aus: Lohoff, Ernst; Trenkle, Norbert; Wölflingseder Maria; Lewed, Karl-Heinz (Hg): Dead Men Working. Gebrauchsanweisungen zur Arbeits- und Sozialkritik in Zeiten kapitalistischen Amoklaufs, Münster 2004, S. 7 – 11.
Vorwort
Unablässig wird uns die immergleiche Botschaft ins Hirn gehämmert: Neue Arbeit braucht das Land. Die aber sei nur zu haben, wenn die betriebswirtschaftliche Rentabilität endlich bedingungslos als gesellschaftliche Leitkultur anerkannt werde. Dann blühe uns ein Leben in materiellem Wohlstand und Freiheit.
Die gesellschaftliche Realität jedoch passt nicht so recht zu diesem Dogma. Die Länder des Südens und des Ostens haben die totale Entfesselung der Marktkräfte nach 1989 mit Verarmungsschüben bezahlt, zu denen sich höchstens in der Epoche der »ursprünglichen Akkumulation« (Marx) Parallelen finden lassen. Aber auch im Auge des Orkans wird es immer ungemütlicher. Mit rasanter Geschwindigkeit wird hier das gleiche Zerstörungswerk vollzogen wie in den Verliererländern des Weltmarkts. Nur um die kapitalistische Produktions- und Gesellschaftsform, die Warenproduktion, zu retten, werden alle sozialen und ökologischen Standards entsorgt. Der Abriss der sozialen Sicherungssysteme und die Plünderung der öffentlichen Infrastruktur hinterlässt eine breite Schneise gesellschaftlicher Verwüstung und sozialer Verrohung. Auch nach Deutschland kehrt die längst als angeblich gelöst vergessene ›soziale Frage‹ zurück. Die schöne neue Welt der Selbstvermarktung reimt sich für die Einzelnen auf prekäre Lebensverhältnisse, zunehmenden Stress, Mobbing und hochgradig unsichere Zukunftsperspektiven. Aber bitte, immer schön positiv denken und das penetrante Verkäuferlächeln nicht vergessen!
Wenn ihre großspurigen Glücksversprechen nicht aufgehen, reagieren Sekten vorzugsweise mit verstärkten Druck auf ihre Anhänger. Die Doktrin darf nie das Problem sein, sondern stets nur mangelnde Konsequenz und fehlende Hingabe bei deren Umsetzung; insofern liegt es allemal allein an den Jüngern, durch mehr Opferwille und Einsicht doch noch die Erlösung zu erlangen. Die Vertreter der marktwirtschaftlichen Heilslehre ticken keinen Deut anders. Können Sie tatsächlich in den ›Chancen und Risiken‹ der Selbstvermarktung nicht das höchste Glück auf Erden erkennen? Offensichtlich haben Sie ein massives Wahrnehmungsproblem. Wer die Welt zwanghaft negativ sieht, sabotiert seinen persönlichen Erfolg und zugleich den ›unseres Standorts‹. Ganze Weltregionen brechen weg und verelenden? Dort muss es an der Bereitschaft gefehlt haben, die verordnete Kur der totalen Ökonomisierung mit nötiger Konsequenz anzuwenden. Ausgerechnet Argentinien, der Musterknabe des IWF, ist wirtschaftlich ins Bodenlose abgestürzt? Das lässt nur einen Schluss zu: Die bei der Verfolgung der reinen neoliberalen Lehre eifrigste Führung auf der Welt war noch nicht eifrig genug. Die einstigen Lieblingskinder der viel gepriesenen ›New Economy‹, die neuen Informationsarbeiter, liegen zu Hunderttausenden auf der Straße oder räumen bei Aldi die Regale ein? Offenbar haben sie es nicht verstanden, alsbald neue Karrierechancen zu nutzen, und damit schon bewiesen, dass sie völlig zu Recht als untüchtig aussortiert wurden. Jedem das Seine. Der Markt hat immer Recht, und der Arbeitsmarkt sowieso.
