aus: Lohoff, Ernst; Trenkle, Norbert; Wölflingseder Maria; Lewed, Karl-Heinz (Hg): Dead Men Working. Gebrauchsanweisungen zur Arbeits- und Sozialkritik in Zeiten kapitalistischen Amoklaufs, Münster 2004, S.103 – 123
Phänomenale Erlebnisse einer arbeitslosen Geisteswissenschaftlerin
von Maria Wölflingseder
»…Dummheit stand hoch im Kurs, die Sozialämter hatten wegen Lieferschwierigkeiten meistens zu, Arbeit gab’s nur für Crashtestdummies, und die Liebe war in Urlaub.«
Ahne, in: Wladimir Kaminer (Hg.): Frische Goldjungs, München 2001
Aus dem Spiegel blickt mir ein Zombie entgegen. Ein völlig verquollenes rotes Gesicht, das sich wie ein Reibeisen anfühlt. Meine legendären großen blauen Augen, meine Stupsnase sind buchstäblich im Lymph-Stausee ertrunken. Was, wenn dieses Aussehen nicht mehr verschwindet? Als ob ich nicht schon genug Horrorvisionen hätte! Ich habe begonnen, meine Neurodermitis Immunsystem stimulierend behandeln zu lassen. Meine Erlebnisse als Arbeitslose, die ich mir in den kühnsten Alpträumen nicht hätte zusammenphantasieren können, bescherten mir diese Hautkrankheit. Während des Winters sind Arme, Beine und die rechte Hand stark in Mitleidenschaft gezogen: gerötet, juckend, blutig gekratzt. So ergeht’s mir, die ich mit Hautproblemen ungefähr so viel Erfahrung hatte wie im Fassadenklettern – nun aber könnte ich problemlos Wände hochgehen.
Von keinem Vorgesetzten, von keiner Lehrperson, bis dato auch von keinem Arbeitsmarktservice(AMS)-Betreuer wurde ich zuvor jemals so feindselig behandelt – als Schuldige, als Renitente, die zur Räson gebracht werden muss, die gegängelt werden darf. Meine AMSBetreuerInnen und KursleiterInnen brachten diese Premiere bravourös über die Bühne. Ich könnte mir keine überzeugteren Akteure vorstellen. Umwerfend! Es zog dem zeitlebens gewieften wie umtriebigen Wesen zum ersten Mal buchstäblich den Boden unter den Füßen weg: Wochenlang hatte ich immer wieder nie gekannte Schwindelzustände. Der Schock über den Schock: Warum habe ich davon noch nirgends gehört oder gelesen? Ich kann doch nicht die Erste sein, der solche Behandlung zuteil wird. Üben sich alle in Blinde Kuh? In Leugnung der Arbeitslosen-Wirklichkeit?
500 Arbeitslose und ein (Fernseh-)Prediger
Im ersten Monat meiner Arbeitslosigkeit wurde ich, 42-jährige Geisteswissenschaftlerin in Wien, schriftlich zu einem ›BewerbungsImpulstag‹ ins Messe-Kongresszentrum am Rande des Wurstel-Praters vorgeladen. Im Brief steht zuoberst in riesigen Lettern »Vorschreibung eines Kontrolltermins gem. § 49 ALVG« und unten die Rechtsmittelbelehrung: Bei Versäumnis des Kontrolltermins, also bei nicht Erscheinen zum Bewerbungs-Impulstag, kann es zur Streichung des Arbeitslosengeldes bis zu 62 Tagen kommen. Im beiliegenden Prospekt klingt der Zwang zur Teilnahme so:
»Wir lassen Sie nicht allein bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz. … Weitere unterstützende Seminare sind vorgesehen. Sie können effizient und erfolgreich starten! Die Themen des Tages: Sie entdecken die eigenen Stärken als Kapital auf dem Arbeitsmarkt. Marktanalyse leicht gemacht – verdeckte Jobs suchen und finden. Formulieren und erreichen Sie Ihr Ziel – Selbstmotivation kann jede/r lernen. Körpersprache und Persönlichkeitsstil optimal einsetzen. Selbstvertrauen und Überzeugungskraft gewinnen – Erfolg beginnt im Kopf. Tipps und wertvolle Hinweise, damit Bewerben Freude macht. Unterlagen gestalten, Gehalt sicher verhandeln, Alter argumentieren.«
Fünfhundert Arbeitslose – vom Hilfsarbeiter bis zur Akademikerin – saßen zwei Coachs gegenüber. Wir wurden belehrt, dass es keine Verlierer gibt, nur welche, die aufgeben. Dass es um nichts weniger als um den ›Traum unseres Lebens‹ geht: Arbeit soll ja Spaß machen. Jeder kann seinen Traumjob bekommen, man braucht nur ›von der Schattenseite in die Lichtseite treten‹ und Götz von Berlichingens Ratschlag befolgen: »Lächle mehr als andere!« Wir wurden belehrt, dass Frauen nichts Rotes zum Vorstellungsgespräch anziehen sollen, weil dies eine Kampffarbe sei. Auch Handgestricktes, Trachten (außer man stellt sich in einem Trachtengeschäft vor) und Rüschen seien tabu, sie signalisieren Bequemlichkeit und Trägheit. Für die Rocklänge gäbe es ganz einfache Vorschriften: zwischen eine Handbreit überm Knie und eine Handbreit unterm Knie. Für Männer ab einer Gehaltsvorstellung über 25.000 Schilling (1.800 Euro) brutto bestehe Krawattenzwang. Und weiße Socken seien noch immer die Todsünde Nummer eins. Zu guter Letzt: Du brauchst nirgends als Bittsteller aufzutreten, du hast etwas zu bieten, du verkaufst ja deine Stärken und Fähigkeiten. Sodann musst du nur noch deine einzelnen konkreten Planungsschritte festlegen und verwirklichen, und der Traumjob ist dir sicher. Schließlich gibt es ja eine Million offene Stellen pro Jahr. Die Trainerin, eine knackige, gestandene Frau. Der Trainer, ein großer, dicker, sanfter Selfmademan, vom Automechaniker zum evangelischen Theologen zum Unternehmensberater mit Managementausbildung. Seine Anleihen hat er zweifelsohne bei amerikanischen Fernsehpredigern genommen.
Eine Einlage bot der Auftritt eines Bundesheer-Vertreters. Er umwarb Frauen, aber nur jene bis 34. Die hätten beim Heer keine üblen Berufsaussichten. Unter den unzähligen Info-Tischen – von mehreren Leiharbeitsfirmen bis zum esoterischen Management-Büchersortiment – dominierte bei weitem jener des Bundesheeres.
Folgende Bücher wurden uns wärmstens empfohlen: Von Joseph Murphy, dem Urgroßvater des positiven Denkens, »Werde reich und glücklich. Entdecke Deine unendlichen Kräfte«. Von Chris Lohner, ehemalige Fernsehsprecherin und Österreichische-Bundesbahn-Bahnhofs-Stimme, »Keiner liebt mich so wie ich. Oder die Kunst in Harmonie zu leben« und »Keine Lust auf Frust, keine Zeit für Neid«. Von Ute Ehrhardt »Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin«. Sowie ein Buch über spirituelle Intelligenz.
