und seine gesamte Lebenszeit und -energie dem Arbeitsgötzen zu opfern, wird vielleicht noch Gnade vor ihm finden. Nur Mehrfachjobs und Überstunden erlauben die Kompensation sinkender Realeinkommen.
Angesichts der sukzessiven Entkoppelung der Reichtumsproduktion von der Verausgabung lebendiger Arbeit kann sich ein ›Gleichgewicht von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage‹ auf der Grundlage der ökonomischen Logik eigentlich nur auf einem Weg herstellen: Den vom kapitalistischen Standpunkt Überflüssigen müsste man die Kugel geben, damit sie dem Kapital nicht die Luft zum Atmen stehlen; oder besser noch, sie würden sich aus Einsicht in die volkswirtschaftliche Notwendigkeit freundlicherweise in Luft auflösen.
Natürlich bekennt sich der herrschende Arbeitsterrorismus nicht offiziell zum Ideal der (Selbst-)Liquidation. Er behauptet vielmehr stur, seine Maßnahmen wären der Weg zu ›Arbeit und Wohlstand‹ für alle. Man muss allerdings schon den Kopf in den Sand stecken, um zu übersehen, dass die Vokabeln ›Modernisierung‹ und ›Reform‹ längst eine eindeutig sozialdarwinistische Bedeutung angenommen haben. Schon die unsägliche Standortdebatte atmet den Ungeist einer Vernichtungskonkurrenz, die alle Ebenen der Gesellschaft erfasst. Überall erschallt das gleiche Stoßgebet an den Heiligen Sankt Florian der globalen Marktwirtschaft: Nicht unser Land, nicht unsere Region, nicht unsere Stadt, den Nachbarn lass in Stich, heiß geliebter Investor. Wie im Großen so aber auch im Kleinen: Existenz heißt heute Existenzkampf, und die Selbstmanagement-Ratgeber schärfen ihren Lesern die Methode ein, mit der er zu führen ist: ›Seien Sie besonders, sonst werden sie ausgesondert.‹
Gebt der Ökonomie, was der Ökonomie ist, nämlich alles, auf dass sie euch Arbeit und Wohlstand schenke. Dieser kategorische Imperativ halluziniert die basale Krise der Arbeitsgesellschaft weg und legitimiert gleichzeitig das große Ausgrenzungsund Stigmatisierungsprojekt, mit dem die Arbeitsreligion auf ihre Misere reagiert. Wer im Vernichtungswettbewerb auf der Strecke bleibt, ist selber schuld; mehr noch, er trägt die Verantwortung für die Gesamtmalaise. Die Opfer sind die Täter. Der Standort kann nur vor dem Ruin gerettet werden, wenn dem wachsenden ›Anspruchsdenken‹ ein Riegel vorgeschoben wird und man dem fehlenden Einsatzwillen endlich auf die Sprünge hilft.
Krieg der Faulheit!
Eine vergessen geglaubte Vokabel macht derzeit Karriere: Faulheit. Unmittelbar politisch praktisch galt und gilt die Attacke vornehmlich den Arbeitslosen. In politische Ausführungsbestimmungen übersetzt, läuft die Kriegserklärung an die ›Faulheit‹ im Kern auf die Forderung hinaus, die verrufene ›soziale Hängematte‹ durch ein Nagelbrett zu ersetzen. Die arbeitsideologische Generalmobilmachung geht indes weit darüber hinaus, lediglich den Aussortierten Mores lehren zu wollen. Der Faulheit bezichtigt wird auch die angeblich zu Unflexibilität, Anspruchsdenken und Bequemlichkeit neigende Lohnarbeiterschaft – vor allem jene des öffentlichen Dienstes –, und insbesondere die Gewerkschaften landen als notorische Verteidiger all dieser Fleischesschwächen abgeurteilt am Pranger.
Hierzulande blieb es Gerhard Schröder vorbehalten, den Startschuss zur großen Mobilmachung gegen die Faulheit zu geben. Als im Gefolge des Crashs der ›New Economy‹ in Deutschland wie andernorts auch die Wachstumsziffern einbrachen, die Arbeitslosenzahlen in die Höhe schnellten und die Umfragewerte der rot-grünen Regierung miserabel aussahen, verkündete die Donnerstimme des Kanzlers im April 2001 dem Volke von der Titelseite der Bildzeitung herab das erste und wichtigste Gebot der Arbeitskirche: »Es gibt kein Recht auf Faulheit«. Die zu den harschen Worten passenden harschen Taten ließen nicht lange auf sich warten.
Warum der Kanzler vor drei Jahren den ›Krieg gegen die Faulheit‹ ausgerufen hat, um bei den Arbeitslosen die Daumenschrauben anzuziehen, erklärt sich sicherlich auch mit aus der hiesigen aktuellen Situation. Neben der Legitimierung simpler Kostenminimierung ging und geht es um die Demonstration von politischer Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit. Gegen die Entwicklung der Weltkonjunktur und die Steuerflucht hat die hiesige Politik wenig Handhabe; gegen die Arbeitslosen indes sehr wohl. Wenn die von den Widersprüchen des globalisierten Kapitalismus eingeklemmten Regierenden einen Ausbruchsversuch inszenieren, richtet der sich logischerweise gegen das schwächste Glied in der Kette. Für die rot-grüne Regierung bot sich dieser Ausweg umso mehr an, als ihr Feldzug hierzulande auf ein weit verbreitetes arbeitsreligiöses Flagellantentum trifft, das von Selbstkasteiung und vor allem von der Kasteiung anderer gar nicht genug bekommen kann.
Die hiesige Antifaulheitskampagne zeichnet sich im internationalen Vergleich durch besonders schrille Züge aus. Das dürfte zum einen historische Gründe haben. Das protestantische, immer schon sadomasochistisch unterlegte Arbeitsethos ist tief in den Abgründen der deutschen Seele verankert. Zum anderen spielt sicher aber auch der ›Nachholbedarf‹ Deutschlands in Sachen Demontage sozialstaatlicher Errungenschaften eine Rolle. Das macht den Prozess, den das ›Vaterland der Arbeit‹ gerade durchmacht, noch lange nicht zum Unikat. Ob Großbritannien oder Italien, ob Tschechien oder Südkorea: überall sind ganz ähnliche Entwicklungen zu verzeichnen. Kaum ein Land in den noch in die Weltwirtschaft integrierten Weltregionen, in dem nicht artverwandte Prozesse vor sich gehen. Überall werden zu Beginn des 21. Jahrhunderts die gleichen gemeingefährlichen ›Reformen‹ propagiert und forciert ins Werk gesetzt.
Dementsprechend stellt sich für die kapitalistische Weltgesellschaft ganz allgemein die Frage: Wie kommt eine Gesellschaft, die ihren produktiven Möglichkeiten nach mit einem Minimum an Arbeitszeit nie geahnte Gütermassen schaffen und problemlos die gesamte Welt darunter begraben kann, auf die hanebüchene Idee, ausgerechnet ›Faulheit‹ zur Ursache ihrer Probleme zu erklären? Ist es Zufall, dass die Kinder der Marktwirtschaft heute allesamt im Begriff sind durchzudrehen, oder liegt dem eine gewisse Folgerichtigkeit zugrunde?