Die ›Reform‹-Hysterie die derzeit über Deutschland und andere europäische Länder hereinbricht, markiert einen historischen Einschnitt. Es geht nicht mehr bloß um die Rücknahme einzelner sozialer Standards, die dem Kapitalismus abgerungen werden konnten. Es geht um den Totalabriss. Die auf Arbeit und Warenproduktion basierende Gesellschaft ist in einen fundamentalen Krisenprozess eingetreten, der sie in ihren Fundamenten erschüttert. Gerade in diesem Prozess enthüllt sie noch einmal ihren zutiefst irrationalen und destruktiven Charakter und tritt in eine offen terroristische Phase ein. Sozialer Widerstand dagegen regt sich kaum. Hierzulande noch weniger als anderswo. Das Heer der Arbeitslosen wird auf Diät gesetzt, darf sich bei der Arbeitssuche alles gefallen lassen und rührt sich nicht. Millionen stellen sich resigniert darauf ein, dass ›überkommene Besitzstände‹ wie die Aussicht auf einen Zahnersatz demnächst zum überflüssigen Luxus werden. So manche Faust ballt sich – bislang aber leider nur in der Tasche.
Der ökonomieterroristische Amoklauf schreit geradezu nach einer Gegenbewegung und nach einer Renaissance von Gesellschaftskritik. Und doch ist die antikapitalistische Opposition wie gelähmt, zeigt sich schicksalsergeben und orientierungslos. Weit davon entfernt, dem aufkeimenden Unwillen zur Sprache zu verhelfen, versinkt sie selber in Sprachlosigkeit und stellt alles andere als den Kristallisationskern für einen möglichen Widerstand dar.
Zunächst einmal erscheint diese Paralyse als Folge einer thematischen Ausblendung. Krieg und Frieden, Rassismus, Sexismus, Ökologie und internationale Solidarität haben die Linke in den letzten Jahrzehnten immer wieder mobilisiert und heftige Debatten ausgelöst. Die soziale und Arbeitswirklichkeit im eigenen Land kam hingegen in den Diskussionen fast nicht mehr vor und spielte für das linke Selbstverständnis kaum eine Rolle. Daher versetzt die Wiederkehr der ›sozialen Frage‹ die antikapitalistische Opposition in die terra incognita eines ihr unvertrauten gesellschaftlichen Konfliktfelds.
Für die grobe Vernachlässigung von Fragen der alltäglichen Reproduktion im Kapitalismus sind freilich nicht einfach nur die politischen Konjunkturen verantwortlich zu machen. Das systematische Desinteresse ist auch und vor allem der verqueren Perspektive geschuldet, unter der das antikapitalistische Denken diesen Problemkreis gewohnheitsmäßig wahrgenommen hat und (wenn überhaupt) bis heute wahrnimmt. Die Neue Linke begriff die soziale und Arbeitswirklichkeit nie als eigenständigen Kritikgegenstand. Stattdessen hat sie – dem marxistischen Erbe entsprechend – die Auseinandersetzung damit beharrlich der berühmt-berüchtigten ›Klassenfrage‹ untergeordnet. Der allgemeine gesellschaftliche Zwang, lebenslang die eigene Haut zu Markte zu tragen, verdiente Aufmerksamkeit nur unter einer Prämisse: Kapital und Arbeitskraftverkäufer seien per se antagonistische gesellschaftliche Kräfte und die Arbeit ein Gegenprinzip zur kapitalistischen Ordnung.
In den 70er Jahren war für das linke Selbstverständnis noch wesentlich die positive, klassenromantische Variante dieser Vorstellung prägend. Man phantasierte sich die Lohnarbeiterschaft zum eingeborenen Träger einer emanzipativen Mission zurecht und schrieb der Arbeit ein mysteriöse befreiende Kraft zu. Diese Hoffnung blamierte sich zwar sehr schnell an der Wirklichkeit. Doch die abstruse Vorstellung, eine Kritik des kapitalistischen Arbeitsregimes müsse auf einem positiven Klassenstandpunkt fußen, überlebte negativ gewendet dieses Dementi. Generation um Generation von Linken diente das alsbald nur noch vom Hörensagen bekannte Proletkult-Intermezzo dazu, die eigene Ignoranz gegen die Arbeitswirklichkeit und jeden Bezug auf die ›soziale Frage‹ als Ausfluss höherer Einsicht zu legitimieren.
