Peter Klein
„Zur Verlassenheit gesellten sich das Misstrauen gegen jede innere Regung, die Feindschaft gegen die Welt und der furchtsame Hass gegen alle Menschen. Klugheit und List dünkten mir die einzigen Waffen, sich gegen alle Anstürme zu wehren. Winzig klein wurde mein Kreis und hieß nur noch: Ich. Ganz plump: Ich.“
(Oskar Maria Graf, Wir sind Gefangene)
1. Alter und neuer Dualismus1
Die Ansicht, die aus der Aufklärung hervorgegangene moderne westliche Gesellschaft sei eine säkularisierte Gesellschaft, ist so weit verbreitet, dass man sie wohl umstandslos als die herrschende Lehrmeinung bezeichnen darf. Wenn ich sie im Folgenden hinterfrage und als irreführend kritisiere, dann geschieht dies allerdings – diesem möglichen Missverständnis muss ich vorbeugen – nicht mit dem Blick auf den Papst oder auf die öffentlichen Andachtsübungen amerikanischer Präsidenten oder auf ähnliche Phänomene, die, wie etwa die „Esoterik-Welle“, den einen oder anderen der aufgeklärten Zeitgenossen zu der Diagnose der „ungenügenden“ Säkularisierung veranlassen könnten. Es geht mir hier nicht um die landläufigen Reaktionsbildungen, die als „Irrationalismus“ oder „Gegenaufklärung“ die „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) seit jeher begleiten, sondern durchaus um dieses Wort von der Säkularisation selbst. Denn es erweckt fälschlicher Weise den Eindruck, die bürgerliche Welt sei ganz und gar aufs Diesseits ausgerichtet, und die aus dem metaphysischen Jenseits kommenden Gebote und Verbote hätten ihre Herrschaft verloren.
Dieser Eindruck ergibt sich mit einer gewissen logischen Folgerichtigkeit, wenn man die Metaphysik eben in der Weise denkt, die ich als den Dualismus alter Schule bezeichne. Man könnte ihn, unter Bezug auf die kritische Philosophie Kants auch als „vorkritischen Dualismus“ bezeichnen. Unter Dualismus, um diesen Begriff kurz zu erläutern, ist jene abendländische Denktradition zu verstehen, die die unsichtbaren Bestandteile der Wirklichkeit einem eigenen, jenseits der handgreiflichen Wirklichkeit angesiedelten Seinsbereich zuordnet: Geist versus Fleisch. Da das, wofür wir als Kinder der Aufklärung Worte wie Kraft, Beziehung, Verhältnis, Struktur, Prozess, Ursache etc. zu verwenden pflegen, nur mittelbar, an Hand von Zeichen und Symptomen, wahrzunehmen ist, eröffnet sich hier ein Reich der Interpretation, mit dem man nur gedanklich in Verbindung treten kann. Diese Gedanken, verselbständigt zu eigenen Wesenheiten oder Phantasiegestalten, sind die „Geister“, mit denen es der Medizinmann, der Priester und schließlich der Philosoph zu tun hat. Gleichgültig, ob sie personifiziert vorgestellt werden, als antike Gottheiten (des Donners, des Krieges, der Weisheit etc.) oder unpersönlich als platonische Idee: es kommt ihnen auf jeden Fall das Attribut der Dauer zu, so dass sie allein dadurch schon ein gewisses Übergewicht erhalten über das „Fleisch“, das bekanntlich vergänglich ist. Man fürchtet also die Mächte des Jenseits, man erfleht ihren Schutz, hofft auf irgendeine Art von Unterstützung, Halt oder Trost, die sie zu gewähren haben, und versucht, sie günstig zu stimmen. Mit Reinigungsritualen, Askeseübungen und Opferzeremonien geht man auf Distanz zu den unmittelbaren Bedürfnissen des Fleisches, um jenen unsichtbaren Mächten näher zu kommen und ihnen wohlgefällig zu sein. Die Neigung zu Askese und Opfer ist die eine Konstante im religiösen Bewusstsein, die andere ist es, den Geist, seiner Überlegenheit wegen, geographisch nach „oben“ zu projizieren. Die griechischen Götter wohnen auf dem Olymp, der christliche Gott, der sich einer Abstraktionsleistung höheren Grades verdankt, hat seinen Thron im Himmel. Nietzsche spricht denn auch vom „religiösen Verlangen“ als dem Verlangen „nach einem Abseits, Jenseits, Außerhalb, Oberhalb“. Und mit diesem „Außen“ und „Oben“ ist eigentlich das Wichtigste über die vorkantische Metaphysik bereits gesagt.
Der „Geist“ ist ein abgrenzbares, umschriebenes Etwas, dem man einen bestimmten Ort zuweisen kann. Er wird also gegenständlich gedacht oder besser vorgestellt, und ist, mit Hegel zu reden, ein „Gegenüberstehendes“. Besonders deutlich ist das im mittelalterlichen Volksglauben. Das Jenseits gleicht hier dem Diesseits, es ist, ähnlich wie das Totenreich der Ägypter, nicht viel mehr als eine mit Engeln und Heiligen aller Art reich bevölkerte Parallelwelt, nur eben unsichtbar. Heilig oder allmächtig zu sein, ist eine Eigenschaft Gottes, wie es eine Eigenschaft des Wassers ist, flüssig zu sein. Hegel berichtet von theologischen Erörterungen, die sich mit der Frage abmühen, ob nicht eine Kirchenmaus, wenn sie eine geweihte Oblate verspeist hat, zu verehren sei – mitsamt ihren Exkrementen.2
Mit dieser zauberhaften Karikatur auf den „Geist“ macht die Reformation, die strenge Schwester der Renaissance, bekanntlich Schluss. Gott wird von jetzt ab immer weniger angeschaut und immer mehr gedacht. Damit aber meldet sich auch das neuzeitliche Individuum zu Wort, das sich dieses Denkens als seiner eigenen Tätigkeit bewusst wird. Gott ist zwar immer noch eine umschriebene Größe, aber er ist dies jetzt als ein bestimmter Inhalt des Bewusstseins. Und das Individuum erlebt sich darin als ein solches, welches ohne Umweg und in eigener Verantwortung mit diesem Inhalt in Verbindung steht. Der Glaube hört auf, der blinde Gehorsam gegen eine Kaste von Priestern sein, die mir als die Inhaber Gottes sagen, was ich in seinem Namen zu tun und zu lassen habe. Ich bin jetzt wichtig, meine eigene Überzeugung entscheidet. Gott wird also zum subjektiven Glaubensphänomen und ist damit als verbindliche Erklärung und Rechtfertigung für das, was ist, nicht mehr zu halten. Zunächst wird er aus der Natur vertrieben, im weiteren Verlauf auch aus den gesellschaftlichen Institutionen. Die Mächte, die sich von der alten Metaphysik herleiten, werden unglaubwürdig, hohl und morsch. Unter der kräftigen Mithilfe zunächst der Religionskriege, dann der Französischen Revolution, wird der Weg zum modernen, weltanschaulich neutralen Staat beschritten, der die Freiheit des Individuums – nicht nur in Fragen des Gewissens und der Religion – ausdrücklich zu seiner Grundlage erklärt.