Die Arbeit als Prinzip gesellschaftlichen Ausschlusses
Die Antwort fällt eindeutig aus. Unter unseren Augen nimmt die planetare Herrschaft der Arbeit eine neue Qualität an. Diese Veränderung ist aber keinesfalls als Entartung einer an sich vernünftigen Ordnung zu werten. Vielmehr enthüllt sie auf brutale Weise den zutiefst irrationalen und destruktiven Grundcharakter der kapitalistischen Gesellschaft. Diese zeichnet sich grundsätzlich durch ein ganz spezifisches Unverhältnis zu allem sinnlichen Reichtum aus. Sie produziert zwar massenhaft Güter, aber nie ihrer stofflichen Qualität und der Befriedigung irgendwelcher menschlichen Bedürfnisse wegen, sondern immer nur als Durchgangsstation auf dem Weg zu abstraktem, monetarisiertem Reichtum. Nur jenen Reichtum, der sich in die Kreisläufe von Kauf und Verkauf einbinden lässt und sich in Geldgrößen übersetzt, kann sie als gesellschaftlich gültig anerkennen, jeder andere gilt ihr als wertlos und ist im Prinzip zur Vernichtung freigegeben. Der monetäre Reichtum ist aber seinem Wesen nach nichts anderes als die Darstellungsform abstrakter Arbeit. Um an sein Ziel zu gelangen, muss dem qualitätslosen Selbstzweck der Verwandlung von Geld in mehr Geld gesamtkapitalistisch gesehen die zunehmende Vernutzung lebendiger Arbeit entsprechen. Die kapitalistische Gesellschaft verdient den Namen Arbeitsgesellschaft genau dieses systemischen Zwangs wegen, also in einer rein pejorativen Bedeutung. Während es vom kapitalistischen Standpunkt aus völlig egal ist, was gearbeitet wird, steht und fällt diese Gesellschaft damit, dass massenhaft Arbeitskraft produktiv in ihrem eigenen Sinne verausgabt wird, indem sie nämlich Wert ›produziert‹. Dieser systemische Zwang tritt den Gesellschaftsmitgliedern als scheinbar unaufhebbare Notwendigkeit gegenüber, und zwar gleich in doppelter Gestalt. Er bestimmt einerseits über den Umfang des kapitalistischen Gesamtreichtums und reglementiert andererseits den Zugang zu ihm. Der als gesellschaftlich gültig anerkannte Gesamtreichtum einer kapitalistisch verfassten Gesellschaft schwillt keineswegs automatisch zusammen mit der Vermehrung der produktiven Potenzen an. Er wächst nur, soweit die Realisierung dieser produktiven Möglichkeiten sich in der wertproduktiven Verausgabung von zusätzlicher Arbeitskraft ausdrückt, also in der Erschließung zusätzlicher Bereiche arbeitsintensiver Warenproduktion. Ist das nicht der Fall, sinkt also der Gesamtumfang der in den Verwertungsprozess eingehenden Menge an Arbeitskraft aufgrund der Produktivitätsentwicklung, dann verarmt die kapitalistische Gesellschaft nach ihrem eigenen Maßstäben, auch wenn bzw. gerade weil es von einem rein stofflichen Standpunkt möglich ist, viel mehr Güter zu produzieren als je zuvor! Mit der mikroelektronischen Revolution ist diese Denkmöglichkeit Wirklichkeit geworden. Ihr Siegeszug markiert den historischen Wendepunkt, an dem die Vermehrung der produktiven Möglichkeiten nach kapitalistischen Kriterien in einen säkularen allgemeinen Verarmungsprozess umschlägt.
An der gesellschaftlichen Oberfläche erscheint dieses Problem als Finanzierungsproblem. Dass Geld letztlich knapp ist, ist keine ›Propagandalüge der Herrschenden‹. Dieses Faktum zeigt vielmehr an, dass sich die Schere zwischen stofflichem und abstraktem Reichtum öffnet und damit die Grundverrücktheit der kapitalistischen Ordnung, Reichtum auf die in die betriebswirtschaftliche Verwertung eingehende Verausgabung von Herz, Muskel und Hirn zu reduzieren, auf diese selbst zurückschlägt.
Nicht nur der Gesamtreichtum der kapitalistischen Gesellschaft muss sich aber durch das Nadelöhr betriebswirtschaftlicher Arbeitsvernutzung quetschen. Eine Gesellschaft, in der sinnlicher Reichtum nur als Abfallprodukt der Schaffung abstrakten, monetären Reichtums anfällt, macht auch die Teilhabe an ihm zu einem Abfallprodukt. Nur für diejenigen fällt etwas ab, die ihre Fron in der großen Arbeitsmühle verrichten. Ein halbwegs menschenwürdiges Leben hat eine Existenz als Rädchen in der Arbeitsmaschine zur Voraussetzung. Die Reduktion von Menschen auf Arbeitsvernutzungseinheiten bedeutete schon immer Unterwerfung und Fremdbestimmung. Auch das Damoklesschwert, mit dem Verlust der Arbeit den Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum zu verlieren, schwebte selbstverständlich seit jeher über den auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft Angewiesenen. Solange die Kapitalverwertung langfristig expandierte und darauf angewiesen war, immer neues Menschenmaterial einzusaugen, blieb indes immerhin noch die Möglichkeit, die Abhängigkeit von der Arbeitsmühle in eine gemeinsame Angelegenheit zu verwandeln. Auf dem Boden der repressiven Integration in die Arbeitsmühle ließen sich kollektiv abgefederte und damit erträglichere Knechtschaftsverhältnisse erkämpfen, solche, die auch potentiellen und außer Kurs gesetzten menschlichen Rädchen ein Existenzrecht zugestanden. 150 Jahre lang haben die Arbeiterbewegung und ihre Erben dieser Möglichkeit zur Wirklichkeit verholfen. Unter dem Banner der Arbeit verstanden sie es, den dem Prozess nationalökonomischer Formierung inhärenten Spielraum zur Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen zu nutzen. Das Ende der industriellen Massenarbeit und die Auflösung der Nationalökonomien zerstören nachhaltig die Grundlage dieser Ordnung. Die Konkurrenz zwischen den Besitzern der Ware Arbeitskraft lässt die gemeinsamen Konkurrenzinteressen gegenüber dem Kapital in den Hintergrund treten. Die Chiffre ›Der Arbeit ihr Recht‹ macht einen Bedeutungswandel durch. Sie steht nicht mehr für die Ansprüche, die das menschliche Rohmaterial kollektiv gegen die kapitalistische Maschine geltend macht, sondern für die Pflicht, die das Prinzip Arbeit jedem Konkurrenzsubjekt auferlegt. Dieses muss alles tun, um der permanenten Aussonderung von Humanmüll aus dem überfüllten Pool des Menschenmaterials einstweilen noch zu entgehen.
Bei der Generalmobilmachung der Arbeit gegen die Faulheit handelt es sich um mehr als eine bloße historische Kapriole; sie markiert eine Epochenschwelle. Es gibt kein Zurück zu einer menschenfreundlicheren Variante der Arbeitsgesellschaft – weder zum verflossenen ›Rheinischen Modell‹ noch zu irgendeinem anderen, weder hierzulande noch sonst wo. Ohne bewusst das Arbeitsfundament dieser Gesellschaft in Frage zu stellen, werden Menschen nie mehr vor einer anderen Handlungsperspektive stehen als der, solange wie irgend möglich im Konkurrenzkampf andere niederzutrampeln, um letztendlich selber früher oder später niedergetrampelt zu werden. Auf der Grundlage der kapitalistisch-arbeitsgesellschaftlichen Logik ist der Amoklauf der Ökonomie nicht mehr zu stoppen, sondern nur noch im bewussten Kampf gegen sie.
Krise der Arbeit – Krise des Kapitalismus
Auf den ersten Blick scheint die These, die globale arbeitsterroristische Mobilisierung markiere einen Epochenbruch, vielleicht reichlich apodiktisch geraten und übers Ziel hinauszuschießen. Lässt sich der behauptete grundsätzliche innere Zusammenhang zwischen der Krise der Arbeitsgesellschaft, der Misere kapitalistischer Reichtumsproduktion und dem Umschlag der arbeitsgesellschaftlichen Logik in Vernichtungskonkurrenz überhaupt mit der Entwicklung der letzten beiden Dekaden zur Deckung bringen? Hat sich das Gedeihen des Kapitals nicht längst und ein für alle mal von der Auspressung lebendiger Arbeit emanzipiert? Und inwiefern stellt die laufende Generalmobilmachung im Zeichen der Arbeit eine logische, wenn auch paradoxe und perfide Reaktion auf die Auszehrung der Arbeitssubstanz dar?
Schließlich ist die Krise der Arbeitsgesellschaft ja kein brandneues Phänomen. Die Diagnose steht bereits seit einem Vierteljahrhundert im Raum. Der Übergang des Arbeitsregimes in eine offen terroristische Phase bahnte sich hingegen, vor allem was Kontinentaleuropa angeht, erst in den letzten Jahren an, und der eigentliche Dammbruch erfolgt derzeit. Legt nicht allein schon dieser zeitliche Abstand die prinzipielle Vereinbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsregimes mit sozialer Integration nahe – Krise der Arbeit hin, Krise der Arbeit her? Warum stattdessen den Angriff auf den Sozialstaat gleich als Exekution einer dem Krisenkapitalismus inhärenten Logik werten? Ist er nicht einfach das Produkt höchst unglücklicher politischer Kräfteverhältnisse, die sich auch auf dem Boden des Arbeitsregimes jederzeit wieder ändern können?