Gary Lux, abgehalfterter Schlagersänger, hat einen Song für diesen Tag komponiert. Ganglien verklebend schallte es in den Pausen über die Lautsprecher:
»Geboren in diese Welt von Leidenschaft und Geld, scheint manches Ziel oft unerreichbar fern. Du fragst dich nach dem Sinn von Ehrgeiz und Gewinn und zweifelst an dir selbst nur allzu gern. Doch irgendwo in jedem von uns lebt ein kleiner Traum, der unaufhörlich nach Erfüllung brennt, und irgendwo in jedem von uns gibt es diese Kraft, die unsichtbar das Schicksal für uns lenkt. Mach was draus, geh hinaus, steh einfach zu dir selbst, übe dich in Zuversicht, bis du den Weg erkennst. Es kann so einfach und so wunderbar sein auf dieser Welt, drum mach was draus und denk nicht ans Geld. Das Leben ist ein Spiel mit unbekanntem Ziel, die Würfel hältst du selbst in Deiner Hand. Oft kommt ein schlechter Zug, man denkt, es ist genug, doch nur wer durchhält, wird am Schluss erkannt.«
Wer bis zum Abend ausgehalten hat, bekam eine CD mit einer Zusammenfassung des Bewerbungs-Impulstages, inklusive Gary Luxens Konzert, um sich zu Hause weiter stimulieren zu lassen. Einer der fünfhundert Mitzumotivierenden ist ein guter Bekannter von mir, aus engagierten linken Kreisen. Während andere von Gehirnwäsche munkelten, war sein einziger Kommentar: »Nach meiner Mediator-Ausbildung mache ich auch Arbeitslosen-Kurse.« Da erübrigt sich zu fragen, warum nichts an die Öffentlichkeit dringt über diesen staatlich zwangsverordneten und finanzierten Aberwitz. Alles, was Arbeitslose und Arbeitslosigkeit betrifft, scheint besonders anfällig für Verdrängung zu sein.
Wie in einer ›totalen Institution‹
Habe ich im AMS-Roulette besonderes Pech mit meiner Betreuung oder hat die Willkür System? Andere bekommen über 1.090 Euro Arbeitslosengeld und werden angemessen behandelt, ich erhalte 450 Euro und als Draufgabe eine Behandlung, die frappant an jene in ›totalen Institutionen‹ erinnert. Beim ersten Termin am AMS wurde keinerlei Gespräch mit mir geführt, sondern nur eine Drohung ausgesprochen: »Sie haben noch keinen neuen Job, dann gibt’s nur zwei Möglichkeiten: eine Umschulung Richtung Computer oder Richtung Wirtschaft, sonst geht’s nur bergab! Damals wurde allen Ernstes versucht, möglichst viele AkademikerInnen – ob dazu geeignet oder nicht – in Web-Design-Kurse zu stecken.
Was für ein Affront einen beim nächsten AMS-Termin erwartet, weiß man vorher nie. Eine Arbeitslose »hat dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen« (deshalb darf sie auch nie ins Ausland fahren), sie hat fulltime Jobs zu suchen oder Kurse zu besuchen. »Eigentlich sind wir Leibeigene des Staates.«[1]
«Oftmalige Vorladungen, Listen mit Bewerbungen vorlegen, sich bei völlig unpassenden Stellen vorstellen gehen, darüber Bestätigungen vorlegen: Bewerbungen als Selbstzweck, der endlos betrieben werden kann – wie Lotterie spielen, verbunden mit denselben Hoffnungsphantasien, die nach drei Jahren trotz oder gerade wegen 250 bereits verschickter Bewerbungen zur Halluzination ausarten können.
Willkür scheint Programm zu sein. Zwei Arbeitslose in derselben Situation werden völlig konträr behandelt: Eine Ärztin und ein Arzt wollen nach dem Turnus (nach ihrer Assistenzarztzeit) eine Ausbildung zum Amtsarzt machen. Sie dauert einige Monate, einige Stunden pro Tag. Ihm wird dies erlaubt, ohne dass das Arbeitslosengeld gestrichen wird, ihr untersagt. Oder eine Frau, die nach Deutschland auswanderte: Sie war vor ihrer Übersiedlung einen Monat lang arbeitslos, in dem sie mit Kursen eingedeckt wurde. Die Hoffnung, dass da noch Zeit für all ihre unzähligen mit einer Auswanderung verbundenen Behörden-Rennereien bliebe, konnte sie sich abschminken. Die Liste solcher Beispiele ist lange. Ein Muster fällt dabei auf: Oft bekommen Arbeitslose nicht die Kurse, die sie wollen, während andere, die sie nicht brauchen oder wollen, dazu gezwungen werden. Ich wurde gemeinsam mit hundert anderen AkademikerInnen zum Wirtschaftsförderungsinstitut vorgeladen, um einen Eignungstest für einen dreimonatigen Wirtschaftskurs zu machen – darunter viele AkademikerInnen, die ein abgeschlossenes UniversitätsWirtschaftsstudium hatten! Wozu dieser Kurs gut sein soll, wurde uns nicht erklärt. Regelrecht wie Keiler gebärdeten sich die Kursleiter.
Bis vor kurzem wurde von PolitikerInnen und seitens des AMS stets behauptet, Arbeitslose seien minderqualifiziert oder hätten die falsche Ausbildung. Ich wurde aber meist mit der Begründung überqualifiziert abgelehnt. Aus- und Weiterbildung, Umschulung – ein Allheilmittel gegen Arbeitslosigkeit? Wohl eher doch Auftragsbeschaffung für Kursinstitute einerseits und Auf-Trab-Halten der Arbeitslosen andererseits. Kursinstitute sind in den letzten Jahren wie Schwammerl (auf bundesdeutsch: Pilze) aus dem Boden geschossen. Sie unterbieten einander im Preis, um Aufträge zu ergattern. Die Illusion, die vor Arbeitslosigkeit rettende Idee zu finden, lässt sich gut vermarkten. Bewerbungsratgeber, in Buchform als auch in Person, gibt es wie Sand am Meer. Wenn es sonst schon keine Einkommensquelle gibt, versuchen AutorInnen und Coachs, aus den Arbeitslosen Kapital zu schlagen. Der ganze Kurs-Zirkus ein potemkinsches Dorf: die einen – sonst Arbeitslosen – schulen die anderen Arbeitslosen.