Die Wiederkehr der ›sozialen Frage‹ deckt indes nicht nur massive inhaltliche Defizite auf. Sie bringt die Linke auch als Soziotop nachhaltig in die Bredouille. In oppositionellen Zusammenhängen finden seit jeher vorzugsweise Menschen zusammen, die in einer gewissen Distanz zum herrschenden Arbeits- und Konkurrenzwahn leben. Die Energie zum Engagement bringen in erster Linie jene auf, die es verstanden haben, die eigene Reproduktion vergleichsweise arbeitsarm zu organisieren und sich Zeit und Nerv für etwas anderes als die Verwertung und Regeneration des eigenen ›Humankapitals‹ zu reservieren. Obwohl jedoch die gesamte linke Subkultur auch und nicht zuletzt auf dieser stillen ›lebensweltlichen‹ Voraussetzung beruht, war Schaffung und Sicherung disponibler Zeit nie selber Inhalt linker Politik und blieb stets im schlimmsten Wortsinn Privatangelegenheit. Die arbeitsterroristische Generalmobilmachung ist drauf und dran diese Existenzbedingung zu zerstören. Wenn kaum mehr jemand mit Nebenjobs über die Runden kommt, wenn unter dem Druck der arbeitsreligiösen Offensive systematisch alle gesellschaftlichen Luftlöcher verschwinden, die das Bildungssystem und der Sozialstaat bis dato gelassen haben, dann wird damit nebenbei auch den linken Soziotopen die Luft abgedrückt. Die regierende Arbeitskirche tut alles, damit Menschen nur noch für zwei Dinge im Leben Zeit und Kraft haben: für die Arbeit und für die Arbeitssuche. Das individuelle Ausweichen vor diesen Zumutungen nimmt zusehends selber den Charakter einer Schwerstarbeit an. Damit verwandeln sich aber die bisherigen Formen oppositionellen Engagements für immer mehr Menschen in eine kaum noch dauerhaft in die eigene Biographie integrierbare psycho-soziale Luxusleistung.
Auch insofern bedarf es einer grundsätzlichen Neuorientierung der gesellschaftlichen Opposition. Es gilt die ›soziale Frage‹ auch im Bezug auf den eigenen Alltag und die eigenen Lebensverhältnisse ernst zu nehmen. Nicht im Sinne einer ›Politik in der ersten Person‹, wie in der verblichenen Alternativbewegung, sondern als alle vom Kapitalismus gezogenen Grenzen überschreitende Solidarisierung jenseits von Stellvertreterpolitik und Romantisierung eines phantasierten revolutionären Subjekts.
Die auf Zerstörung und Selbstzerstörung programmierte Herrschaft von Arbeit, Warenproduktion und Verwertung stellt radikale Antikapitalisten prinzipiell vor die gleichen Probleme wie alle anderen Menschen, die ein Leben als Konkurrenzautomat und Selbstverkäufer unerträglich finden und denen es vor der um sich greifenden sozialen Verwilderung graut. Insofern ist der Wechsel von einem positiven Bezug auf die Arbeit zu einer konsequenten Kritik dieses Allerheiligsten der Warengesellschaft nicht nur unerlässlich, um eine Kritik des globalisierten Krisenkapitalismus auf der Höhe der Zeit zu entwickeln. Vielmehr liegt für radikale Gesellschaftskritik in der arbeits- und sozialkritischen Neuorientierung zugleich die Chance, eine Ausstrahlungskraft weit über die bisherigen oppositionellen Segmente und Subkulturen hinaus zu gewinnen.
Die Arbeitskirche begegnet der fundamentalen Krise der Arbeit mit Gesundbeterei, dem Auftürmen hohler Ideologiegebirge und verschärfter Repression. Vor allem setzt sie darauf, dass der Überlebenskampf in der Vereinzelung keinen Widerstand aufkommen lässt. Das gilt es zu durchbrechen. Radikale Gesellschaftskritik kann ihren Beitrag dazu leisten, indem sie die Unerträglichkeit und die Unhaltbarkeit der Arbeits- und Warengesellschaft beim Namen nennt und damit möglicherweise einem allgemeineren Bedürfnis mit zur Sprache verhilft.
Einen Schritt in diese Richtung zu unternehmen, ist die Intention des hier vorliegenden Buches. Es versteht sich als Fortsetzung einer Kritik, die im Rahmen der Zeitschrift Krisis entwickelt und mit dem »Manifest gegen die Arbeit« (Gruppe Krisis, 1999) sowie dem Buch »Feierabend! Elf Attacken gegen die Arbeit« (Hrsg.: Robert Kurz, Ernst Lohoff und Norbert Trenkle, Hamburg 1999) in eine breitere Öffentlichkeit getragen wurde. Weitere Schritte werden folgen. Wer sich dafür interessiert, sei insbesondere auf die Krisis und auf das arbeits- und wertkritische Magazin Streifzüge sowie auf unsere Homepages verwiesen (www.krisis.org und www.streifzuege.org).
Ernst Lohoff, Norbert Trenkle, Karl-Heinz Lewed und Maria Wölflingseder
Mai 2004