So viel ist natürlich richtig: Eine zyklusübergreifende Sockelarbeitslosigkeit begann sich in den OECD-Ländern bereits Mitte der 70er Jahre mit dem Auslaufen des langen fordistischen Nachkriegsbooms herauszubilden. Diese Entwicklung ging jedoch weder mit einer wirtschaftlichen Dauerdepression einher noch führte sie, zumindest in den Ländern Kontinentaleuropas, zu einer kontinuierlichen und flächendeckenden Verschlechterung der Existenzbedingungen von Arbeitenden und Arbeitslosen. Stattdessen wurde in den 80er und 90er Jahren ein ganz neues Phänomen sprichwörtlich, das des so genannten ›Jobless Growth‹.
Das Nebeneinander von florierender Kapitalakkumulation und massenhafter Freisetzung von Arbeitskraft dokumentiert indes weder, dass das Kapital irgendwann seinen Charakter als »aufgehäufte tote Arbeit« (Marx) abgestreift hätte, noch die Fehlerhaftigkeit dieser Bestimmung; sie hat ihren Grund vielmehr in der spezifischen kasinokapitalistischen Dynamik einer Aufblähung von Kredit und Spekulation. Für zwei Dekaden hat der spekulative Vorgriff auf die Vernutzung künftiger Arbeit, von Arbeit die nie verausgabt werden wird, die Vernutzung gegenwärtiger Arbeit als Wachstumsmotor abgelöst. Kapitalistischer Boom und ein Schrumpfen der Masse an produktiv vernutzter lebendiger Arbeit sind auf Dauer unvereinbar; solange jedoch die Börsen Jahr um Jahr von Höhenflug zu Höhenflug stürmten und eine Hoffnung auf künftige Verwertung nach der anderen kapitalisiert wurde, war dieser Widerspruch erst einmal in einer Bewegung allgemeinen Reichrechnens aufgehoben! Mit dem Platzen der großen zukunftsträchtigen Erwartungen und der Vernichtung des in der Spekulation geschöpften fiktiven Kapitals, tritt nun aber der hochgradig prekäre Charakter des kasinokapitalistischen Zwischenspiels zu Tage, und die basale Identität von realer Arbeitsvernutzung und Kapital macht sich bemerkbar. Natürlich ist das für den Zeitgeist und die Marktwirtschaftsideologen noch lange kein Anlass, die reale Unhaltbarkeit der herrschenden Ordnung ins Auge zu fassen; einen tiefen Einschnitt markiert diese Wendung dennoch. Schluss mit lustig, heißt die Devise. Der süße Traum von den unbändig aus dem Nichts sprudelnden Profiten und Geldvermögen ist ausgeträumt; die Tage, da wirtschaftlicher Erfolg sich an der so genannten ›Cash Burn Rate‹ maß, also an der Fähigkeit möglichst viel Geld in möglichst kurzer Zeit zu verbrennen, sind mit dem Crash der ›New Economy‹ zu Ende gegangen. Stattdessen soll nun der arbeitsgesellschaftliche Kahn durch Zwangseinspeisung von Arbeitskraftunternehmern in nicht existierende Arbeitsmärkte, das immer schnellere Verbrennen der infrastrukturellen Substanz der Gesellschaft und das Abwerfen sozialstaatlichen Ballasts – bei gleichzeitiger Sozialisierung der Kosten des kasinokapitalistischen Desasters – noch einmal auf Touren gebracht werden.
Vom Drogenberater zum Dealer
Die Krise der Arbeitsgesellschaft begann sich mit dem Auslaufen des fordistischen Nachkriegsbooms abzuzeichnen. Repressives Weghalluzinieren hat diesen Prozess freilich keineswegs von Anfang an begleitet. Im Gegenteil, der Kontrast zwischen den heutigen Standortdebatten und den in den späten 70er und frühen 80er Jahren recht breit geführten Diskussionen um die ›Zukunft der Arbeit‹ könnte kaum schärfer ausfallen. Dass die mikroelektronische Revolution drauf und dran ist, nicht allein mechanische Schreibmaschinen, sondern auch die Ware Arbeitskraft in einen unverkäuflichen Anachronismus zu verwandeln, galt damals Sozialwissenschaftlern wie Feuilletonisten als Gemeinplatz. Allenthalben wurde damals sogar die Zielvorgabe »Befreiung von falscher Arbeit« (Thomas Schmid) formuliert. Selbst renommierte Soziologen wie Ralf Dahrendorf forderten in den frühen 80er Jahren den Abschied vom Primat der Erwerbsarbeit und sahen die Entkoppelung der Reichtumsproduktion von der Vernutzung lebendiger Arbeit weniger als Bedrohung denn als im Grunde erfreuliche Aussicht. Diese Perspektive bestimmte denn auch die damalige Debatte um die Zukunft des Sozialstaats. Nicht dessen ›Demontage‹ und die rigorose Durchsetzung des Arbeitszwangs wurde propagiert, vielmehr kursierte die Idee, ganz offiziell das Einkommen partiell vom Zwang zur Erwerbsarbeit zu entkoppeln. Großer Beliebtheit erfreute sich in diesem Zusammenhang insbesondere die Forderung, das Sozialversicherungssystem durch ein an keine Arbeitspflicht mehr gebundenes Grundeinkommen für alle zu ersetzen bzw. zu ergänzen. Eine solche Grundsicherung sollte es Menschen künftig erlauben, ihr Leben wesentlich selbstbestimmten Aktivitäten zu widmen. Daran knüpften sich zwei Ziele. Zum einen war beabsichtigt, auf diesem Wege der breiten Palette unmittelbar bedürfnisorientierter Tätigkeiten wie der häuslichen Reproduktion und der Nachbarschaftshilfe, apostrophiert als ›Bürger‹und ›Eigenarbeit‹, endlich die ihr gebührende gesellschaftliche Anerkennung zuteil kommen zu lassen. Zum anderen priesen Autoren wie Ulrich Beck die »Bürgerarbeit« als »eine Art von Methadonprogramm für eine an Arbeitssucht erkrankte Gesellschaft«, geeignet an übertriebenem Leistungszwang leidende Menschen, allmählich an ein gesundes Verhältnis von Anstrengung und Muße heranzuführen. Der Zeitgeistsurfer macht sich nach wie vor für die ›Idee der Bürgerarbeit‹ stark; allerdings soll mit dem Einsatz dieses Instruments nicht mehr das gleiche Ziel erreicht werden. Seit den späten 90er Jahren vertreibt Ulrich Beck als Mitglied der ›Zukunftskommission der Freistaaten Bayern und Sachsen‹ die alte Idee als Disziplinierungsmittel und trifft zusammen mit seinesgleichen wieder die aktuelle Stimmungslage: Wer schon keine richtige Arbeit vorzuweisen hat, der soll sich wenigstens durch irgendwelche kommunal oder staatlich organisierten Pseudoarbeiten in die Arbeitsdisziplin einüben. Armensüppchen ja, aber bitte nur für die, die sich ihr auch würdig zeigen und jeden Tag ihren Kotau vor dem Arbeitsgötzen machen! Das Methadonprogramm, das den Entzug des Arbeitsstoffs erleichtern sollte, wird jetzt als Einstiegsdroge verdealt. Die Arbeitsentwöhnten anfixen, heißt das Gebot der Stunde.
Die Neuausrichtung der aus der verflossenen Debatte um die Krise der Arbeitsgesellschaft entlehnten Idee der ›Bürgerarbeit‹ wirft ein Schlaglicht auf den Brutalisierungsgrad, den das arbeitsterroristische Regime inzwischen erreicht hat. Gemessen am heute herrschenden arbeitsreligiösen Fanatismus, der das Streben nach disponibler Zeit als Todsünde behandelt und ihm Krankheitswert zuschreibt, erscheint die verflossene Diskussion ohne Zweifel als Labsal.
Fatal wäre es allerdings, in Nostalgie zu verfallen und die Rückerinnerung an die 80er-Jahre-Diskussion gleich als Beleg für die Verzichtbarkeit von konsequenter Arbeitsund Kapitalismuskritik in der Frontstellung gegen den herrschenden Arbeitsterror zu nehmen. Wie in vergleichbaren anderen Fällen auch kam die arbeitsterroristische Wendung von Ulrich Beck und Co. nicht von ungefähr. Sie war in den Mehrdeutigkeiten und Schwächen dieser Position selber schon angelegt. Vor allem aber war für eine Kritik an der Arbeitsgesellschaft, die einer kategorialen Kritik von Kapital und Arbeitsform ausweicht, überhaupt nur unter den spezifischen historischen Bedingungen des beginnenden kasinokapitalistischen Zeitalters Platz.