›Jeder Arbeitslose hat ein Defizit!‹ Oder: Kollektiver Realitätsverlust
Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit avancierte ich in einen halbjährigen Kurs (viermal die Woche) von ›Come back urban‹. Eine aus China stammende Teilnehmerin konnte wenig Deutsch, eine war schwer krank und hatte nie einen qualifizierten Job; eine aus Jugoslawien stammende Arbeiterin war über 50; ein junger Mann hatte viele Vorstrafen; einer war hoch lohngepfändet; einer war Sonderschulabgänger
– und ich: Doktor der Philosophie, für alles überqualifiziert. Wahrscheinlich ist das mein Defizit. ›Defizit‹ scheint ein magisches Wort zu sein. Alle Arbeitslosen haben eins gemeinsam: das Defizit. Welches, das muss eruiert werden, um es dann (angeblich) zu beheben. Im Brustton der Überzeugung konterte der Trainer den Hinweis auf meine bis dato 150 Bewerbungen: Er könne sich nicht vorstellen, warum ich arbeitslos sei, bei ihnen bekäme ich sicher einen Job. Sie hätten auch Stellen, die sonst nirgends ausgeschrieben seien. Nach zwei Wochen Psychospielchen, von denen keiner wusste, wozu sie eigentlich gut sein sollten, durfte ich bereits mit der Jobsuche beginnen, während die anderen erst in eine ›Orientierungsphase‹ eintraten.
Ich erhielt kein einziges Stellenangebot, das nicht aus der Zeitung stammte. Derartige Bewerbungen hatte ich bereits zuvor zu genüge geschrieben, nur, dass ich jetzt auch auf völlig unpassende, also absolut aussichtslose Stellenangebote reagieren musste. In sieben Wochen verschickte ich 70 Bewerbungen. Daraufhin waren die TrainerInnen ziemlich kleinlaut. Aber vielleicht habe ich noch immer keinen Job, weil ich einfach zu wenig Wein getrunken habe. Ja, nicht Alkoholsuchtgefährdete sollen ruhig ein Gläschen Wein trinken, um ganz entspannt und beschwingt in das Bewerbungsgespräch zu gehen, voll überzeugt, den Job zu kriegen. Wahlweise soll man zumindest an etwas Schönes denken oder das Foto seiner Kinder, seines Mannes oder seiner Frau betrachten, um ganz positiv gestimmt zu sein. Nur so habe man überhaupt eine Chance, einen Job zu kriegen.
Einmal wöchentlich trainierten wir vor der Videokamera das richtige Bewerben. Mir wurde angeraten: »Sie haben doch soviel Charme, den müssen Sie viel besser einsetzen!« Täglich hörten wir, dass wir immerzu zu lächeln und puren Optimismus auszustrahlen hätten – ganz besonders auch beim Telefonieren. Es war uns verboten, im Kurs schlechte Erfahrungen bei der oft jahrelangen Arbeitssuche zu äußern. »Vergessen Sie all Ihre schlechten Erfahrungen! Sie sind kein Opfer, es liegt an Ihnen!« Schließlich durfte ich noch ein Praktikum und ein paar Computerkurse machen. An manchen Tagen war ich von 8 bis 22 Uhr unterwegs.
Das Klima im Kurs glich dem in einem von schlechten Pädagogen geführten Schwererziehbarenheim. Permanent diese subtile Unterstellung: du bist schuld, du hast etwas angestellt; du musst nur wirklich wollen. Nach zehn Wochen löste sich der Kurs von selbst auf. Manche sind entlassen worden, mit einer sechswöchigen Sperrfrist des Arbeitslosengeldes, für andere wurde der Kurs als nicht geeignet erachtet. Eine Frau war bei einer Leiharbeitsfirma des WAFF (Wiener Arbeitnehmerförderungsfond) untergekommen. Ich habe kurzfristig für zwei Monate ein Angebot an der Uni Klagenfurt als Gastprofessorin bekommen, weil die vorgesehene Dozentin nach Berlin berufen wurde. Danach war ich wieder arbeitslos.
Eine Bekannte von mir ist Ärztin im Allgemeinen Krankenhaus. Nach der Schilderung meines Arbeitslosenkurses meinte sie erstaunt: »Und ich fragte mich immer, warum Arbeitslose ständig irgendwelche Bestätigungen fürs Arbeitsamt brauchen. Jetzt ist mir auch klar, warum sich viele lieber ins Krankenhaus legen, um sich völlig unnötigen Operationen zu unterziehen, als sich den Schikanen eines Arbeitslosenkurses auszusetzen.«
Die staatlichen Arbeitslosenwächter – darunter so manche meiner Freunde – machen nicht nur ihren Job vorbildlich, sie erzählen dir auch privat permanent diese Ammenmärchen, als ob sie dafür ebenfalls bezahlt würden. Unzählige, die früher die perversen gesellschaftlichen Verhältnisse kritisiert haben, kritteln heute, wo die Verhältnisse völlig übergeschnappt sind, stattdessen an den Arbeitslosen herum. Nein, nicht ganz alle: Einmal habe ich im Radio sogar eine ratlose junge Trainerin gehört, die in aller Öffentlichkeit sagte, sie wisse nicht, wie sie Jugendlichen ausländischer Herkunft erklären soll, dass sie keine Chance auf eine Lehrstelle hätten. Aber das Gros der Coachs ist unbeirrbar. Wahrlich wie moderne Prediger lullen sie dich ein. Wie eine Gebetsmühle perpetuieren sie die Beschwörungsformel: ›Wenn du nur wirklich willst, wenn du einfach besser bist als die anderen, dann bekommst du einen Job.‹ Auf die Frage an unsere TrainerInnen, ob es nicht einfach zu wenig Jobs gäbe und deshalb, egal welche Ausschlusskriterien angewandt werden, immer welche auf der Strecke blieben, sind sie – welch Wunder – eine Schrecksekunde lang stumm; aber nur, um danach wie ferngesteuert mit ihrer Leier umso erbarmungsloser wieder von vorne anzufangen.
Auch die Medienmacher ziehen – unterm allgemeinen kollektiven Realitätsverlust leidend – diese Masche beinhart durch, ohne Rücksicht auf Verluste. Kein Magazin, das nicht immerzu »frische Erfolgsstories« (O-Ton) auftischt – nach dem Motto: Ich habe es geschafft! – oder »100 Top-Jobs« präsentiert, die zu haben sind. Na bravo, ein paar arme ›Crashtest-Dummies‹ versuchen sich selbständig zu machen, Hunderte, ja Tausende bewerben sich um eine Stelle. Ein wahrer Triumph der Arbeitsbeschaffung! Und die Legionen von Arbeitslosen? Die scheint es nie leibhaftig zu geben. In den Medien kommen sie nicht vor, und selbst im persönlichen Gespräch ist ihre Arbeitslosigkeit kaum ein Thema – zumindest nicht in meinen Kreisen. Wer arbeitslos ist, murmelt höchstens etwas von »die Zeit nützen – für Weiterbildung oder eine neue Ausbildung«.