Am Ende des Weges treffen wir auf das moderne Individuum, das, weil ihm kein verbindlicher Wertekanon mehr vorgegeben ist, von aller Metaphysik frei zu sein scheint. Es kann sein Glück und sein Seelenheil suchen, wo immer es will. Jeder Inhalt, der über das Niveau der „objektiven Tatsache“ hinausreicht, kommt jetzt bloß noch als die unverbindliche Meinung oder Ansicht von Individuen in Betracht. Und so wird denn auch das Herrschen der Metaphysik, das es früher einmal gegeben hat, vom Individuum her und aus seiner Leichtgläubigkeit erklärt. Die Überwindung der Metaphysik ist so gesehen nichts weiter als ein Nachlassen im Glauben. Sobald ich auf den Halt verzichte, den die „übersinnliche Welt der Ideen“ (Heidegger) mir ohnehin nicht mehr zu geben vermag, ist es um die Metaphysik geschehen. Von den beiden Komponenten, aus denen diese Art Dualismus zusammengesetzt ist, Individuum und Gott, bleibt jetzt nur noch das Individuum übrig, der Mensch ohne Gott. Er gestaltet sein Leben nicht mehr im Dienst an irgendwelchen von „außen“ und „oben“ kommenden Ideen, sie mögen Gott, Menschheit oder Fortschritt heißen, sondern er trachtet danach, sich selbst zu verwirklichen. Er schätzt sich „selber nach eigenem Maß und Gewicht“ (S. 122), stellt „sein eigenes Ideal“ auf, leitet „aus ihm sein Gesetz, seine Freuden und seine Rechte ab“ (S. 134f.) und besitzt überhaupt „die wundervolle Kunst und Kraft…“ (S. 135), nach sich Hunger und Durst zu spüren und aus sich Sattheit und Fülle zu nehmen“ (S. 176).
Nietzsche gibt, wie diese Zitate aus der „Fröhlichen Wissenschaft“3 zeigen, den Startschuss für das Zeitalter der Egozentrik, das im Anschluss an die Weltkriegsepoche, in welcher der Glaube alter Schule in einem letzten Aufbäumen noch einmal seine Massen bewegende und Massen vernichtende Kraft unter Beweis stellte, zur vollen Entfaltung gekommen ist. Vielfältig und bunt, wie die Mode, sind die Erscheinungen, in denen das moderne Individuum seine Aversion gegen das „Fremdbestimmtsein“ zum Besten gibt. Der eigene Stil, der eigene Geschmack, die eigene Meinung – wir wissen alle um die Wichtigkeit, die das „Eigensein“ für das moderne Individuum besitzt. Die Haare grün gefärbt oder ganz abrasiert, Ringe und Nadeln an allen möglichen und unmöglichen Körperstellen durch die Haut getrieben, ein rekordverdächtiger Brustumfang, ein rasanter Fahrstil – irgendeine Besonderheit muss das moderne Individuum vorzuweisen haben, um sich im Namen seines Leitbildes, des „höchst eigenen Selbst“, für annehmbar halten zu können – und sei es das bekannte Loriotsche „Jodel-Diplom“. Ich unterscheide mich, also bin ich. Die Kultivierung des eigenen „und immer noch eigeneren“ (S. 135) Selbst war für Nietzsche noch ganz selbstverständlich eine Sache des Mutes und der Kühnheit. Er war davon überzeugt, dass das Leben in der ersten Person nur den „Wenigen und Allerwenigsten“ vorbehalten sei, und sah sich dementsprechend als den Vorläufer eines „neuen Adels“ bzw. einer neuen, „edlen Rasse“, deren besonders geartete Natur es ihr ermögliche, alles von „außen“ und „oben“ kommende Sollen von sich zu weisen und „sich als Zweck“ anzusetzen. Knapp 120 Jahre später ist der Zirkus, der um das „Individuum“ gemacht wird, eindeutig als eine Zwangsveranstaltung zu bestimmen. Die Industrie sucht nach Mitarbeitern, die „authentisch“ sind und zwecks „Innovation“ ihre „einzigartige Kreativität“ einbringen, und auf der Jagd nach dem ganz besonders besonderen Kick hat die neueste Avantgarde des modernen Individuums endlich auch wieder die Demut und die Religion entdeckt.
Der Erfolg hat Nietzsche also gerade nicht Recht gegeben. Sein „Pathos der Distanz“ (Janz), das sich in der Spar-Version etwa so anhört: „Ich muss gar nichts!“ oder „Du hast mir gar nichts zu sagen!“, hat in der kleinsten Sozialwohnung Einzug gehalten. Unglaubwürdig ist das „selbstherrliche Selbst“ aber nicht erst als Massenerscheinung, sondern von Anfang an. Dass es sich an Sitte, Brauch und Herkommen „nicht verliert“ (S. 107), dass es den lieben Gott einen guten Mann sein lässt und sich seine eigene Sinn-Hütte zusammenbastelt, ist sicherlich eine historisch neue Erscheinung, soweit ist Nietzsche zuzustimmen. Ein gefährlicher Irrglaube ist aber der von ihm gezogene Schluss, dieses „höchst eigene Ich“ sei als solches bereits im Diesseits angelangt und unmittelbar aus seiner „Natur“ oder „Biologie“ heraus zu erklären. Denn wo befindet es sich denn, wenn es ihm möglich ist, an jeden Inhalt, der ihm begegnet, „kritisch“ heranzugehen und ihn mit der Frage, ob er zu mir auch passt, ob er meinem „eigenen Gesetz“ und meinem „eigenen Geschmack“ genehm ist, dem „eigenen Belieben“ zu unterwerfen? Natürlich außerhalb von jeglichem Inhalt. Es ist immer schon vorher da und also ein inhaltlich unbestimmtes „Ich“, eine Kategorie a priori, um hier schon einmal den Kantschen Terminus einzuführen. Und gleichzeitig schaut es – wie ein Richter, der sich anschickt das Urteil über den Delinquenten zu sprechen – herab auf diesen Inhalt. „Außerhalb“ und „oberhalb“: Unverhofft sehen wir dieses Ich an der gleichen Stelle, an der wir zuvor, unter den Verhältnissen der alten Metaphysik, Gott angetroffen haben. Gott und dieses selbstherrliche Ich – sie haben ganz offensichtlich den Platz getauscht. Oder könnte man nicht auch sagen, dass Gott nur einfach einen anderen Namen erhalten, dass er seinen Aggregatzustand verändert hat?