Der Ausgangspunkt jener 80er-Jahre-Debatte hat bis heute nichts an Brisanz verloren. Es ist abstrus, eine Gesellschaft, in der die Vernutzung lebendiger Arbeit für die stoffliche Reichtumsproduktion zunehmend an Bedeutung verliert, weiterhin dem Primat der Arbeit zu unterwerfen. Weiterhin ist von einem emanzipativen Standpunkt aus die Reduktion von gesellschaftlichem Reichtum auf Warenreichtum und von gesellschaftlich gültiger Tätigkeit auf Arbeit zu attackieren. Die aus den frühen 80er Jahren vertraute Kritik griff allerdings insofern zu kurz, als sie solche Verrücktheiten nicht als Strukturprinzipien der Warengesellschaft begriff, sondern als Frage eines falschen gesellschaftlichen Bewusstseins und eines zu engen Verständnisses von Arbeit behandelte. Durch bloßes Umdenken und Umdefinieren des herrschenden Arbeitsbegriffs – vor allem durch Aufwertung von ›Eigenarbeit‹ und ›Hausarbeit‹ – lässt sich die objektivierte Logik des Kapitalismus aber nicht außer Kraft setzen.
Natürlich sind die Tätigkeiten, die in der damaligen Debatte als ›Haus ‹ und ›Eigenarbeit‹ firmierten, für jede gesellschaftliche Reproduktion unerlässlich – auch die Reproduktion des Kapitals bleibt stofflich stets auf diese stillen, ihr vorgelagerten Tätigkeitsbereiche angewiesen. Was die monetären Flüsse angeht, stellt sich die Beziehung zwischen dem kapitalistischen Sektor und dem Reproduktionsbereich aber genau anders herum dar. Der letztere hängt am Tropf der kapitalistischen Megamaschine und ist darauf angewiesen, dass deren Motor brummt.
Aus der Perspektive der damaligen Kritik an der Arbeitsgesellschaft stand das störungsfreie Weiterfunktionieren der kapitalistischen Reichtumsproduktion außer Frage. Die fundamentale Differenz von stofflichem und abstrakt monetärem Reichtum war ihr unbekannt. Der Überfluss an stofflichem Reichtum und der Überfluss an abstraktem monetärem Reichtum galten ihr dementsprechend von vornherein als synonym. Zum anderen löschte eine extensive Interpretation des Begriffs der im kapitalistischen Sinn produktiven Arbeit von vornherein die mit der ›Krise der Arbeit‹ sich abzeichnende Schranke kapitalistischer Akkumulation. Im eifrigen Bemühen der so genannten ›Reproduktionsarbeit‹ die gleichen Ehren zuteil werden zu lassen wie der ›Erwerbsarbeit‹, wurde ihr die Qualität angedichtet, direkt zur Vermehrung der gesamtkapitalistischen Wertmasse beizutragen.
Ihre scheinbare Plausibilität verdankten solche Ideen indes keineswegs ihrer kapitalismusanalytischen Qualität. Theoretisch reflektierten sie vielmehr die inflationäre Verwendung des Arbeitsbegriffs in unserer von der Arbeit konditionierten Alltagssprache und Wahrnehmung, die sich zugleich auch in der völligen Begriffslosigkeit der Volkswirtschaftslehre reproduziert. Praktisch waren sie einzig und allein durch die einsetzende kasinokapitalistische Expansionsbewegung gedeckt. Die Dynamik fiktiver Kapitalschöpfung überspielte das Auseinandertreten von monetärem und stofflichem Reichtum. Angesichts von Geldvermögen, die sich wie von Geisterhand immer weiter vermehrten, schien es nur opportun, auch den von der Erwerbsarbeit Freigesetzten in der Form einer ›Sozialdividende‹ ihren Anteil am allgemeinen Reichrechnen zukommen zu lassen.
Zwei Formen von ›Realismus‹
Die 80er-Jahre-Debatte um die Krise der Arbeit entstand an einer historischen Schnittstelle. Ihre Absetzbewegung von der Arbeit war, wie könnte es auch anders sein, eine Absetzbewegung von der fordistischen Arbeit, die bis dato das Gesicht des Kapitalismus geprägt hatte. Positive Referenzpunkte fand sie demgegenüber in der Alternativund in der Frauenbewegung. Angesichts der Krise des klassischen Fabrikregimes malte sie das Bild einer Zukunftsgesellschaft friedlicher, dualwirtschaftlich organisierter Koexistenz an die Wand. Neben einem zwar schrumpfenden, dennoch bestens gedeihenden kapitalistischen Arbeitskerns sollte ein monetär daraus alimentierter Bereich selbstbestimmter, nicht auf Profitlogik ausgelegter ›Aktivitäten‹ die neue ›Tätigkeitsgesellschaft‹ prägen. In dieser Vorstellung vermischten sich Distanz zum Arbeitswahn, kategoriale Anerkennung der Vorherrschaft der Arbeit und Ignoranz gegenüber dem strukturell imperialen Charakter von Kapital und Arbeit.
Was das Wissen um die Irrationalität des herrschenden Arbeitswahns betrifft, kann und muss ein emanzipativer Ansatz heute an das schon einmal vorhandene Problembewusstsein anknüpfen. Er kann das allerdings nur, indem er die Bestandteile der Gedanken-Melange voneinander trennt und damit die Beschränkungen der damaligen Debatte überwindet. Eine solche Radikalisierung wäre nicht nur vom Standpunkt eines entschiedenen Antikapitalismus notwendig; sie ist längst zur Grundvoraussetzung jedweder Kritik geworden. Eine Kritik der Arbeitsgesellschaft, die sich damit begnügt, an der Arbeitsreligion nur zu kratzen und bei einer phantasmagorischen Umwertung von Wert und Arbeit stehen zu bleiben, hatte als deren menschenfreundlichste Version Teil an der Basisillusion des aufblühenden Kasinokapitalismus. Spätestens mit dem Ende dieser Ära ist sie haltund gegenstandslos geworden.
Die für die vergessene Debatte charakteristische Mischung von Akzeptanz und Distanz gegenüber dem arbeitsgesellschaftlichen Wahn lässt sich prinzipiell in zwei entgegengesetzte Richtungen auflösen, die man beide als Realistischwerden beschreiben könnte. Die emanzipative Variante erkennt die Arbeit als mit kapitalistischer Herrschaft identische gesellschaftliche Zwangsform, die nicht wegzumogeln, sondern auszuhebeln und abzuschaffen ist. Die repressive Variante akzeptiert die irre Arbeitsform als das unhintergehbare, die Wirklichkeit nun einmal strukturierende Prinzip und verpflichtet sich auf bedingungslosen Kadavergehorsam. Was auch immer die Arbeitsdiktatur an Folgen noch zeitigen mag, der repressive Realismus exekutiert ihre Logik.
Bei der ersten Form von Realismus handelt es sich um eine Denkmöglichkeit, die vielleicht einmal Wirklichkeit werden könnte; beim gemeingefährlichen ›Realismus‹ erübrigt sich die Verwendung des Konjunktivs. Der Zeitgeist ist diesen Weg in den späten 80er und 90er Jahren bereits bis zum bitteren Ende gegangen.