Staatliche Aufforderung zum Lügen
Im »Bewerbungsratgeber für Akademiker und Akademikerinnen«, herausgegeben 1991 von der Bundesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Österreich, den ich beim AMS erhielt, lese ich:
»Grundsätzlich ist auf Fragen zu Familie und Privatleben in irgendeiner, jedoch immer positiven Form einzugehen. Verweigerungen bringen nichts, sondern reduzieren die Chancen auf null. Es ist darauf zu achten, keine allzu großen Verstöße gegen überbrachte Rollenbilder – das gilt v.a. für männliche Bewerber – zu begehen. Männer, die über einen bestimmten Zeitraum ihre Kinder betreut haben oder im Haushalt tätig waren, werden nicht nur von ihren Geschlechtsgenossen im Personalmanagement zumeist als künftige Mitarbeiter abgelehnt, sondern bedauerlicherweise auch von Frauen. Verheiratete weibliche Bewerber mit (deshalb) nicht verschweigbarem arbeitslosen oder studierendem (sic) Anhang sollten Jobs (z.B. Projektarbeiten u. dgl.) anführen, die ihre Männer haben. Hausmänner machen die Bewerberin für keinen Arbeitgeber im privatwirtschaftlichen Bereich attraktiv.« Zur Frage »Derzeitige Tätigkeit« heißt es:
»Grundsätzlich gilt: Man arbeitet immer irgend etwas und irgendwo, und zwar auch dann, wenn man arbeitslos ist. Seine Arbeitslosigkeit zu thematisieren ist ein kaum korrigierbarer Fehler, durch den der Stellensuchende in den Verdacht gerät, unabhängig von Interessen, Ausbildung usw. eine Arbeitsstelle zu suchen, um bloß seinen Lebensunterhalt zu sichern. … Durch die Artikulation des Problems – in welcher Form auch immer – disqualifiziert sich der Bewerber oder die Bewerberin selbst.«
Im, für alle Langzeitarbeitslosen obligaten, AMS-Bewerbungskurs ›Jobcoaching‹ wird’s anno 2000 noch radikaler gelehrt: Kinder, fehlende Betreuung für diese, körperliche Behinderungen und ähnliche
»Unzulänglichkeiten« seien zu verschweigen!
»Wan i Ihnen sag, Sie soin beim Fenster aussi hupfen, machen’s es ja a net.«
Einerseits werden Arbeitslose permanent in Ausbildungskurse gesteckt – vornehmlich um die Statistik zu schönen. Das treibt Blüten: Eine Bekannte, über 50 Jahre alt, machte eine Ausbildung zur Arbeitslosentrainerin; auch danach noch ohne Job, wurde sie selbst sogleich wieder in einen monatelangen Bewerbungskurs gesteckt. Andererseits, wehe ich möchte selber eine Ausbildung machen, die mir sinnvoll erscheint und nur 300 Euro kostet, dann ätzt meine Betreuerin: »Sie schulen die ganze Zeit…« Ich wagte zu entgegnen, das würde einem doch immerzu nahe gelegt. Sie darauf: »Aber geh! Wan i Ihnen sag, Sie soin da jetzt beim Fenster aussi hupfen, machen’s es ja a net!«
Was ich dann aber machen sollte, war ein mehrmonatiges FulltimeJobcoaching – parallel zu meiner umfangreichen Sprachlehrerausbildung (Deutsch als Fremdsprache).[2]
Wie sich fast schon von selbst versteht war der Orientierungserfolg enorm: Drei Betreuerinnen gaben völlig widersprüchliche Order, solange bis ich schließlich doch von meiner dritten ›Maßnahme‹ verschont wurde. Aber nicht ohne unterwiesen worden zu sein, es wäre ja vor fünfundzwanzig Jahren schon absehbar gewesen, dass mein Pädagogikstudium brotlos sei.
Darf’s ein bisserl mehr an Zeitverschwendung sein?
Weil beim AMS alles seine Ordnung hat, gibt es auch hier eine Beschwerdestelle, ein Beschwerdemanagement. Mir war es beschert, mit allen drei ›Trouble-shootern‹ ins Gespräch zu kommen oder zu korrespondieren. Solch eine Anhäufung von Nullaussagen ist mir noch nie untergekommen. Der erste überschlug sich in Ambivalenz: Am Telefon rang er buchstäblich die Hände, als ich den Namen meiner ersten Betreuerin nannte: »Ach, Sie Arme, Frau Magister XY ist ja stadtbekannt für ihre unmögliche Behandlung von Arbeitslosen, warum haben Sie sich nicht schon früher bei mir gemeldet?« Bass erstaunt über diesen allzu empathischen Ton, folgte ich seiner Einladung, bei ihm vorzusprechen. Meine Beschwerde hatte dennoch null Konsequenzen und endete mit dem rüden Ratschlag, ich solle halt Taxifahren oder bei der Lebensmittelkette ›Billa‹ Regale einräumen.
Ein Jahr später erkundigte ich mich, wie ich dazu käme, zu einem Halbjahreskurs verpflichtet zu werden, der für mich völlig ungeeignet sei. Ich hätte noch nie gehört, dass jemand anderer in ähnlicher Lage so etwas machen müsste. Mir wurde 75 Minuten lang (auf meine Telefonkosten) in einem permanenten Auf und Ab von ja-aber erklärt, man wisse ja, wie unzulänglich solche Kurse seien, aber ich solle halt das Beste daraus machen.
Wiederum ein Jahr später erkundigte ich mich, ob das AMS nicht fähig sei, Damen von der berühmt-berüchtigten, im Schneeballsystem, im Strukturvertrieb arbeitenden Vertriebsfirma Herbalife abzufangen, anstatt sie an mich weiterzuleiten. Eine solche bekam von meiner AMS-Betreuerin meine Telefonnummer: Sie hätte auf der AMS-Homepage mein Inserat gelesen; als Pädagogin könne ich doch sicher gut mit Menschen umgehen, ob ich nicht Herbalife-Produkte vertreiben wolle? Die Antwort vom AMS: Ach, Sie haben schlechte Erfahrungen gemacht, das tut uns aber Leid!
Fazit: Beschwerden beim sprichwörtlichen Salzamt könnten nicht erfolgreicher und zeitraubender sein.
Ich und lebensuntüchtig?
Hör ich da die Hühner lachen?