Da Nietzsche die Metaphysik immer schon vom (biologisch determinierten) Individuum her denkt: als ein Mittel der Starken, Macht auszuüben, als eines der Schwachen (der „Herdenmenschen“), sich in ihrer Ohnmacht zu trösten, ist er grundsätzlich blind gegen jene Bedeutungsebene, auf welcher die Metaphysik nur eben eine Ordnung ist: ein mehr oder weniger verbindliches System von Zeichen und Denkbestimmungen, das der betreffenden (Glaubens-)Gemeinschaft dazu dient, sich mehr oder weniger stabil zu reproduzieren – mitsamt den für sie spezifischen Über- und Unterordnungsverhältnissen. Erst recht entgeht ihm, dass auch die Kategorie des Individuums selber dafür geeignet ist, in dieser Bedeutung eines ordnenden und strukturbildenden Elementes zu fungieren. Als ein solches Strukturelement kommt das Individuum natürlich nicht als ein empirisch-leibhaftiges Dasein in Betracht, nicht in jenem Sinne der existenziellen Einmaligkeit, in dem Nietzsche das Wort jeweils gebraucht. Beim Individuum als Kategorie oder Ordnungsbegriff ist es vielmehr die Eins in der Einmaligkeit, auf die es ankommt. Individuum zu sein wird hierbei zu einem eigenen Status, der den empirischen Individuen, soweit sie sich als voneinander unabhängige Einsen empfinden und betragen, immer schon vorgeschaltet ist. Als eine solche für sich stehende und aus sich heraus wirksame „Idee a priori“ erfüllt es aber das Kriterium der Metaphysik. Nietzsche meint das „höchst eigene Selbst“, für das er sich einsetzt, jeweils anders: als Gegenposition zu Gott und den Allgemeinbegriffen. Indem er aber – unbekümmert um das Problem der gesellschaftlichen Ordnung – durchgehend den Standpunkt des vereinzelten Ich einnimmt, dient er gleichwohl diesem Strukturelement der modernen Gesellschaft, das als solches natürlich zu den Allgemeinbegriffen gehört. Während er, den Blick nach „außen“ und „oben“ gerichtet, die Metaphysik in ihrer traditionellen Gestalt bekämpft, ist er ihr in der modernen Ausführung, in der sie sich darauf beschränkt, eine apriorische Form zu sein, bereits auf den Leim gegangen. Trotz heftigster Abwehrgebärden und aller zur Schau getragenen Ekelgefühle arbeitet er seinem Intimfeind Kant zu.
In der Tat ist es Kant, von dem sich diese moderne Metaphysik herleitet. Die Möglichkeit einer auf das einzelne Individuum bezogenen Gesellschaftsstruktur macht Kant – wie vor ihm bereits Rousseau4 – an einer Tatsache des Bewusstseins fest: an dem im Europa des 18. Jahrhunderts bereits weit verbreiteten Bewusstsein von einem eigenen bzw. freien Willen. Laut Kant steht die Fähigkeit zu wollen in unmittelbarer Beziehung zum „Vernunftbegriff“ der Allgemeinheit, der bei der Formulierung von Gesetzen aller Art immer schon mitgedacht wird. Sie ist also ein „Vernunftvermögen“ und gehört damit, wie alles verselbständigte Denken, dem die Philosophen ein von den Phänomenen der „Sinnenwelt“ unabhängiges (= ontologisches) Sein zuerkennen, in die Sphäre der Metaphysik („intelligibele Welt“).5 In der Idee des freien Willens als einer aus sich heraus wirkenden Ursache (causa noumenon) steht dieses Vernunftvermögen allein für sich. Wir haben es hier, auf dem Felde der praktischen oder Moralphilosophie, mit reiner Vernunft zu tun, mit Metaphysik im eigentlichen Sinne des Wortes, die – im Gegensatz zur „empirisch unterstützten“ theoretischen Vernunft – frei ist von jeder empirischen Beimischung. Wesen wie „wir“, die an dieser Art Vernunft teilhaben, sind deshalb, wie Kant mit Bewunderung feststellt, zu Handlungen fähig, die unabhängig von den empirisch-physiologisch verifizierbaren Bedürfnissen geschehen können, ja sogar zu solchen, die nur unter Hintanstellung und Vergewaltigung der „Imperativen der Sinnenwelt“ möglich sind. Wenn es für den freien Willen überhaupt ein ihn steuerndes Gesetz geben kann, eine Richtschnur, die es ihm möglich macht, zwischen „richtig“ und „falsch“ zu unterscheiden, dann kommt dafür nicht das Naturgesetz in Frage, dem die „Gegenstände der Sinnenwelt“ (die wir freilich auch sind), und zwar blind, gehorchen. Wer sich selbst als Ursache weiß, besitzt schließlich die Fähigkeit, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln. Er wird also nur das respektieren und als für sich verbindlich anerkennen können, was sein eigenes Vernunftvermögen im Kern ausmacht: das inhaltlich unbestimmte Verallgemeinern-Können als solches, ins Sachliche gewendet: „die reine Form der Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt“ (= kategorischer Imperativ der moralischen Pflicht). Die Obergewalt eines persönlichen Willens beleidigt sein Abstraktionsvermögen, er ist dafür geschaffen, unter der Herrschaft der Abstraktion zu leben.6
Für jemanden wie Nietzsche, der auf das Wort „Imperativ“ allergisch reagiert, liegt mit dem „Kategorischen Imperativ“ nur wieder eine Variante des altbekannten „Außen“ und „Oben“ vor. Und in der Tat ist Kant mit seiner Theorie von den beiden Welten – „Sinnenwelt“ und „Intelligibele Welt“ – durchaus noch als ein Dualist der alten Schule anzusprechen. Man kann sogar sagen, dass er, indem er alles empirisch Bildhafte und Vorstellungsmäßige aus dem „Geist“ entfernt und ihn zur „reinen Form a priori“ erklärt, den Dualismus überhaupt erst konsequent und streng durchführt, so dass der Dualismus hier seinen Höhepunkt erreicht. Der Höhepunkt ist freilich auch ein Wendepunkt. Man beachte, dass es sich bei dieser zur Metaphysik verselbständigten Form ausdrücklich um die Form des Denkens selber handelt. Mit Kant wendet sich die Philosophie von den Gegenständen ab und der Frage, wie sie (verlässlich und allgemein verbindlich) zu solchen Gegenständen „unseres“ Bewusstseins werden, zu.7 In diesem Sinne, nur ohne Gegenstände, ist auch der moralische Imperativ zu verstehen. Es handelt sich dabei um die an meinen freien Willen gerichtete Aufforderung, er möge doch sich selber treu bleiben und in sich das Prinzip aller Vernunft respektieren. Der freie Wille wird so zur Grenze zwischen den „vernünftigen Wesen“, in der sie sich wechselseitig als solche anerkennen. Ich halte mich an diese Grenze nicht vermöge eines eigens auf die Gesetzesform gerichteten Willensaktes, sondern indem ich, was auch immer, will. Nur der Ausgangspunkt ist wichtig: das Bewusstsein, dass es sich um meinen besonderen, von dem der anderen Individuen abgesonderten Willen handelt. Der Privatwille gehört logisch notwendig zum „Allgemeinwillen“, wie etwa Rousseau das Gesetz genannt hat. Darin bewährt sich ja das allgemeine Gelten der Gesetze: dass es nur noch lauter gleichrangige Individuen gibt, die einer in der Form fix und fertiger „Objektivität“ (d.i.: was allgemein gilt) sich präsentierenden Wirklichkeit unverbunden und unverbindlich gegenüberstehen, so dass sie sich als die entsprechenden „Subjekte“, also unter Betätigung ihres je „eigenen“ Geschmacks und Willens, erst noch dazu „verhalten“ müssen – „eigenverantwortlich“ eben. Wenn sie auf dieses „Eigensein“ auch noch stolz sind und ein großes Aufheben davon machen – umso besser für das A priori der reinen Vernunft.