Angesichts der sich überschlagenden Erfolge des Kasinokapitalismus’ und des Zusammenbruchs des ›Realsozialismus‹ verflüchtigte sich innerhalb weniger Jahre jeder gesellschaftliche Gesamtanspruch, wie er in den dualwirtschaftlichen Visionen noch präsent war. Margaret Thatchers Vision, es gäbe keine Gesellschaft mehr, sondern nur noch Individuen, ersetzte den Traum kollektiver solidarischer Gesellschaftsveränderung und bestimmte immer mehr das Denken und Fühlen. Damit verstummte die Diskussion um eine neue, vom Primat des Geldverdienens befreite ›Tätigkeitsgesellschaft‹. Sie ist allerdings keineswegs zusammen mit den emanzipatorischen Ambitionen folgenund nachfolgelos verschwunden. Ein direkter Weg führt von der Kritik am fordistischen Sozialcharakter und dessen Normalarbeitsverhältnis zur Apologie des neoliberalen flexibilisierten Arbeitsregimes. Das Nein zum alten Fabrikregime mit seinen hierarchischen Strukturen, seinen ›industriellen Armeen‹ und seiner strikten Trennung von Arbeit und allen anderen Lebensäußerungen, das für den antiautoritären Protest und die Alternativbewegung konstitutiv gewesen war, erlebte seit den späten 80er Jahren eine neue, durch und durch marktkonforme Neuinterpretation. In dieser neuen Gestalt wurde es hegemonial. Während die Befreiung vom Fabrikregime zu einer innerhalb der individuellen Möglichkeiten jedes Marktsubjekts angesiedelten und daher ihm selber obliegenden Praxis schrumpfte, verengte sich das weite, unscharf umrissene Feld neu zu entdeckender autonomer Tätigkeiten ausgerechnet auf die Avantgardesektoren des neuen Kapitalismus. Die Arbeitskultur der neuen Informationsarbeiter mit ihren ›flachen Hierarchien‹ und ihrer pseudohedonistischen Auflösung der Grenze zwischen Arbeit und Freizeit – der Protestbewegung entlehnte Motive – mendelte sich als das allgemeine gesellschaftlichen Leitbild einer neuen radikalen Ungesellschaftlichkeit heraus.
Mit seiner Yuppifizierung wurde das Erbe der verebbten Protestbewegung freilich nicht nur konsequent von jedwedem gesellschaftskritischen Gehalt befreit. Diese Entsorgung war zugleich mit einer Orwellschen Wendung verbunden. Durch den Friedensschluss mit dem Markt wurde alles, wofür die 68er und ihre Nachfolger gekämpft hatten, in den 90er Jahren Wirklichkeit – allerdings als sein genaues Gegenteil. Es rächte sich jetzt bitter, dass die Neue Linke über eine rein äußerliche und soziologisch verengte Kritik des kapitalistischen Arbeitsregimes nie hinausgekommen und zu einem kategorialen Angriff auf die Arbeit als das Unwesen kapitalistischer Vergesellschaftung durchgestoßen war. Aus der erledigten, unzulänglichen Kritik speiste sich das neue kapitalistische Arbeitsregime und dessen Legitimationsideologie.
Die Kritik an der Reduktion von Menschen auf emotionslose Arbeitsautomaten übersetzte sich in den allgemeinen Imperativ, gefälligst auch sämtliche ›Soft Skills‹ und somit die ganze Persönlichkeit zum Verkaufsgegenstand zu machen. Der antiautoritäre Protest hatte gegen entfremdete Arbeitsverhältnisse aufbegehrt und versucht, gegen die allgemeine Funktionalisierung von Menschen, Freiräume zu erkämpfen. In den Start Ups der ›New Economy‹ entstand eine ›schöne neue Welt‹, in der Freizeit zur Fortsetzung der Arbeit mit anderen Mitteln geriet und insofern die Grenzen zwischen beiden verschwammen. Indem das Arbeitsuniversum lebensweltliche Elemente als zusätzlichen Rohstoff ansog, schien es im strengen Sinn gar nicht mehr zu existieren. Arbeit fiel im neuen Bezugssystem ebenso in die Rubrik ›Fun‹ wie die ›After Work Party‹. Keinen Deut besser ging es dem Wunsch nach Befreiung aus Fremdbestimmung. Er kam in der Verherrlichung des Arbeitskraftunternehmers und seiner unmittelbaren Unterwerfung unter das Marktdiktat zu sich. Der Schrei nach Mündigkeit fand sein Echo im Triumph einer zwischen Imagination und Inszenierung schwebenden neuen infantilen Selbständigkeit. Überall dynamische Jungidioten, die sich penetrant danach erkundigten, was denn die Welt koste, um immer gleich darauf hinzuweisen, dass sie auch genug Kredit hätten, sie demnächst einzukaufen. Aus dem Ekel vor verkniffenen, pfennigfuchsenden Ausbeutern wurde etwas mindestens genauso Ekelhaftes geboren: narzisstische Spaßunternehmer.
Selbst für den getilgten kritischen Anspruch fand sich noch eine Verwendung, nämlich als Karikatur und abschreckendes Beispiel. Manchmal blitzten ja selbst beim hartgesottensten Selbst-Verkäufer leise Zweifel an der Vortrefflichkeit der eigenen Existenz auf. Gelegentlich fiel es auch dem postmodern (Nach-)Sozialisierten schwer, den geforderten Spaß zu empfinden und in jedem Augenblick im Markt ein Spielfeld unendlich reicher Chancen und Möglichkeiten zu erkennen. In solchen Fällen half die Gedankenpolizei des positiven Denkens – diese inverse Form des ewigen schlechten Protestanten-Gewissens – und präsentierte augenblicklich die Vogelscheuche eines angeblich lustfeindlichen und miesepetrigen negativen Denkens, vor dem sich das eigene fröhliche Weltbild scheinbar so angenehm abhebt.
Auf den ersten Blick schien die Rückerinnerung an die 80er-JahreDebatte um die Krise der Arbeitsgesellschaft noch nahe zu legen, dass sich Kritik am Würgegriff von Arbeit und Ökonomie auch ohne fundamentale Kapitalismusund Arbeitskritik formulieren lasse. Ein genauerer Blick auf die älteren Ansätze und auf das, was aus ihnen geworden ist, hat indes das genaue Gegenteil gelehrt. Für ihre Verkürzungen, für ihre Scheu, die Arbeitsund Warenform zu attackieren, wurde die damalige Kritik gleich doppelt abgestraft. Als emanzipatorischer Ansatz ist sie wirkungslos versickert; als Lieferant für Stichworte und Motive hat sie gegen die Intentionen ihrer Urheber selber Eingang in das arbeitsterroristische Regiment gefunden. Wie dem auch sei. Für das 21. Jahrhundert bleiben nur drei historische Alternativen.
Entweder die Lämmer schweigen betäubt weiter und lassen sich nach Herzenslust massakrieren. Oder unter den Arbeitsund Warensubjekten, die ihr Recht auf gesellschaftliche Teilhabe ausbeißen, brechen im Zeichen rassistischer Ideologien Scarpie-Epidemien aus. Oder es findet endlich ein Aufstand gegen die Arbeitsdiktatur statt, der mit der Kritik des kapitalistischen Formzwangs Ernst macht. Hohe Zeit die dritte Option ins Spiel zu bringen.
Der Kapitalismus in der Ära der Selbstkannibalisierung
Wertverwertung hat letztlich keinen anderen Inhalt als die Verwandlung lebendiger Arbeit in aufgehäufte ›tote Arbeit‹. Die sukzessive Entkoppelung der stofflichen Reichtumsproduktion von der Arbeitsvernutzung stürzt von daher nicht nur die Arbeit in die Krise, sondern auch die kapitalistische Maschinerie. Die kapitalistische Produktionsweise kann die lebendige Arbeit nicht aus der Reichtumsproduktion eliminieren, ohne sich damit zu guter Letzt selber zu zerstören. 20 Jahre lang hat es die Warengesellschaft verstanden, den basalen Prozess der Auszehrung realer Arbeitssubstanz zumindest für die Metropolen zu überspielen. Der vom spekulativen Vorgriff auf künftige Arbeit (auf Arbeit, die nie geleistet werden wird) entfesselte kasinokapitalistische Boom wurde zur Grundlage von Prosperität und sekundärer Beschäftigung. Die Vermehrung fiktiven Kapitals schuf nicht nur (vorübergehend) Arbeitsplätze in den Avantgardebereichen der ›New Economy‹ selber, sondern das allgemeine Reichrechnen sorgte – vermittelt über das hochgeschraubte Konsumniveau – auch für das Aufkommen eines breiten Segments von Billiglohn-Dienstleistungen und für eine gewisse Arbeitskraftnachfrage in den industriellen Kernsektoren. (Die beiden ersten Faktoren kamen in Reinkultur vor allem in den USA zum Tragen, der dritte – dank der US-amerikanischen Defizitwirtschaft – vornehmlich in Europa.)