Arbeitslos geworden, hatte ich nicht den blassesten Schimmer, was mich da am Arbeitsmarkt und beim AMS erwarten würde. Ich war allen Ernstes überzeugt, wieder irgendeinen Brotjob zu finden, nachdem die Zeitschrift »Weg und Ziel« eingestellt worden war, bei der ich gearbeitet hatte.[3]
Meine Freunde, Bekannten und Verwandten waren offenbar derselben Meinung. Als ich dennoch keinen Job fand, lernte ich alle meine Lieben völlig neu kennen. »Aber Du mit Deinen vielen Erfahrungen und Beziehungen, wenn Du nichts findest…!«, konterten sie meine erfolglosen Bewerbungen. Obwohl jeder weiß, wie hoch sie ist und dass sie nie wieder verschwinden wird, wird Arbeitslosigkeit dem Einzelnen gegenüber geleugnet, versucht, sie exemplarisch abzuwehren: Der konkrete Arbeitslose ›muss‹ wieder einen Job finden. Freunde und Bekannte untermauern das Unbedingte mit (meist völlig illusorischen) Ratschlägen und Tipps. Eine andere Hilfe können sie auch gar nicht anbieten. Wie das Karnickel vor der Schlange sitzen sie vor mir, ihrer eigenen personifizierten Angst vor Arbeitslosigkeit. Ich bin in erster Linie Arbeitslose; alles, was ich zuvor sonst noch gemacht habe, ist kein Thema mehr: zuerst brauchst du einen Job, dann kannst du dich deinen Vorlieben widmen. Das wäre ja noch schöner, wenn Arbeitslose sich in Ruhe der Literatur, dem Gedichte Schreiben oder was weiß ich widmen könnten.
Ein Freund, noch dazu ein ganz besonderer, seines Zeichens Psychologe und Psychotherapeut, äußerte ganz nonchalant, ob es nicht doch eine Frage der Lebenstüchtigkeit sei, einen Job zu haben oder sich selbst einen zu schaffen. Ich höre die Hühner lachen, und trotzdem sitzt diese Ohrfeige! Reflektiertheit schützt nicht vor Schmach. Umso schmerzvoller, wenn sie von Freunden kommt. Der Arbeitslose ist niemand. Deshalb kannst du auch nicht Recht haben. Deshalb bist du schuld, unzufrieden und krank, kurz eine unbeliebte Zeitgenossin! Recht haben die, die dem allherrschenden Wahnsinn kein kritisches Wörtchen entgegenstellen. Ach du plattgewalzter Krisengipfel, da musste ich erst arbeitslos werden, damit ich sehe, wohin es die meisten Freunde und ehemaligen MitstreiterInnen getrieben hat (auch wenn sie sich noch immer als ›links‹ bezeichnen).
Der einzige ›Fortschritt‹ heute nach drei Jahren: Nun, wo bereits die 30-Jährigen gut ausgebildeten Erfolgreichen en masse arbeitslos werden, ist die Haltung mir gegenüber etwas gnädiger geworden. Nur wenige brachten es von Anfang an auf den Punkt: »Tja, mit Losern will heute niemand etwas zu tun haben.
No Money – Only Woman and Cry
Was meine Situation verschärft: die Höhe meines Arbeitslosengeldes, 15 Euro pro Tag. Ich hatte nur 20 Wochenstunden angestellt gearbeitet, ansonsten als freiberufliche Wissenschaftlerin. Die 450 Euro Arbeitslosengeld reichen gerade mal für die Miete meiner 60m2-Wohnung. Eine Freundin aus gemeinsamer Sozialakademie-Zeit – sie arbeitet als Sozialarbeiterin – im vollsten Brustton der Überzeugung: wenn mein Arbeitslosengeld so niedrig sei, bekäme ich doch sicher vom Sozialreferat Unterstützung. Alle, die sich dort mal hineingetraut haben, wissen, warum viele die Brücke bevorzugen, aber viele Sozialarbeiter scheinen noch immer ans Märchen vom Sozialstaat zu glauben. Die behördliche Vorgabe auf diesem Amt lautet offenbar: loswerden, wer loszuwerden ist. Eigentlich ist jede Unterstützung ohnehin nur eine Ermessenssache. Drei Monate nach Beginn meiner Arbeitslosigkeit wagte ich den Versuch. Die Methoden, AntragstellerInnen erst gar nicht vorzulassen, sind vielfältig. Ich schaffte es erst beim dritten Mal. Zuerst schickten sie mich auf ein anderes – nicht zuständiges – Amt. Welche Unterlagen ich brauchte, wurde mir erst nach und nach mitgeteilt. Schließlich war ich mit der Begründung, ich hätte ja (vor drei Monaten) 20.000 Schilling (1.450 Euro) Abfertigung bekommen, schnell wieder vor der Tür. Im Gegensatz zu jenen am AMS sprechen die Klienten am Sozialreferat miteinander. Sie haben nichts mehr zu verlieren. Von den Beamten werden sie wie Un-Menschen behandelt. Während der stundenlangen Wartezeit erfuhr ich von zahlreichen Schikanen; fassungslos, mit geballter Wut im Bauch, hätte ich am liebsten das Büro des Chefs der Wiener Sozialreferate gestürmt. Ich kenne ihn aus den Tagen des gemeinsamen Engagements Ende der 70er Jahre, als der gute Mann ach so revolutionär war! Er ist immer so empathisch und nett, dass einem die Spucke wegbleibt. Unter seiner Führung wurde mittlerweile tatsächlich begonnen, die Sozialreferate zu reformieren. Und was sind die Neuerungen? Man bekommt nun so gut wie gar keinen Termin mehr. Deshalb ist ›SOS-Mitmensch‹ nun damit beschäftigt, die Hilfesuchenden vor dieser Einrichtung in Schutz zu nehmen und nach dem Rechten zu sehen.
Ich hatte zuvor noch nie finanzielle Probleme gehabt. Auch war ich nie von den Eltern oder von einem Mann finanziell abhängig – für mich, in den 70er Jahren groß Gewordene, eine Selbstverständlichkeit. Plötzlich tauchte regelmäßig der reiche Mann auf – nein, nicht persönlich, sondern seitens meiner Freunde als (scherzhaft?) phantasierte Problemlösung. Von heute auf morgen nicht mehr für mich, für mein finanzielles Auskommen sorgen zu können, stellt alles in Frage. Mich samt und sonders. Unfassbar, ja ein Phänomen, wie jemand, deren Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein stets blühte und gedeihte, die nicht deshalb einen Job braucht, weil sie sonst nicht wüsste, was tun, oder der Anerkennung wegen, trotzdem plötzlich zum Nichts mutiert und sich selbst verwünscht!
Auch jeder Handgriff, den ich mache oder nicht, ist in Frage gestellt. Lähmung in jeder Hinsicht. Dringende Reparaturen, die jährliche Wartung der Heizung, Anschaffungen, Bücher, CDs, viele Dinge des täglichen Gebrauchs, aber auch Freunde zum Essen einladen, kann ich mir nicht mehr leisten. Das fehlende Geld für Kultur oder Bahnfahrten lässt einen am besten zu Hause bleiben. Fast jeder Schritt in die Öffentlichkeit ist mit monetären Ausgaben verbunden. Nicht zufällig habe ich Neurodermitis[4], eine Stoffwechselkrankheit, die einen mitunter ziemlich außer Gefecht setzt.