Nietzsche glaubt, diese Metaphysik ebenso wie ihre Vorgängerin, die Religion, durch bloßes Ignorieren abstrafen zu können.9 Und das eben macht sein Scheitern aus. Zu seinem Unglück hat er es hier mit einer Metaphysik zu tun – Metaphysik des „objektiven Geltens“ könnte man sie nennen -, die gerade dann am besten gedeiht, wenn sie als solche nicht zur Kenntnis genommen wird. Sie hat es eben nicht mehr nötig, als ein bestimmter Inhalt des Bewusstseins geglaubt oder bekannt oder sonst wie zelebriert zu werden. Sie ist vielmehr – in dem Maße nämlich, in dem sie sich durch- und die Verhältnisse persönlicher Abhängigkeit ersetzt – immer schon vorher da. Als ein Etwas, das für sich genommen keinen Inhalt besitzt, ist sie geradezu darauf angewiesen, verinnerlicht und bei all meinem Denken, Fühlen und Tun mit der größten Selbstverständlichkeit als „mein freier Wille“ vorausgesetzt zu werden. Keine Rede, dass ich mir über die metaphysische Beschaffenheit dieser Subjektform, die Kant klugerweise das „eigentliche Selbst“ des bürgerlichen Menschen nennt, extra noch Rechenschaft ablegen müsste. Im Gegenteil – je mehr die Gesetzesform in alle Verhältnisse und Beziehungen eindringt, je enger das mich umgebende Netz der Regeln und Gesetze geknüpft ist, desto mehr werde ich dazu gedrängt, meine „praktische Vernunft“ zu betätigen und nicht etwa dazu, über sie nachzudenken.10
Mit einem Mal hat sich der Erklärungsbedarf in sein Gegenteil verkehrt. Während Kant uns – oder sagen wir lieber: seine Zeitgenossen – mit vor Ehrfurcht bebender Stimme dazu auffordert, diesem herrlichen Vernunftvermögen des „Wollens überhaupt“ (ungeachtet der für „Sinnenwesen“ damit verbundenen Schmerzen und Entbehrungen) den schuldigen Gehorsam zu erweisen, fragt sich das moderne Individuum, dem dafür die eigene handgreifliche Empirie lästig und verächtlich geworden ist, wo denn ausgerechnet bei dem freien Willen ein Imperativ vorhanden sein soll. Das Herrschen dieser Metaphysik besteht gerade darin, dass es bei den Beherrschten das gegenteilige Bewusstsein erzeugt. Das Kantsche „Sollen“ verschwindet sozusagen in seiner eigenen Wirksamkeit. Nachdem Gott schon durch die Reformation in eine bedenkliche Nähe zu dem bürgerlichen Bewusstsein gelangt war, ist er jetzt vollends zum „Ich will“ des Alltagsverstandes geworden.
Damit ist ein paradoxer Egoismus möglich geworden, der, wie immer frech und rücksichtslos er im Namen des „höchst eigenen Selbst“ agieren mag, dennoch brav und folgsam auf dem Pfad der Tugend wandelt – gleichsam sich selbst zum Trotz. Der Standpunkt des vereinzelten Wollens, der diesen Egoismus kennzeichnet, setzt ja das allgemeine Gelten der Gesetze immer schon voraus. Von Kind auf eingeübt mit dem Erziehungsideal der „Selbständigkeit“ und der „Selbstverantwortung“, ist er der Objektivität und den von ihr gebotenen Chancen und Möglichkeiten zugeordnet. Er geht deshalb, wie bei Nietzsche gesehen, an alle Phänomene urteilend heran. Permanent verlangt das abstrakte „Ich“ zu wissen, welches Verhalten ihm zum Vorteil gereicht und welches nicht. Immerzu wird die Wirklichkeit durch das Kategoriengitter von „richtig“ und „falsch“ gepresst: ein untrügliches Zeichen dafür, dass wir es mit der erwähnten Metaphysik zu tun haben, die mich vom jeweiligen empirischen Kontext – und damit auch von den anderen Individuen – trennt und unabhängig setzt. Das „Außen“ der Metaphysik begegnet uns wieder in der Äußerlichkeit, Kälte und Fremdheit, mit der die modernen „Egoisten“ den Umgang untereinander pflegen. Je mehr dieses „Vernunftvermögen“ die Führung übernimmt im modernen Bewusstsein – und das muss es unter der Voraussetzung von lauter „objektiven Gegebenheiten“ -, desto schlechter bestellt ist es um dasjenige, was Kant „Gefühl, Antrieb und Neigung“ nennt. Alles was konkret, unmittelbar, gegenwärtig und handgreiflich ist, kommt ins Hintertreffen.11 Kurz, das moderne Individuum hat die größten Schwierigkeiten mit der existenziellen Dimension seines Daseins. Oft genug kann es die elementarsten Bedürfnisse nicht einmal wahr-, geschweige denn ernstnehmen. Im Zweifel zählt das, was von der „Objektivität“ den Stempel des „Vorteils“ oder des „Erfolges“ erhalten hat, mag auch das Wohlbefinden, die Gesundheit und selbst das eigene Leben darüber zum Teufel gehen.
Der moderne Dualismus verdankt sich also der Verinnerlichung der Metaphysik. Die zur „reinen Form“ gewordene Metaphysik kann gar nicht mehr in der alten kniebeugenden Weise verehrt oder angebetet werden. Ebenso wenig ist ihr durch den einfachen Akt des Nicht-Glaubens beizukommen. Dieser Gott ist nun wirklich unsichtbar, damit aber nur umso mächtiger geworden. Das moderne Bewusstsein, das üblicher Weise nicht sich selbst, sondern Gegenstände denkt, ist in der Form des Gegenstandsdenkens (Objektivität) und des sich dazu komplementär verhaltenden freien Willens (Subjektivität), der den Gegenständen (wie dieser Ausdruck schon sagt) allemal gegenübersteht, dieser Metaphysik unmittelbar unterworfen. Sie bestimmt, gerade in seiner Vereinzelung, die Identität des modernen Individuums. Das Diesseits der existenziellen Bedürfnisse ist darum aber nicht verschwunden. Es lässt sich von jener Metaphysik zwar überformen und beherrschen, aber eben nicht substituieren oder – als „nicht zur Philosophie gehörig“ (Hegel) – wegdekretieren. Der Widerspruch zwischen dem Jenseits der Abstraktion und dem Diesseits der Existenz hört auf, ein kollektives Problem zu sein; er wird in massenhaftem Umfang zum persönlichen Problem – innerhalb des Kollektivs der abstrakten Individuen. In der Kantschen „Zwei-Welten-Theorie“ ist das bereits angedeutet und angelegt, was ich die strukturelle Schizophrenie des modernen Individuums zu nennen geneigt bin.12
2. Der ausbrechende Wahnsinn
Gefährlich ist diese dualistische Struktur vor allem deswegen, weil sie sich gleichsam hinterrücks in das (dadurch modern werdende) Bewusstsein geschlichen hat. Während der zwei- oder dreihundert Jahre umfassenden Demokratisierungsepoche hatten es die geschichtlichen Akteure ja immer mit einer Metaphysik zu tun, die in irgendeiner Weise sichtbar und für die Vorstellung gemacht war. „Wert“ stand gegen „Wert“, „Glaube“ gegen „Glaube“. Sei es im „Himmel“ oder auf „Erden“, sei es in der „Politik“ oder in der „Gesellschaft“: Die „Herrschaften“, die die jeweilige Metaphysik repräsentierten, befanden sich „außen“ und „oben“, und sie waren als eine Macht konzipiert, die sich durch Verbot und Erlaubnis (etwa der Heirat, des Ortswechsels, des Gewerbes, des religiösen oder politischen Bekenntnisses) als ein inhaltlich bestimmter Wille ausmachen ließ. Die Feindbilder waren immer so beschaffen, dass sie dem herkömmlichen Dualismus zu Gute kamen. Das „Familienoberhaupt“ im Kleinen, der „Landesvater“ im Großen: hier war leicht kämpfen im Namen der für alle gleichen Willensfreiheit.