Der Einbruch der ›New Economy‹ markiert den historischen Umschlagspunkt, an dem dieser Kompensationsmechanismus an seine Grenzen stößt. Die Maschinisten des kapitalistischen Weltsystems stehen am Beginn des 21. Jahrhunderts vor einer alles andere als einfachen Aufgabe. Sie müssen die große Wertberichtigung verhindern (der ›New Economy‹-Crash hat erst einen Bruchteil des in den letzten 20 Jahren aufakkumulierten fiktiven Reichtums in seine Ursubstanz, in heiße Luft, zurückverwandelt) und die Kapitalisierung von Zukunftserwartungen um jeden Preis fortschreiben; sie brauchen einen Ersatzbrennstoff, an dem sich noch einmal die Hoffnung auf eine neue Runde privaten Reichrechnens entzündet und der damit den stotternden Motor wieder auf Touren bringt.
In seinem Roman »In 80 Tagen um die Welt« stellte Jules Vernes, der Urvater der Sciencefictionliteratur, seinen Helden vor ein weit weniger dramatisches und komplexes, vom Grundtypus aber durchaus artverwandtes Problem. Auf dem Dampfschiff, das Phileas Fogg zurück nach England bringen sollte, gingen auf dem letzten Stück der Atlantiküberquerung die Kohlevorräte zu Ende. Daraufhin lässt Jules Vernes seinen Snob Anweisung geben, das Schiff selber Stück um Stück zu verheizen, um die Kessel weiter unter Dampf zu halten und sein Reiseziel rechtzeitig zu erreichen. Ähnliche Probleme – ähnliche Lösungen. Der Kasinokapitalismus hat das Kunststück fertig gebracht, noch nicht geförderte Kohle zu verfeuern und damit die Weltwirtschaft auf Wachstumskurs zu halten; jetzt rückt ein anderes, diesmal handfestes Heizmaterial als neuer Träger von Profiterwartungen nach. Die allgemeinen Voraussetzungen gesellschaftlicher Reproduktion wandern als Brennstoff in den Rachen der Profitmaschine, und was partout keinen Heizwert freisetzen will, geht als Ballast über Bord.
Während ihrer langen Aufstiegsgeschichte hat die Arbeitsgesellschaft der Warenproduktion immer neue Felder erschlossen. Der Prozess der Verwandlung allen Reichtums in Warenreichtum sparte allerdings ganze zentrale Sektoren zumindest im Kern aus, nämlich die allgemeinen infrastrukturellen Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen Reproduktion wie Bildung und Gesundheitswesen, aber auch das Verkehrsund Kommunikationsnetz und zahlreiche andere artverwandte Aufgabenbereiche. Hätten die Konkurrenzund Arbeitssubjekte nur in Gestalt von individuellem Warenkonsum Zugang zu diesem immer wichtiger werdenden Teil des arbeitsgesellschaftlichen Reichtums gehabt, hätten die allgemeinen Voraussetzungen der Konkurrenz nur für eine Minderheit und nicht flächendeckend zur Verfügung gestanden und der Siegeszug der Arbeitsund Warengesellschaft wäre stecken geblieben. Es bedurfte der Herausbildung einer zweiten, nicht direkt am einzelbetrieblichen Verwertungskalkül orientierten Abteilung der Arbeitsgesellschaft, um dieser Selbstblockade zu entgehen. Der Staat und ihm angegliederte Institutionen übernahmen diesen Part und garantierten für ihr jeweiliges nationales Territorium und ihre Staatsbürger Formen der Teilhabe an den allgemeinen Voraussetzungen gesellschaftlicher Reproduktion, die nicht nach dem Prinzip von Kauf und Verkauf organisiert waren.
Im Zeichen von Kostenminimierung und Privatisierung wird die aus guten Gründen entstandene Grenzziehung zwischen der eigentlichen Warenproduktion und dem allgemeinen Infrastrukturrahmen verschoben bzw. durchlöchert. Der Abriss der zweiten Abteilung der Arbeitsgesellschaft liefert der ersten das Rohmaterial. Der Wirkungsgrad dieser Form marktwirtschaftlicher Brennstoffgewinnung dürfte letztlich bescheiden ausfallen, dafür ist ihr Preis umso höher: Die Gesellschaft hat für die Aufrechterhaltung der Diktatur von Ware und Arbeit mit verheerenden Verarmungsund Entgesellschaftungsschüben zu bezahlen.
Erste Ansätze kapitalistischer Selbstkannibalisierung gab es selbst in Deutschland bereits in den 90er Jahren, und viel folgenreichere in den angelsächsischen Ländern. Dort begann der Ruin zentraler, leider aber betriebswirtschaftlich wenig rentabler Infrastrukturbereiche (Stromnetz, öffentlicher Nahund Fernverkehr etc.) bereits während des kasinokapitalistischen Booms. Insgesamt ordnete sich die Privatisierung von staatlichen Unternehmen wie Bahn und Post in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aber noch in eine allgemeine Expansionsbewegung ein, in der die Zerstörung des Bestehenden noch mit erheblichen privaten Vorinvestitionen in neue zusätzliche Infrastrukturangebote einherging. Wenn die spekulativen Hoffnungen überhaupt stofflichen Niederschlag fanden, dann vornehmlich in einer neuen privatwirtschaftlich organisierten Kommunikationsinfrastruktur (Internet, Mobilfunk).
Der Crash der ›New Economy‹ mit ihren überschießenden Renditehoffnungen verändert das Gesamtszenario indes entscheidend. In den ehemaligen Boomsektoren zeichnet sich eine Konzentration auf Kernsegmente ab, die nicht nur spekulativ die Möglichkeit von Profiten in einer fernen Zukunft versprechen, sondern ihre betriebswirtschaftliche Rentabilität aktuell unter Beweis stellen müssen. Der Anspruch einer flächendeckenden Versorgung, eigentlich das Wesen von Infrastruktur, der von den privatisierten Staatsunternehmen im kasinokapitalistischen Boom in der Kernsubstanz noch halbwegs eingelöst wurde, fällt dem betriebswirtschaftlichen Kostenbewusstsein zum Opfer. Dieser ›Luxus‹ gehört zunehmend der Vergangenheit an. Gleichzeitig macht der Staat jetzt im großen Stil zusätzlich Bereiche frei, um sie der unsichtbaren Hand des Marktes zu überlassen. Vor allem aus seiner Verantwortlichkeit für die Reproduktion des Humanmaterials zieht er sich auf breiter Front zurück. Soziale Sicherheit, Gesundheit und Bildung haben als Gemeinkosten soweit wie irgend möglich zu verschwinden, vor allem um ›die Wirtschaft‹ als Ganze von Kosten zu entlasten und – in zweiter Linie – um ihre verwertbaren Teilbereiche perspektivisch in private Anlagesphären zu verwandeln (Privatkliniken, Versicherungen etc.).
Schluss mit lustig!
Das kasinokapitalistische Zeitalter mit seinen Spekulationsund Privatisierungsschüben hat nicht nur das ökonomische Gefüge gründlich umgewälzt, es ging auch mit einem einschneidenden gesellschaftlichen Klimawechsel einher. In den 90er Jahren setzte sich auf breiter Front ein radikal ungesellschaftliches Gesellschaftsverständnis durch, das im Standpunkt des vereinzelten Einzelnen den allein akzeptablen und ›realistischen‹ erkennen will. Je mehr sich die Kapitalisierung von Zukunftserwartungen gegenüber der realen Arbeitsvernutzung in den Vordergrund schob, desto tiefer sickerte diese asoziale Grundhaltung in das Alltagsdenken und -fühlen ein. Der alte biedere Arbeitsmann und seine kollektive und gewerkschaftlich moderierte Abhängigkeit vom Kapital galten nun als Fossil. Der agile Selbstunternehmer, der souverän auf den Marktwellen zu surfen versteht, wurde zur Leitfigur. Damit stieg Egomanie zum zentralen Sozialisationsinhalt auf und das Sich-Verkaufen zur Tugend der Tugenden. Mit so etwas wie sozialer Rücksichtnahme konnte die schöne neue Gedankenwelt der NewEconomy-Generation nichts mehr anfangen. Schon vorauseilend und unabhängig von der eigenen aktuellen Situation auf die Gewinnerperspektive eingeschworen, hielt sich der jung-dynamisch-avantgardistische Mainstream an das doppeldeutige Motto ›Eure Armut kotzt mich an‹.