Wo kein Geld fließt, fließt nichts mehr. Begebe ich mich dennoch auf die Straße, werde ich gleich mehrmals von immer jünger und immer penetranter werdenden Junkies und Obdachlosen angeschnorrt. Wenn ich entgegne, ich sei selber arbeitslos, bekomme ich zu hören: »So schaun’s aba net aus!« Die rapide Zunahme dieses – durch Arbeitslosigkeit verursachten – offensichtlichen Elends, besonders in Form der Drogenszene, die sich buchstäblich vor meiner Haustüre tummelt, drückt schwer aufs Gemüt. Wenn ich morgens das Fenster öffne, erblicke ich nicht selten in einem parkenden Auto, so schön aus der Vogelperspektive durch die Windschutzscheibe, wie sie sich die Nadeln in alle möglichen Venen murksen.
Apropos angeschnorrt werden: Als ob jenes auf der Straße und in der U-Bahn und die Schnorrbriefe von verschiedensten wohltätigen oder Umwelt-Organisationen, die ich mehrmals wöchentlich im Briefkasten vorfinde, nicht schon genug wären. Als ich die Antwort auf eine Bewerbung bei der evangelischen Diakonie erhielt, die SozialarbeiterStellen im »Standard« ausschrieb, blieb mir die Luft im Hals stecken: mehrere dicke, ausführliche, aufwendig hergestellte Schnorrdossiers.
– Vielleicht sollte ich in Hinkunft auf alle Mailings mit einem Gegenmailing antworten: Die Ich-AG M.W. ersucht dringend um Spenden. Jedenfalls, die Muße für all das, was ich immerzu, ohne oder mit geringem Salär, gemacht habe, schrumpft immer mehr: wissenschaftliche Buchbeiträge und Artikel schreiben, Belletristik lesen und rezensieren, Gedichte zu Papier bringen, Kroatisch lernen und vieles andere. Das glatte Gegenteil von Ansporn durch Erfolg. Ein Feststecken im Sumpf.
Kein Wunder, dass heute allzu viele Frauen wieder vom Geld ihres Mannes leben, Kinder kriegen, um ihre Arbeitslosigkeit zu kaschieren oder auch um vor unerträglichen Jobs zu flüchten. Kein Wunder, dass in Deutschland die Scheidungsrate plötzlich um 30 Prozent zurückgegangen ist. Frauen würden keinen Job finden und Männer sich die Alimente nicht leisten können. Dass solches auch von betroffenen, sich als feministisch bezeichnenden Frauen völlig unreflektiert bleibt, verwundert allerdings sehr.
Nicht nur die Situation von Arbeitslosen wird – auch von diesen selbst – weitgehend geleugnet und verdrängt, sondern vor allem die Ausweglosigkeit der Arbeitsgesellschaft generell. Was für eine gespenstische Anpassung!
Wie einen der Realitätsverlust mitunter selbst überwältigt
Zu schildern, welch blaue Wunder ich bei der Jobsuche erlebt habe, würde den Rahmen dieses Beitrags weit überschreiten, deshalb nur ein klein wenig darüber.
Jobsuche kann rund um die Uhr betrieben werden. Im Internet gibt es unzählige Seiten mit Jobinseraten. Diese alle durchzuackern, kann süchtig machen: Das kann’s doch gar nicht geben, dass da kein Job für mich dabei ist, bis jetzt habe ich doch immer etwas Passendes gefunden! Aber der Alptraum holt mich schnell ein: ich laufe frischfröhlich drauflos, komme aber keinen Millimeter vom Fleck.
Mindestens auf die Hälfte meiner Bewerbungen, nicht nur auf Blindbewerbungen, bekomme ich keinerlei Antwort, auch keine E-Mails. Oft ist es gar unmöglich, überhaupt jemanden bei der einzigen Kontaktmöglichkeit, einer Telefonnummer, zu erreichen. Oder es laufen nur Tonbänder, deren Stimmen einen auffordern, Name, Adresse, Telefonnummer und Geburtsdatum zu hinterlassen. Rückruf – meist keiner. Außerdem dienen – laut Auskunft von Jobcoachs – zirka 70 Prozent der Inserate nur dazu, um dem Gesetz der öffentlichen Stellenausschreibung zu genügen. Tatsächlich gibt es die benötigte Arbeitskraft bereits. Oder Ausschreibungen werden überhaupt nur der Promotion wegen gemacht, ohne dass es überhaupt einen Job gäbe.
Der finanzielle Druck und jener von Freunden, Bekannten und Verwandten treibt mich immer wieder auch zu den immer zahlreicher werdenden ›Schrott-Inseraten‹, zu jenen, die alles andere als ›seriöse‹ Jobs anbieten. So verbrachte ich viel Zeit mit Recherchen, Treffen und Überlegungen darüber, ob ich Werbetafeln mit mehreren beweglichen Plakaten als Franchise-Nehmerin vermarkten solle. Oder Euro-Geldbörsen auf Ständen vor Supermärkten. Oder Farben, Bastelmaterial und Geschenkartikel zum Selbstbemalen, nach dem schon erwähnten Schneeballsystem. Zu meiner Ehrenrettung muss ich hinzufügen, dass ich den Lebensunterhalt während meines Studiums unter anderem durchaus mit ähnlichen Jobs finanziert habe. Ich habe auf Messen elektrische Fensterputzer verkauft oder Marionettenfiguren vor einem Spielzeuggeschäft auf der Kärntnerstraße; alles auf Provisionsbasis. In der tiefsten Salzburger Bergprovinz habe ich in rotes Rüschenröckchen, rote Rüschenbluse, rote Strumpfhose und rote Pumps gekleidet, jeden Tag in einem anderen Supermarkt Coca Cola promotet. Nur ging das früher ganz unkompliziert, auf die Schnelle für gutes Geld, während heute alles langfristig nach dem (illegalen) Strukturvertrieb aufgebaut werden muss oder als selbständiges Franchise-Unternehmen funktioniert. Und ob man wirklich Geld dabei verdient oder nicht viel eher Schulden anhäuft, ist alles andere als erwiesen. Übrigens das potemkinsche Dorf Arbeitslosenkurse funktioniert auch ähnlich wie das Schneeballsystem: Arbeitslose AkademikerInnen werden Jobcoaches, die Arbeitslose als Jobcoaches ›werben‹. Ausbildungen für diese BerufsorientierungstrainerInnen – massenhaft Aus- und Weiterbildungen überhaupt – sind dann wiederum Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitslose. Eine sich abzeichnende schaurige Entwicklung: die Grenzen zwischen Gewinnspiel, Job, Weiterbildung und Sekte verschwimmen immer mehr.[5]
Jobs für ›finanziell Unabhängige‹
Eines der vielen Institute, die Nachhilfeunterricht für SchülerInnen anbieten – es kommt aus Deutschland und funktioniert auch als Franchise-Unternehmen – sucht immer wieder Frauen ab 35 für »verantwortungsvolle pädagogische Tätigkeit«, für die gesamte Koordination der Nachhilfestunden. Sie müssen mit LehrerInnen, aufgebrachten Eltern und SchülerInnen gleichermaßen gut umgehen können, täglich stressige vier bis fünf Stunden lang, wie betont wurde; Einkommen zirka 520 Euro im Monat. »Ach, wenn Sie von dem Geld leben müssen, ist das nichts für Sie«, meinte die Wiener Franchise-Nehmerin zu den versammelten Frauen im Gruppenvorstellungsgespräch. Die meisten standen sofort auf und brachen den zeitverschwenderischen Termin kopfschüttelnd ab.