Damit ist es vorbei, wenn wir überall, „innen“ wie „außen“, von der mit der Gesetzesform entstandenen „Objektivität“ umgeben sind. Die Probleme, die uns diese Objektivität bereitet, sind sachlicher Art, und es liegt an uns, an jedem und jeder Einzelnen, wie wir damit zurechtkommen, wie gut wir es schaffen, jenes „vernünftige Ich“ auszubilden und zu trainieren, das dieser Objektivität korrespondiert. Der Druck, dem wir jetzt ausgesetzt sind, ist diffuser Art. Er ist dauernd vorhanden und er kommt aus allen Richtungen. Vor allem aber trägt er keinen Namen. Die „Objektivität“ hat keine Adresse, an die man Bittgesuche richten, sie hat auch keinen Kopf, den man abschlagen könnte. Immer muss man sich, wenn etwas schief läuft im Leben, an der eigenen Nase fassen. Immer befindet man sich in einer „objektiv“ definierten Situation, in der sich auch viele andere der demokratisch vergesellschafteten Menschen befinden. Und wenn die es geschafft haben, mit der Situation fertig zu werden, wenn sie womöglich besser als ich mit ihr zurechtkommen, dann ist das der Beweis dafür, dass ich keinen Grund habe, mich zu beklagen. „Selber schuld!“, so hallt es von den Wänden der „Objektivität“ zurück, so oft ich es dennoch versuche. Um hier nicht wahnsinnig zu werden, ist es tatsächlich nötig, dass wir lernen, dieses unser Selbstverantwortungs-Selbst selber noch zu dem Übel der zeittypischen „Objektivität“ zu zählen. Die Subjektform des freien Willens, die uns voneinander trennt, die uns in eine negative, äußerliche Beziehung zueinander bringt, ist genau als jenes metaphysische „Etwas“ zu brandmarken, als welche Kant sie uns in aller Ausführlichkeit dargelegt hat.
2.1. Das unbedingte „Ja“ zum Leben
Andernfalls, so fürchte ich, sind wir dem Wahnsystem, das sich „offene Gesellschaft“ nennt, weitgehend hilflos ausgeliefert. Denn die Enge und Beschränktheit, die der freie Wille an sich selbst darstellt, ist von eben diesem Standpunkt (des freien Willens) aus natürlich nicht als solche wahrzunehmen. Mit dem Herrscherwillen der vormodernen Ära ist dem modernen Individuum, das im gleichen Zuge entstanden ist, auch das Bewusstsein von Grenze abhanden gekommen. Im vollendeten Rechtszustand trifft der Wille dieses vereinzelten „Ich“ nicht nur auf kein (übergeordnetes) Hindernis mehr, der Rechtszustand ist im Gegenteil auf genau diese Subjektform zugeschnitten. Die demokratische Ideologie, die diesen Zustand als eine Art Überbau begleitet, schäumt geradezu vor Begeisterung über diesen Willen des Individuums, und sie spornt uns an und fordert uns dazu auf, ihn, da er jetzt doch „frei“ ist, nur recht fleißig zu betätigen. Mit dem endlich erzielten Durchbruch des freien Willens steht dem „pursuit of happiness“, wie er von der amerikanischen Verfassung propagiert wird, nichts mehr im Wege. So jedenfalls muss es einem Bewusstsein vorkommen, das den feinen Unterschied zwischen der „reinen Form des Wollens überhaupt“ einerseits und der Empirie der Bedürfnisbefriedigung andererseits nicht zu machen versteht. Dass das „Verzichtleisten“ bereits am Ausgangspunkt all seines Trachtens und Strebens eingebaut ist, vermutet der bürgerliche Mensch am allerwenigsten. Er frönt dem Glauben, dass er, wenn er „nur für sich selbst sei, … mehr er selbst (sei), nicht weniger“13. Denn nur dann, wenn er niemanden sonst „am Hals hat“, wenn er für niemanden sonst Verantwortung tragen, um niemanden sonst sich sorgen muss, kann er sich der für die „offene Gesellschaft“ charakteristischen Illusion ungestört hingeben: der Illusion von den „unbegrenzten Möglichkeiten“. Sie gehört logischer Weise zu dem Status des Draußen- und Getrenntseins, in dem ich mich auf dem Standpunkt des freien Willens immer schon befinde. Ich bin auf diesem Standpunkt nicht mehr der Bestandteil eines bestimmten, mir von Kind auf vertrauten Lebenszusammenhangs, der mich geprägt hätte, ohne den ich mich gar nicht denken könnte, sondern „Ich“ und sonst nichts ist jetzt der Ausgangspunkt meines Denkens und Handelns. Der Ausgangspunkt ist geradezu meine Daseinsform. Auf nichts anderes als auf diesen asozialen Zustand des Ausgangspunktes läuft das „Vermögen absoluter Spontaneität“14 , als welches Kant den freien Willen bezeichnet hat, nämlich hinaus. „Ich bin ich“ heißt, dass der Rest der Wirklichkeit als „Nicht-Ich“ bestimmt ist. Er befindet sich irgendwo da „draußen“, jenseits von mir, er ist nichts, das mir und meiner Individualität zugehören würde, sondern etwas, zu dem ich erst noch hingelangen muss – vermittelt durch meinen freien Willen, versteht sich. Im gleichen Augenblick, da mich der freie Wille herauslöst aus allen empirischen Zusammenhängen, bietet er sich auch schon als das „vernunftgemäße“ Vehikel an, das mich mit den zufällig herumstehenden „Gegenständen“, von denen ich jetzt mit einem Male umgeben bin, in Verbindung bringt. Mit einem Wort: er präsentiert mir die Wirklichkeit als eine Ansammlung von „Zielen“ und macht, dass das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft zu einem einzigen Streben wird. „Zielstrebigsein“ ist, ohne dass man es näher bestimmen müsste, per se eine Tugend in dieser Gesellschaft. Und das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, dass das voraussetzungslose „Wollen überhaupt“ von unserem „eigentlichen Selbst“ seinen Ausgang nimmt, das ja, weil es frei ist von jedem „sinnlich affizierten“ Inhalt, bloß eine Leerstelle markiert. Es ist eine Art Platzhalter für jeden beliebigen Inhalt. Auf diesen Standpunkt der Gegenstandslosigkeit, wie man ihn nennen könnte, machen die Gegenstände freilich einen guten Eindruck. Sie sehen vielversprechend aus, nach Fülle und Reichtum, und sie entwickeln die entsprechende Anziehungskraft. Das „Außen“, dem sich das abstrakte „Ich“ gegenübersieht, ist nicht mehr, wie vordem negativ bestimmt, Hemmung und Schranke, sondern es ist jetzt etwas Positives: Lockung und Reiz – zumal, wenn es auch noch „oben“ ist und sich im Range der „hochhängenden Früchte“ befindet. Wo wir auch hinschauen, es wimmelt jetzt nur so von Chancen und Möglichkeiten, und es ist pure „Unvernunft“, sie nicht zu ergreifen. Wir sind von Angeboten, Schnäppchen und Gelegenheiten geradezu umzingelt.15 Wenn man dieser (von der modernen Metaphysik erzeugten) Konstellation unterworfen ist, dann bleibt einem eigentlich nichts anderes mehr übrig, als „Ja“ zu sagen; jenes „Ja-Sagen ohne Vorbehalt“ drängt sich auf, auf das Nietzsche in seiner Ratlosigkeit verfallen ist.16 Statt Ratlosigkeit sollte man vielleicht sogar das Wort Ausweglosigkeit oder Hoffnungslosigkeit wählen, um das zu bezeichnen, was sich in diesem „Ja“ ausdrückt. Denn es ist ja so ziemlich das Gegenteil dessen, was zu sein es behauptet. Weshalb mir hier, in diesem „überschwänglich-übermütigsten Ja zum Leben“ (ebd.), auch die entscheidende Schwachstelle zu liegen scheint, durch die der strukturelle Wahnsinn ins moderne Bewusstsein einzudringen und sich pathologisch zu aktualisieren vermag. Es dürfte sich also lohnen, hier zu verweilen.