Der Einbruch der New Economy und die darauf folgende weltwirtschaftliche Rezession versetzte sowohl von der gesamtgesellschaftlichen Stimmungslage als auch massenhaft individuell dem Wish-Full-Thinking einen schweren Schlag. Der halluzinatorische Zug im herrschenden Denken und Fühlen verlor deswegen keineswegs an Stärke. Er nahm lediglich einen Double Bind Charakter mit deutlich hysterischen Komponenten an. Umso offensichtlicher es wird, auf welch wackeligen Füßen sämtliche ›Erfolgsgeschichten‹ des ›neuen Unternehmertums‹ stehen, umso entschiedener gilt es, am positiven Denken festzuhalten – im eigenen Mikrouniversum wie im Großen.
Was die soziale Frage angeht, so endete mit dem Übergang von den traumtänzerischen Zukunftshoffnungen der 90er Jahre zum verzweifelten Halluzinieren in gewisser Weise die lange Desensibilisierungsphase. Ihre ›Wiederentdeckung‹ gestaltet sich allerdings denkbar unerfreulich. An die Stelle von Ignoranz tritt offene Brutalisierung. Die lange vergessenen alten ›Überflüssigen‹ und die neuen ›Verlierer‹ erfreuen sich plötzlich erhöhter Aufmerksamkeit – als Hassund Verfolgungsobjekte. Wer am eigenen Leibe sozialen Absturz erfährt, hat das Desaster zur wertvollen Erfahrung und zur Basis künftiger Triumphe umzuphantasieren oder sich ganz zu verstecken. Die Kinder der ›Individualisierung‹ schlucken ohne Murren und mit vorbildloser Bereitwilligkeit Verarmungsschübe, die zu anderen Zeiten Menschen massenhaft auf die Barrikaden getrieben hätten.
Bei der ideologischen und entsorgungstechnischen Bewältigung der Kriseneinbrüche kommt die am Vorbild der kasinokapitalistischen Avantgarde-Sektoren geformte Leitfigur des Arbeitskraftunternehmers zu ungeahnten Ehren. Vor allem hierzulande macht sie streng genommen überhaupt erst richtig Karriere, seitdem sie auf ihrem ureigensten Feld gründlich Schiffbruch erlitten hat. Während der kasinokapitalistischen Boomphase blieb die Selbstunternehmer-Herrlichkeit weitgehend auf die ›Gewinner‹ beschränkt und auf jene, die sich dafür hielten; für das Gros der arbeitenden Bevölkerung und erst recht für die ›Überflüssigen‹ stieg sie zwar zum Leitbild auf, doch das blieb zumeist unerreichbares Ideal. Die große Mehrheit hatte es noch mit aus der Zeit der fordistischen Massenarbeit überkommenen Beschäftigungsund Freisetzungsformen zu tun. Jetzt sollen jeder und jede, allen voran die Unrentablen, zwangsweise in den Genuss der aus der zerfallenden Gewinner-Welt vertrauten (Selbstzurichtungs-)Errungenschaften kommen. Es fällt nicht sonderlich schwer, den größeren Zusammenhang auszumachen, in den sich diese Wendung einfügt. Wir erleben derzeit eine gesellschaftliche Klimakatastrophe, mit der genau die ideale Höllenatmosphäre für das phantasmagorische und dennoch höchst bedrohliche Projekt der Rettung der Arbeitsgesellschaft durch Selbstkannibalisierung entsteht. Bei der Verallgemeinerung des Selbstunternehmerstandpunkts handelt es sich um eine der entscheidenden Durchsetzungsformen des neuen, konsequent entsicherten Kapitalismus. Die Bedeutungsverschiebungen, die der Begriff bei seiner Übertragung auf das überflüssige Humankapital durchmacht, spricht Bände. Die Arbeitskraftunternehmer der Start Ups zogen noch aus, die »Chancen und Risiken« (Ulrich Beck) des neuen Kapitalismus zu nutzen. Die ›Chancen‹ sind reihenweise wie Seifenblasen geplatzt, das Risiko, auf der Strecke zu bleiben, dagegen potenziert sich. Genau der richtige Zeitpunkt, um endlich die legitimatorischen und finanziellen Lasten des Scheiterns so weit wie irgend möglich zu privatisieren. Die bisherigen Selbstunternehmer hatten zumindest erst einmal eine gewisse Aussicht auf ›Erfolg‹ im kapitalistischen Sinn, und viele erfreuten sich ein paar Jahre lang sogar real erklecklicher Einkünfte. Das unerträgliche Gewäsch von Selbstentfaltung und der Anspruch, sich ganz einzubringen, war Mittel der Selbstanästhesierung gegenüber dem hohen persönlichen Preis, den sie dafür entrichten mussten. Beim derzeit von den ›Reformern‹ lancierten neuen Selbstunternehmertum handelt es sich um ein mit Gehirnwäsche und der Ästhetisierung einer prekären Existenz kombiniertes Verelendungsund Vereinzelungsprogramm. Der alte Autonomenkalauer ›Du hast keine Chance, aber nutze sie‹ kehrt als kategorischer Imperativ einer hochgradig zynischen inneren Zwangsabschiebungspolitik wieder.
Der ›Spaßgesellschaft‹ hat die Stunde geschlagen. Die Ideologen beschwören überall den neuen Ernst des Lebens, und Deutschland wäre nicht Deutschland, fänden sich nicht auch sofort sozialdarwinistische Arschlöcher, die mit Heidegger und Nietzsche die sich verschärfenden Zumutungen und existenzbedrohenden Unsicherheiten als Rückkehr existentieller Tiefe glorifizieren würden. Nach dem ebenso drögen wie infantilen kasinokapitalistischen Highlife, endlich Gelegenheit, eine Art individualisiertes August-1914-Erlebnis zu beschwören. Überflüssig zu betonen, dass dieser Umschlag kein Ende von Verblödung und Infantilisierung bedeutet, sondern deren Übergipfelung. Hinter Nietzsche und Heidegger lauert niemand anderes als der gute alte Schreber, der nicht nur die gleichnamigen Gärten erfunden hat, sondern auch zu den Vätern der ›Schwarzen Pädagogik‹ zählt. An die Stelle des idiotischen Lifestyle-Selbstunternehmertums der 90er Jahre mit seinem nervtötenden dauerpubertären Spaßzwang tritt die Abschreckungspädagogik der Job-Agenturen und die beschäftigungstherapeutische ›Verfolgungsbetreuung‹ von Arbeitslosen (vgl. den Beitrag von Frank Rentschler in diesem Buch).
Ein bisschen Kritik geht nicht!
Die offene Krise von Arbeit und Kapital und der arbeitsterroristische Amoklauf setzten für das 21. Jahrhundert eine ebenso einfache wie ungeheuerliche Alternative auf die historische Tagesordnung. Entweder diese Gesellschaft verwildert und das kapitalistische Menschenmaterial landet auch in den Metropolen auf dem Müllhaufen oder die Menschen hören auf, sich zum Menschenmaterial degradieren zu lassen und brechen mit der arbeitsterroristischen Logik. Entweder die auf ihre alten Tage zur größten Sekte aller Zeiten degenerierte Arbeitskirche verbrennt beim wahnsinnigen Versuch, die kapitalistische Reichtumsform aufrecht zu erhalten Stück um Stück die gesellschaftlichen Reproduktionsvoraussetzungen oder diese Gesellschaft entbindet die Reichtumsproduktion endlich vom betriebswirtschaftlichen Rentabilitätszwang. Entweder formiert sich eine Emanzipationsbewegung in fundamentaler Frontstellung zum arbeitsgesellschaftlichen Irrsinn oder es formiert sich gar nichts mehr außer konkurrierenden Formen von Unmenschlichkeit.
Angesichts des demoralisierten Zustands, in dem sich das oppositionelle Spektrum derzeit befindet, insbesondere hierzulande, kann eine solche Perspektive sehr leicht ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit wecken. Wenn schon die in 150 Jahren auf der Basis der arbeitsgesellschaftlichen Logik mühsam erkämpften sozialen Standards und Errungenschaften dahinschmelzen wie Schnee unter tropischer Sonne, ohne dass sich ernsthafter Widerstand regt, wie soll dann gar radikaler Antikapitalismus Boden unter den Füßen gewinnen können? Tut man nicht besser daran, statt eine derart hohe Messlatte aufzulegen, lieber erreichbare Ziele anzuvisieren und wenigstens das Schlimmste zu verhindern?