Ein ähnliches Institut inseriert tatsächlich unter den Jobbedingungen: »Finanzielle Unabhängigkeit«. Da weiß Frau wenigsten gleich, woran sie ist.
Mein Rekordaufwand für 137 Euro Zubrot
Im Februar 2002 brachte das renommierte Wirtschaftsmagazin »Gewinn« die Titelstory: »Wo es die besten Nebenund Teilzeit-Jobs gibt.
1.500 tolle Jobangebote.« Die Firma Eurojobs suchte 30 ServiererInnen für leichte Serviertätigkeit bei Caterings und Veranstaltungen – etwa bei Kongressen im Austria-Center. Entlohnung zirka 7 Euro pro Stunde. Ich bewarb mich und wurde ›vorgemerkt‹. Es wurden also nicht tatsächlich 30 Servierkräfte gebraucht, sondern sie wollten einfach genug in petto haben. Ich rief täglich an, und fragte, ob sie einen Auftrag hätten. Schließlich ›durfte‹ ich in einem Monat drei Mal arbeiten. Verdienst 189 Euro. Vom Arbeitsamt bekam ich für diese drei Tage kein Geld (worüber ich von der ansonst sehr kompetenten Arbeiterkammer eine falsche Auskunft erhalten hatte), also minus 45 Euro. So bleiben 144 abzüglich 7 Euro Taxikosten, weil es nächtens einmal keine andere Heimfahrmöglichkeit mehr gab, das macht 137 Euro.
Die Investitionen für entsprechende Kleidung und Schuhe für diesen Job und für die erwarteten Engagements einer anderen Catering-Firma betrugen etwa 215 Euro. Diese Firma, die 50 ServiererInnen gesucht hatte, musste schließlich wegen mangelnder Aufträge passen. So hat mich also der Verkauf meiner Arbeitskraft eigentlich 78 Euro gekostet. Die Meisterleistung bei diesem Job war aber, die Arbeitsbestätigung fürs AMS aufzutreiben. Da Eurojobs meinte, sie hätten kein solches Formular, musste ich es selbst besorgen, vorbeibringen und später wieder abholen. Und aufs AMS darf man solch ein Papier natürlich auch nicht per Post schicken, sondern muss immer schön brav vorsprechen.
Ein andermal pilgerte ich gleich drei Mal aufs AMS, um die Bestätigung für einen Nebenjob (der sich nicht einmal auf das Arbeitslosengeld auswirkte) vorzulegen. Zwei Mal gaben sie mir eine falsche Auskunft über die vorgeschriebene Form dieses Papiers. Einmal davon wartete ich zwei Stunden, um unverrichteter Dinge von dannen zu ziehen. So vergehen Stunden und Tage und Wochen.
Was steckt hinter dem Makel ›überqualifiziert‹?
Eine Ahnung hatte ich schon, was mit dem Etikett ›überqualifiziert‹ gemeint sein könnte. Letztlich, dass ich einfach nicht ins Konzept passe; dass ich der allherrschenden Business-Logik nicht entspreche, nach der ja heute alles funktioniert: die Kultur genauso wie die Sozialarbeit, der Gesundheitsbereich und alle so genannten NGO-Einrichtungen. Ich bin einfach zu alt, und schon deshalb zu wenig angepasst. Ein anschauliches Beispiel bestätigt diese Vermutung: Eine Primarärztin in Niederösterreich möchte nicht 60 und mehr Wochenstunden arbeiten. Deshalb sucht sie eine Stelle als Oberärztin. Eine solche bekommt sie jedoch im ganzen Bundesland nicht, mit dem Argument, wer in der Hierarchie einmal weiter oben war, ist weiter unten untragbar. So jemand lässt sich nichts gefallen, ist also ›teamunfähig‹. Apropos 60 Wochenstunden und mehr arbeiten: Viele, nicht nur Selbständige und solche in prekären Arbeitsverhältnissen, sind schlicht dazu gezwungen, wenn sie ihren Job behalten wollen. Mittlerweile ist das gang und gäbe. In vielen Bereichen beziehungsweise Positionen gibt es überhaupt keine anderen Jobs mehr. Rund um die Uhr oder gar nichts.
»Jeder hat Probleme« – Ein extraordinärer Ratschlag
Schließlich sei noch ein Einblick in einen Briefwechsel mit einer Arbeitsvermittlungsagentur geboten, die im »Standard« inserierte. Ich füllte das Jobsuch-Formular auf ihrer Internet-Seite aus und erhielt folgende Antworten. Sie illustrieren, was von Arbeitssuchenden erwartet wird: Anpassung, Anpassung und noch einmal Anpassung!
Sehr geehrte Frau Doktor Wölflingseder,
Danke für Ihr eMail! Wir merken Ihr Interesse gerne vor. Wir bekommen aber leider kaum Aufträge aus den gewünschten Bereichen.
Alles Gute für Sie!
Mit freundlichen Grüßen Herr XY Stellenvermittlung XY
Sehr geehrter Herr XY!
Geisteswissenschaftler scheinen bereits abgeschafft worden zu sein. Und somit auch ihre Existenzberechtigung. Ich würde liebend gerne auch alles mögliche andere arbeiten, aber dafür bin ich »überqualifiziert«, wie mir immerzu beteuert wird, oder es ist unmöglich, von der geringen Entlohnung leben zu können.
Mit freundlichen Grüßen Maria Wölflingseder
Sehr geehrte Frau Wölflingseder!
Natürlich verstehe ich, daß Sie sarkastisch reagieren, aber ich wollte Ihnen keine Hoffnungen machen, die wir dann nicht erfüllen können. Versuchen Sie es doch bei den großen Personalberatungen, die mehr Großunternehmen betreuen. Es gibt auch Akademiker/innen, die ihren Titel unter den Tisch fallen lassen und behaupten, das Studium abgebrochen zu haben, nur um in einen anderen Bereich zu kommen und nicht gleich als überqualifiziert »abgestempelt« zu werden. Das kann man bedauern oder nicht, es ist auch nicht die ganz gerade Linie, aber wenn es hilft, es schadet ja niemandem. Ich habe die Anrede einmal ohne Titel geschrieben, und Sie werden bereits jetzt wissen, ob es geschmerzt hat oder nicht. Es ist sicherlich nicht so, daß die Gesellschaft die Geisteswissenschaftler nicht braucht, nur sprechen wir hier von PRIVATWIRTSCHAFT.