Was Nietzsche mit diesem „unbedingten Ja“ ausspricht, ist nämlich die schiere Kapitulation vor der modernen Metaphysik; nur eben – und darin ist er mustergültig für das moderne Individuum überhaupt -, eine Kapitulation von der Art, dass der Kapitulant sie vor sich selbst verbirgt. Zurückgeschnitten und reduziert auf die jämmerliche Abstraktion des „selbstherrlichen Selbst“ ist der bürgerliche Mensch natürlich ein Unterworfener, ein Produkt der modernen Metaphysik – aber diese hat ihm eben den Status des „Ausgangspunktes“ verpasst, und daraus ergibt sich dann die Verrücktheit, dass er ausgerechnet in seinem Unterworfensein meint, auch noch den „aktiv Wollenden“ markieren zu müssen. Selbst noch die Knechtschaft wird hier in der Pose des Siegers erlitten. Die Ausrede, mit welcher Nietzsche sich auf diesen Gipfel der Selbstverhöhnung begibt, bezieht er unter anderem aus der persönlichen Erfahrung: Sie hat ihm gezeigt, dass er fähig ist, seine Migräneanfälle auch ohne die Tröstungen der althergebrachten Metaphysik zu erleiden.17 Er betrachtet sie nicht mehr als eine von Gott gesandte Fügung oder Prüfung, nicht als ein Zeichen, mit dem die „höheren Mächte“ ihm mitteilen wollen, dass sie ein Auge auf ihn haben, sondern er nimmt sie als das, was sie sind: als eine schmerzhafte Erfahrung, aus der für die Zukunft vor allem Eines zu lernen ist: damit umzugehen. Aber ist dieses „Ja“ zur Migräne bereits ein „Nein“ zur Metaphysik? Berechtigt ihn diese „Annahme des Leidens“ schon zu dem Schluss, er habe die Metaphysik überwunden? Doch nur dann, wenn er sich den Standpunkt des Kinderglaubens zum Gegner erkoren hat! Leid, Kummer, Schmerz, Krankheit, Tod – diese Dinge, ob ich nun „Ja“ oder „Nein“ oder etwas Anderes dazu sage, gehören natürlich zur Existenz, die nun einmal, wie die Theologen und Ontologen aller Couleur Nase rümpfend hervorzuheben wissen, „beschränkt“ und „endlich“ ist. Die Absage an das Christentum ist selbstverständlich auch die Absage an das „Paradies“ und an das „Ewige Leben“. Die Absage hätte aber weiterzugehen. Gerade das „Ja“ zum Leben müsste doch im „Nein“ zu einer Gesellschaft münden, die gerade dabei ist, die immer gleiche und also tote Abstraktion der Kantschen „reinen Form“ zum einzig Bestimmenden zu machen.18 Aber Nietzsches „Ja“ ist eben unbedingt, es sieht großzügig hinweg über das historisch spezifische Umfeld, in dem es entstanden ist, und dadurch wird es ein Ja zu den herrschenden Bedingungen, ein Ja nicht einfach bloß zum „Leben überhaupt“, sondern zum Leben in der bürgerlichen Gesellschaft, ein Ja gerade auch zu jenen Schmerzen, Nöten und Bedrängnissen, die nur und ausschließlich auf das Konto der in dieser Gesellschaft herrschenden Metaphysik gehen.19
Das Waffenstrecken als Sieg, die Demut als Aufmüpfigkeit: Wer jetzt noch Schmerzen hat, dem ist – unter der Herrschaft dieser Schizophrenie – endgültig nicht mehr zu helfen. Denn spätestens mit Nietzsche (eigentlich aber schon mit Hegel) fängt die bürgerliche Gesellschaft an, sich auch des Themas Schmerz zu bemächtigen und es für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. In der Kampfzeit des 17. und 18. Jahrhunderts, als die althergebrachte Metaphysik – mit dem Volksglauben und dem Scheiterhaufen auf ihrer Seite – noch eine ernst zu nehmende Gegnerin war, da verstand es sich von selbst, dass die neu gefundenen Prinzipien und Wahrheiten Reklame für sich machten, dass sie mit dem Versprechen einhergingen, ihre Realisierung werde ein besseres Diesseits herbeiführen. Selbst Kant, der eigentlich bereits den theoretischen Schlusspunkt unter diese Werbeaktion setzt, hat dabei immer noch das „Weltbeste“ im Sinn. Solche Werbefloskeln – wie etwa auch das Hutcheson-Benthamsche „größte Glück der größten Zahl“ – werden aber überflüssig, wenn man es dahin gebracht hat, „das Leben selbst“ zu sein. Sie sind jetzt sogar fehl am Platz. Zum „Leben“ gehört nun einmal die Möglichkeit des Scheiterns und des Unglücklichseins. Das ganze Leben ist ein einziges Risiko, und wer etwas Anderes behauptet, wer immer noch den naiven Hoffnungen der Aufklärer nachhängt und sie einklagen will, der ist ein Scharlatan und dringend verdächtig, dass er nur einen Vorwand sucht, um im Namen eines verordneten und bloß behaupteten Glücks die „natürliche Freiheit“ zu vernichten und die eigenen Machtgelüste zu befriedigen.
Kurz: Mit der von Nietzsche entwickelten und unter dem Schlagwort der „offenen Gesellschaft“ populär gewordenen Haltung kann sich die bürgerliche Gesellschaft jetzt auch zu ihren hässlichen Seiten bekennen. Sie bringt sogar das Kunststück fertig, das von ihr selbst angerichtete Unheil auf die eigenen ideologischen Mühlen zu leiten. Es dient jetzt nämlich als Beweis dafür, dass man es hier mit dem „richtigen Leben“ zu tun habe, und dass die „offene Gesellschaft“ gerade angesichts des „wirklichen Lebens“ die beste aller möglichen Gesellschaften ist. Denn hier habe man es endlich einmal nicht mehr nötig, die Wirklichkeit umzulügen oder schönzureden. Hier muss man vor keinem Aspekt dieser Wirklichkeit die Augen verschließen, hier ist man bereit und fähig, sich allen Herausforderungen, die das „moderne Leben“ nun einmal mit sich bringt, zu stellen. Dass es Auswüchse gibt, dass beim „pursuit of happiness“ gewisse grausame und räuberische Instinkte geweckt werden können, dass dabei gelegentlich über die Stränge geschlagen wird – wer wollte das bestreiten! Aber hat es die Gier nach Macht und Reichtum nicht „schon immer gegeben“? Gehören die Konflikte aller Art einschließlich der Kriege nicht zur „conditio humana“? Wann, bitte sehr, gab es das „Goldene Zeitalter“? Wo, bitte sehr, befindet sich das „Paradies“?20 Die „offene Gesellschaft“ ist, wie alles Menschenwerk, selbstverständlich eine unvollkommene Gesellschaft – aber bitte, man kann hier über alle Missstände reden. Und man hat – Kant sei Dank! – in der Metaphysik des freien Willens die Form des Egoismus gefunden, die, vermittelt über den Rechtsstaat, ihre eigene Schranke ist.