Ein gewisses Erschaudern vor der Tiefe des nötigen Umbruchs ist natürlich nur zu verständlich. Nichts wäre indes fataler, als ausgerechnet mit dem Hinweis auf das Elend der Opposition und die verheerenden Kräfteverhältnisse eine radikale Neuorientierung zum überflüssigen Luxus zu erklären. Das Infragestellen der arbeitsgesellschaftlichen Logik markiert kein Fernziel, über das man sich vielleicht in besseren Tagen einmal Gedanken machen könnte, bis dahin aber nur Verbalradikalismus darstellt. Diese Orientierung ist unabdingbare Voraussetzung dafür, dass überhaupt wieder Kämpfe führbar werden, die über kurz aufflackernden und sofort wieder in sich zusammenfallenden Widerstand gegen die allerschlimmsten Zumutungen hinausgehen. Nichts ist von einem emanzipativen Standpunkt so unrealistisch wie ›Realismus‹, wenn darunter die stillschweigende Anerkennung der Unaufhebbarkeit der Arbeitsform und der betriebswirtschaftlichen Logik zu verstehen ist. Solange der Kampf gegen die Verschlechterung der Lebensverhältnisse und die Verallgemeinerung der Vernichtungskonkurrenz mit dem illusionären Vorhaben einer ›alternativen‹ Rettung der Arbeitsgesellschaft begründet wird, machen Protest und Kritik sich deren Unhaltbarkeit und Irrationalität zu ihrer eigenen. Sie müssen sich am Wegphantasieren der Krisenrealität beteiligen. Im Wettbewerb der halluzinatorischen Weltbilder bleiben die gemeingefährlichen, auf die Exekution der Ausgrenzungslogik ausgerichteten, aber allemal plausibler als der nostalgische Traum von einer Arbeitsgesellschaft mit einem etwas ›menschlicheren Antlitz‹. Das versprengte Häufchen linker Gewerkschafter und um ›Anschlussfähigkeit‹ an die offizielle Politik bemühter Attac-Sprecher können sich und anderen noch so oft weismachen, der Staat müsse nur die neoliberalen Konzepte durch neokeynesianische ersetzen, damit die Krise der Arbeitsgesellschaft und die Misere des Sozialstaats sich in Wohlgefallen auflöse; so borniert, das zu glauben, ist nicht einmal der Alltagsverstand. Das geschlossene Wahnsystem der Arbeitssekte lässt sich nicht von innen aufweichen, sondern nur indem man seine unhaltbaren Prämissen zum Kritikgegenstand macht. Sozialer Widerstand kommt heute deshalb nicht auf die Beine, weil er nach 200 Jahren Internalisierung der Arbeitsdiktatur darauf konditioniert ist, sich selber auf den arbeitsgesellschaftlichen Boden zu stellen. Der jedoch bricht ihm unter den Füßen weg. Grundbedingung für die Formierung emanzipativer Gegenwehr ist es, dies zu begreifen und gerade deshalb die so genannten ›Sachzwänge‹ der Krisenverwaltung nicht im Geringsten anzuerkennen.
Pseudoexpertentum, das zu ›alternativer‹ Politikberatung drängt, produziert aber nicht nur Konzepte, die selten auch nur das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben stehen; vor allem hat es dem für die neue Arbeitsdiktatur konstitutiven Vereinzelungsterror, der die fast widerstandslose Durchsetzung immer neuer Restriktionen überhaupt erst ermöglicht, nichts entgegenzusetzen. Denn es schreibt die Logik der politischen Mobilisierung fort, der zu Folge die Vereinzelung immer nur symbolisch bei bestimmten Events wie Demonstrationen, Kongressen und Kundgebungen durchbrochen wird – und zwar stets nur als Mittel zum Zweck eines in ferner Zukunft liegenden (und tatsächlich unerreichbaren) ›politischen Ziels‹. Das Engagement gegen das eine oder andere Übel aus dem System der herrschenden Widerwärtigkeiten nimmt bei einer solchen Orientierung für die Einzelnen unweigerlich die Form einer vom eigenen Daseinskampf abgetrennten Zusatzanforderung an und hat meist den Charakter von Stellvertreterprotesten. Diese Form des klassischen politischen Vorgehens ist nicht nur grundsätzlich zu kritisieren, sie ist auch historisch obsolet. Gerade angesichts der Verschärfung der Verhältnisse sind immer weniger Menschen in der Lage, eine solche psycho-soziale Luxusleistung dauerhaft in ihr Leben zu integrieren.
Die gegenwärtige Situation schreit geradezu nach Kristallisationskernen, an denen sich der Schock über die immer neuen Zumutungen und ein weit verbreitetes, wenn auch diffuses Unbehagen an einer zusehends auf totale Konkurrenz getrimmten Gesellschaft zu sozialem Widerstand verdichten kann. Eine emanzipatorische Formierung auf der Problemhöhe der Zeit wird erst möglich, wenn sie in der Lage ist, die Frage der persönlichen Reproduktion und die Verfolgung gesellschaftlicher Ziele perspektivisch zusammenzuführen. Diese Brücke lässt sich aber nur von einer fundamentalen Kritik aus schlagen, die sich offensiv gegen die Vereinzelung und damit gegen die Reduktion sozialer Beziehung auf Geldbeziehungen wendet und sich auf die sukzessive direkte kollektive Aneignung der gesellschaftlichen Ressourcen hin orientiert.
Vom Gebrauchswert radikaler Arbeitskritik
Die konsequente Kritik von Arbeit und Warenform existiert heute nur als theoretischer Ansatz. Wer daraus ableitet, diese Position würde per se die Schwelle zu einer emanzipativen Praxis besonders hoch setzen und wäre von der Alltagserfahrung durch eine Chinesische Mauer getrennt, irrt. Zunächst einmal kann der arbeitskritische Ansatz in der individualisierten Existenz in dieser Gesellschaft etwas Entlastendes haben. Er hilft, in einer verrückten Gesellschaft selber nicht völlig verrückt zu werden. Wen beschlichen unter dem Verfolgungsdruck der arbeits-terroristischen Institutionen und angesichts der permanenten medialen Gehirnwäsche nicht schon Zweifel am eigenen Denken und Fühlen? Wer hat sich nicht schon wie ein Außerirdischer gefühlt, wenn die Mitgeiseln im eigenen Umfeld reihenweise dem ›Stockholmsyndrom‹ verfallen und anfangen, sich mit den Motiven und Wahnvorstellungen ihrer arbeitsterroristischen Geiselnehmer zu identifizieren? Doch diese Zweifel sind unberechtigt. Das Empfinden all jener, die im Sich-Verkaufen einfach nicht das höchste Glück auf Erden erkennen können, stimmt mit einer konsequenten Analyse des heutigen Kapitalismus durchaus überein: Als Geisterfahrer sind die Arbeitsenthusiasten unterwegs, nicht wir Unwilligen.
Perspektivisch wichtiger ist freilich die Frage nach dem ›Gebrauchswert‹ eines arbeitskritisch neufundierten Antikapitalismus für die dringend gebotene kollektive Notwehr gegen den arbeitsgesellschaftlichen Amoklauf. Ihn zu entdecken, wäre geschichtliche Tat, eine Tat, die freilich nicht im Rahmen von auf sich selbst gestellter gesellschaftskritischer Theorie, sondern nur von einer Emanzipationsbewegung vollbracht werden kann und deren Inhalt ausmachen würde. So viel lässt sich freilich antizipieren: Radikale Arbeitskritik wird nicht praktisch, indem sie neue, bisher unbekannte Terrains sozialen Kampfes erfindet; sie ermöglicht die Orientierung in jenen sozialen Auseinandersetzungen, die das arbeitsterroristische Lager mit seinem großen Selbstverheizungsprojekt längst schon einseitig vom Zaun gebrochen hat. Es gilt, von einem Widerstand, der sich auf die aussichtslose Verteidigung des Status quo reduziert, zu einer emanzipativen Konfliktbestimmung gegenüber dem Selbstverbrennungskapitalismus zu kommen.
Die Überschrift, unter der die nächsten Jahrzehnte stehen werden, zeichnet sich in unmissverständlicher Deutlichkeit ab: ›Krieg der Arbeit‹. Es stellt sich allerdings die Frage, ob diese Devise nur in ihrer bedrohlichen Variante oder auch in ihrer hoffnungsschwangeren Zweitbedeutung das Geschehen bestimmen wird.