Und noch etwas aus fast 25 Jahren Praxis: »Nur wer sich aufgibt, ist aufgegeben.« NUR der/die! Es gibt eine große Gefahr, sich selbst zu sehr zu treiben bzw. im Extrem in Panik hineinzusteigern. Das ist wirklich gefährlich, aber das passiert Gott sei Dank den wenigsten Jobsuchenden. Sie kennen doch Ihren persönlichen Wert. Also suchen Sie eine Beschäftigung, die dazu paßt, und glauben Sie nicht, daß die Existenzberechtigung (zuerst sagt man »Geisteswissenschaftler«, dann vielleicht »ich«) fehlt, das ist wirklich sich selbst gegenüber unfair. Helfen Sie Ihrer persönlichen Einstellung mit sogenannten »helfenden Gemeinplätzen«, die man oft nicht mehr hören kann, die aber zeitlos gültig sind, wie z.B. Das Leben geht in Wellen. Jeder hat Probleme. Es genügt, 10 Minuten mit einem Menschen darüber zu reden, und schon möchte man nicht mehr tauschen.
Ich bin nicht geboren, um Trübsal zu blasen oder in Selbstmitleid zu baden. Ich werde es denen (mir) schon zeigen! Niemand ist für mein Wohl verantwortlich, nur ich selbst. Für Gläubige: Es gibt eine (un-, halb-bewußte) Verbindung mit irgendwelchen geistigen Kräften in der anderen Welt. Das gibt Kraft.
Für Ungläubige: Ich bin Künstler, denn es ist eine Kunst, ungläubig zu sein. (Spaß beiseite, es ist ernst.) (Kann unendlich fortgesetzt werden.)
Also nochmals alles Gute! Ich halte Ihnen die Daumen! Herr XY
Nachsatz oder: warum ich all meine Erlebnisse erst nach drei Jahren zu Papier bringe:
Ich wurde oft aufgefordert, all diese Erfahrungen doch zu veröffentlichen. Die Ereignisse überschlugen sich jedoch permanent, ich wusste überhaupt nicht, wo damit anfangen. Außerdem hatte ich so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Wenn, dann müsste ich eigentlich über jene schreiben, denen es noch viel schlechter geht als mir.
Und dann war da noch die totale Paranoia. Kann ich das überhaupt unter meinem Namen veröffentlichen? Was blüht mir, wenn das den AMS-Beamten zu Ohren und Augen kommt? Was passiert, wenn jemand auf die Idee kommt, meinen Namen in die Internet-Suchmaschine einzugeben, um zu sehen, was ich denn so treibe, vielleicht Schwarzarbeit? Dabei würden sie zweifelsohne auf meine Berichte stoßen.
Aber die Dinge beim Namen nennen, erleichtert es, an den Verrücktheiten der Arbeitslosenverwaltung nicht selber verrückt zu werden. Angesichts der immer ideologischeren und immer schrilleren Debatten, die Politiker, Sozial- und Wirtschaftsexperten über Arbeitslosigkeit und Arbeitslose führen, ist es höchste Zeit, dass sich auch völlig unbekannte Wesen zu Wort melden, über die da verhandelt wird: die Arbeitslosen. Es soll ja nicht Jahrzehnte dauern, bis all das Wegschauen und Schweigen der breiten Masse gebrochen oder überhaupt thematisiert wird. Es ist höchste Zeit, endlich Tacheles zu reden.
Frühjahr 2003
[1] Karl Reitter: »Eigentlich sind wir Leibeigene des Staates«, in: Volksstimme, 29. 6. 2000, Wien. Damals einer der wenigen kritischen Artikel zu diesem Thema. Vgl. auch: Gustav Valentin: Trainingsmaßnahmen sind Abschreckungsmaßnahmen, in: Menschen machen Medien, hg. v. IG-Medien, Nr. 5/6, 2000, Stuttgart.
Film- und Theaterschaffende haben immer wieder arbeitslose Zeiten zwischen ihren Engagements. Das Münchner Arbeitsamt drangsaliert diese Berufsgruppe mit demütigenden und beleidigenden Psychospielchen auf Bewerbungsseminaren beziehungsweise versucht, sie auf kaufmännische Berufe umzuschulen. Arbeitslosen aus anderen Berufen wird dies erst nach ein bis zwei Jahren Arbeitslosigkeit zuteil, Film- und Theaterschaffenden gleich zu Beginn – egal ob überhaupt Arbeitslosengeld bezogen wird. Manche müssen solche Seminare immer wieder besuchen. Wer nicht erscheint, bekommt eine Sperrfrist des Arbeitslosengeldes. Viele, die sich diesen Schikanen nicht aussetzen wollen, melden sich ab. So wird die Arbeitslosenstatistik geschönt und Geld gespart.
[2] Ich mache seit Herbst 2002 eine Ausbildung zur zertifizierten DaF-Lehrerin (Deutsch als Fremdsprache). Wie sich nun herausstellt, sind die Jobchancen auf diesem Gebiet allerdings auch alles andere als rosig. Als ich erführ, dass vom österreichischen Wissenschaftsministerium unterstützte Deutsch-Lektoren an ausländischen Unis nur bis 36 Jahren dort arbeiten dürfen, glaubte ich, mich verhört zu haben. Begründung: JungakademikerInnen müssten gefördert werden. Ein schöner Reinfall für eine, die wie ich gerne in einem slawischen Land unterrichten würde. – Ach ja, Gendermainstreaming in aller Munde, aber die Diskriminierung von über 40-Jährigen – wen interessiert das schon?
[3] Vgl. Maria Wölflingseder, Meine Jahre bei »Weg und Ziel«, in »Weg und Ziel« 1/ 2000. Siehe www.streifzuege.org unter »Weg und Ziel«-Archiv.
Es ist kurios, meinen Job beim legendären KPÖ-Theorieorgan bekam ich, da die Partei nach dem Austritt vieler Mitglieder nach der Wende, neue MitarbeiterInnen und AutorInnen suchte, die – so wie ich – nie Parteimitglied waren. Die Wende war aber dann auch mein Kündigungsgrund, da die deutsche Treuhand um das Geld der KPÖ prozessiert. So fielen das »Weg und Ziel« und ich einer der vielen Einsparungsmaßnahmen zum Opfer.
Neben meinem 20-Stunden-Job als Redaktionskoordinatorin war ich seit Ende der 80er Jahre in Österreich und Deutschland stark nachgefragte Esoterik-Analytikerin und Kritikerin. Auch dieses Zubrot versiegte Ende der 90er Jahren kontinuierlich – nicht nur weil das Thema Esoterik nicht mehr brandneu war, sondern weitgehend aufgrund von Geldmangel der Institutionen, die mich gerne zu Vorträgen eingeladen hätten. Und Buchbeiträge und Artikel sind sowieso unentgeltlich zu verfassen.
[4] Neurodermitis ist noch immer eine stark tabuisierte Krankheit, obwohl sie in den letzten 30 Jahren rapide zugenommen hat. In Österreich ist jeder zwölfte Erwachsene und jedes fünfte Kind bis 12 Jahren von einer stärkeren Form betroffen.
[5] Vgl. meinen anderen Beitrag in diesem Buch.