Wer jetzt noch unzufrieden ist, dem klingt das „Selber schuld“ also mindestens von zwei Seiten gleichzeitig in den Ohren: Entweder er gehört zu jenen naiven Gemütern, die immer noch dem alten Traum vom „Paradies“ nachhängen und die deshalb, weil sie sich nach einer „heilen, widerspruchsfreien Welt“ sehnen, „illusionäre“ und „überzogene“ Ansprüche an das „Leben“ stellen – oder der Betreffende hat beim Streben nach Erfolg und Lebensglück einfach etwas falsch gemacht, er hat sich bei der Vielzahl der „Chancen“, die ihm geboten wurden, vielleicht nicht „clever“ genug angestellt, vielleicht hat es ihm auch an Ehrgeiz und energischem Wollen gefehlt. Wo ein „Wille“ ist, pflegt ja nach dem herrschenden Aberglauben auch ein „Weg“ zu sein.
Für die erste Variante der Unzufriedenheit, die man vielleicht als die der „utopischen Sehnsucht“ bezeichnen kann, gab es natürlich auch einmal bessere Zeiten. In den revolutionären Phasen der bürgerlichen Gesellschaft wogten die Hoffnungen hoch und die Begeisterung für Freiheit und Gleichheit kannte keine Grenzen. Auch der letzte größere Modernisierungsschub, bekannt als die „68er-Bewegung“, brachte eine den demokratischen Idealen günstige Atmosphäre mit sich, während das „Ja“ Nietzsches zu jener Zeit eher verkniffen wirkte und in schlechtem Ansehen stand. Der radikale Demokrat und „Revoluzzer“ konnte damals – vor allem solange er jung war und, sagen wir, die Dreißig noch nicht überschritten hatte – durchaus auf ein gewisses Wohlwollen bei dem bürgerlichen Publikum rechnen. Es wurde ihm die Physiologie des „jugendlichen Überschwangs“ zu Gute gehalten und sein revolutionärer Eifer wurde milde als „Idealismus“ belächelt, der das „Vorrecht der Jugend“ sei. Man war ja selber mal jung, man hatte ja selber mal die Sterne vom Himmel holen wollen. Aus einem verbissenen Flugblattschreiber, so sagt uns die Erfahrung, kann immer noch ein tüchtiger Werbetexter werden, oder ein Gewerkschaftsfunktionär mit ausdauerndem Sitzfleisch, oder gar ein Minister. Von einer gewissen Altersgrenze ab wird es allerdings kritisch für den Kritiker, die Toleranz, die ihm vordem entgegengebracht wurde, lässt jetzt erheblich nach. Wer jetzt noch widerborstig ist, wer jetzt immer noch keine Anstalten macht, sich im System der „unbegrenzten Möglichkeiten“ einzurichten, den muss man als jemanden, der nicht zur „Vernunft“ kommen will, natürlich skeptischer beurteilen. Die Bezeichnungen, die man für ihn parat hat, gehen mehr und mehr in Richtung „naiver Trottel“ oder „gefährlicher Irrer“, und man hält es für dringend geboten, dass er, um sich und andere nicht zu gefährden, wieder „herunter“ gebracht wird: auf den „Boden der Tatsachen“. Dieser Tatsachen-Kampagne ist denn auch, wenn man sich die vergangenen Jahrzehnte ansieht, der Erfolg nicht versagt geblieben. Der Tatsachenmensch liegt im Trend, während der Idealismus sich in breiter Front auf dem Rückzug befindet. Jener Idealist, der seine Unzufriedenheit aus den demokratischen Idealen bezieht, indem er sie (mit den entsprechenden Bildern und Vorstellungen im Kopf) an die real-existierende Demokratie heranträgt, der Idealist des herkömmlichen, dualistischen Typs also, er ist nachgerade zur seltenen Ausnahme geworden. Alltäglich dagegen ist der Idealist des identitären Typs: Wenn sich die Bevölkerung mehrheitlich zum abstrakten Individuum gemausert hat, wenn sie also deckungsgleich geworden ist mit dem Ideal, dann hat sie es als etwas, an das sie noch glauben könnte, eben nicht mehr gegenüber stehen.21 Das Verwirklichungs-Potenzial von Freiheit und Gleichheit ist mit dem massenhaften Auftreten des freien und gleichen Individuums weitgehend erschöpft. Frei und gleich geworden, haben die Individuen es nicht mehr mit Idealen, sondern bloß noch mit der „Objektivität“ der Tatsachen und Gegenstände zu tun. „Was den Glauben an politische Utopien und weltumspannende Erlösungsrezepte angeht“22, so ist das moderne Individuum unerhört „kritikfähig“ geworden. So „kritikfähig“, dass ihm die Unzufriedenheit bereits als solche verdächtig vorkommt. Denn längst schon schwant ja dem „kritischen“ Alltagsverstand, dass es sich bei der Unzufriedenheit immer bloß um ein und dieselbe Variante handelt, nämlich um diejenige, die nach dem bekannten Wort Winston Churchills besser mit „Unfähigkeit“ zu übersetzen wäre. Nach dieser Lesart verbirgt sich hinter der Unzufriedenheit in den allermeisten Fällen bloß ein armseliger Tropf, der seine „radikalen“ und „hochtrabenden Phrasen“ dazu benötigt, die eigene Unzulänglichkeit und Lebensuntüchtigkeit zu bemänteln.
2.2. Der Fassadenmensch
Und damit ist das Schreckenswort, mit dem sich die abstrakten Individuen gegenseitig das Leben schwer machen, auch schon gefallen. Alles darf man sein in der Gesellschaft der „unbegrenzten Möglichkeiten“, bloß nicht „lebensuntüchtig“, bloß kein „Versager“, bloß kein „Loser“, wie es auf Neudeutsch heißt. Dass man zwischen dem „Verlierer“ und dem „Versager“ kaum noch einen Unterschied macht, liegt natürlich an dem „Selber schuld!“, das in der individualisierten Gesellschaft mit einer gewissen kategorischen Unerbittlichkeit herrscht. Es hatte lange genug Zeit zu wirken und sich in jeder Ecke und Falte der modernen Seele einzunisten. Der Schluss vom Verlieren (als Folge) zum Versagen (als Ursache) wird dementsprechend mit der Geschwindigkeit eines unbedingten Reflexes gezogen. Wenn man das eine sagt, meint man ebenso gut das andere. Da hilft kein wortreiches Beteuern der eigenen Unschuld, kein Hinweisen auf die Ungunst der Umstände, auf die lange Reihe der fatalen Zufälle, gegen die man „beim besten Willen“ nichts habe ausrichten können: Wer von einem Unglück oder Missgeschick heimgesucht worden ist, weiß insgeheim: es bleibt immer etwas hängen. Ein Restverdacht, dass ein Anderer sich in der gleichen Situation besser gehalten hätte oder vielleicht gar nicht in sie hinein geraten wäre, bleibt immer bestehen. Schnell hat man sich den Ruf des „Pechvogels“ oder des „Unglücksraben“ zugezogen, und das ist so ziemlich das Letzte, was man für das Fortkommen im gegebenen Funktionszusammenhang brauchen kann. Die „Vernunft“, nämlich die „praktische“, gebietet uns daher, dass wir um diese ungünstige Art der „Ausstrahlung“ einen möglichst weiten Bogen machen und in Sachen „Unzufriedenheit“ den Kantschen Rat des „Hintanstellens“ befolgen. „Motiviert“ muss man sein, „Leistung aus Leidenschaft“ ist gefordert, und die erwarten wir nicht von einem Griesgram mit Leichenbittermiene zu erhalten, sondern von jemandem, der sich frohgemut dem „pursuit of happiness“ verschrieben und dementsprechend eine „optimistische“ und „lebensbejahende“ Einstellung vorzuweisen hat. Der ewig unzufriedene Nörgler, wie er im Fernsehen von dem Darsteller des „Ekels Alfred“ verkörpert wurde, war schon zu seiner Zeit (in den siebziger und frühen achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts) eine Witzfigur, und er ist seither erst recht aus der Mode gekommen. Stattdessen sieht man die abstrakten Individuen Land auf Land ab an einer Fassade basteln, die sie als „aufgeschlossen“ und „allen Anforderungen gewachsen“ erscheinen lassen soll. Das Elend, in dem man sich befindet, ist ja immer das je eigene Elend, die Misserfolge hat man sich immer selbst zuzuschreiben. Deshalb empfiehlt es sich, solche negativen Erfahrungen, die auf ein negatives Werturteil über die eigene Person hinauslaufen, gar nicht erst bekannt werden zu lassen. Man hält sie tunlichst unter Verschluss. In diesem Sinne beispielhaft ist die Geschichte von dem Angestellten, der, nach zwanzig Jahren braven Funktionierens arbeitslos geworden, diese seine „Niederlage“ vor den Augen der Nachbarn dadurch zu verbergen sucht, dass er weiterhin früh Morgens die Wohnung verlässt und weiterhin zur gewohnten Stunde am Nachmittag nach Hause kommt, die Zwischenzeit auf irgendwelchen Parkbänken und in irgendwelchen Cafés oder Wartehallen verbringend.
Das kapitalistische System schickt sich an, in eine Krisenepoche einzutreten, die durch keinen ideologischen Aufwand mehr zu beschönigen oder zu verschleiern ist – und im gleichen Augenblick wird es von Menschen bevölkert, die auf solche ideologische Wegzehrung auch gar nicht mehr angewiesen sind. Angepasst an die „Objektivität“ des Systems, das ihnen den individualistischen Standpunkt des „eigentlichen Selbst“ aufgeladen hat, fügen sie sich ihm, auch ohne dass man sie zu irgendeiner Fahne, zum Opferdienst an irgendeinem hehren Ideal rufen müsste. Das moderne Opfer des Kapitalismus, das sich damit freilich auch als Täter zu erkennen gibt, besteht auch jetzt noch, auch noch angesichts der ausbrechenden Krise, auf seiner „Selbstverantwortung“. Die Krise ist weltweit dimensioniert, sie wirkt sich millionenfach aus, aber so, dass Millionen von Menschen sich schämen – nämlich dafür, dass es ihnen nicht gut geht: sie glauben, ein persönliches Problem zu haben.
Ein ans Wunderbare grenzendes Timing, könnte man sagen: das System hat den Höhepunkt seiner Entwicklung (zum System) überschritten, es schwächelt an allen Ecken und Enden, und gleichzeitig ist es, dank der verzaubernden Wirkung, die es auf seine Insassen immer noch ausübt, ihrer Wahrnehmung entzogen. Nach den Jahrhunderten der Gewöhnung und des Trainings, in denen die moderne Seele nach den Vorgaben der „Vernunft“ (theoretisch wie praktisch) geformt wurde, sollte uns diese Koinzidenz der Ereignisse, dieses In-Eins-Fallen von Objekt und Subjekt, von Täter und Opfer, aber nicht allzu sehr verblüffen. Zumal hier, bei dem Verlierer, der sein Verlierertum auf die eigene Kappe nimmt und die Umwelt mit seinem Anblick zu verschonen sucht, der Höhepunkt der Anpassungsleistung ja noch gar nicht erreicht ist. Es ist eine reichlich umständliche und, wie der hohe Bekanntheitsgrad der Anekdote beweist, wenig wirkungsvolle Art des Fassadenbaus, die uns jener Angestellte vor Augen führt. Die gegebenen Tatsachen umzulügen und Potemkinsche Dörfer zu errichten, ist ein Verfahren, mit dem sich schon der verblichene Realsozialismus lächerlich gemacht hat. Auch im kleineren Maßstab des abstrakten Individuums erzielt man damit kein besseres Resultat. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass wir es beim Erlebnis des Misserfolgs und des damit einhergehenden Missbehagens mit einem Problem von grundsätzlicher, kategorischer Beschaffenheit zu tun haben. Dem sollte dann auch der Fassadenbau angemessen sein. Sobald wir es nämlich mit „Objektivität“ zu tun haben, sind wir, vom Prinzip her gedacht, immer überfordert. Was wir „objektiv“, nach der Vorgabe bestimmter Normen oder Standards, zu leisten oder zu können haben, geht immer über unsere Kräfte. Im Vergleich mit der „Objektivität“ ziehen wir immer den Kürzeren, weil die „Objektivität“ eben mit der Kantschen „reinen Form“ im Bunde steht. Und von dieser wissen wir (oder sollten wir wissen: um uns dagegen wehren, um ihr die Macht nehmen zu können), dass wir mit unserem Wollen und Streben niemals an sie heranreichen – jedenfalls nicht, soweit wir empirisch beschränkte und mit Endlichkeit infizierte Lebewesen sind. Soweit wir aber moderne, mit einem gleichbleibend stabilen Ich-Bewusstsein ausgerüstete Individuen sind, sind wir eben selber zu einem Bestandteil dieser „reinen Form“ geworden. Soweit wir das mit der Gesetzesform übereinstimmende „eigentliche Selbst“ Kants entwickelt oder übernommen haben (bzw. von ihm dominiert werden), befinden wir uns selber auf dem Standpunkt der „Objektivität“ – und wir sind es alsdann „selbst“, die von diesem Standpunkt aus auf unsere – jetzt nur noch armselig zu nennende – Empirie herabschauen. Mit anderen Worten: die Fassade der herkömmlichen, bloß nach außen gerichteten Bauweise reicht nicht aus. Lange bevor wir „in den Augen der Nachbarn“ zum Verlierer geworden sind, nistet der Zweifel an der eigenen Person schon in uns selbst. Mit der Ausbreitung der Kantschen Metaphysik ist eine Art Verlierertum in Permanenz entstanden, das auf bestimmte Ereignisse und Erlebnisse gar nicht mehr angewiesen ist. Latent ist das Bewusstsein vom eigenen Ungenügen immer vorhanden. In dem Maße, wie dem (empirio-)kritischen Impuls der Kantschen Metaphysik der Weg nach „außen“ versperrt ist, weil er dort nur noch auf seinesgleichen, nämlich auf „objektive Gegebenheiten“ trifft, wendet er sich nach „innen“. Unzufrieden zu sein mit jeglicher Person, allen voran mit der eigenen, ist ein chronisches Gebrechen des modernen Individuums.23 Der Unzulänglichkeitsverdacht, den seiner Zeit der Protestantismus in den Alltag des bürgerlichen Menschen gestreut hatte, er hat sich mit dem Realwerden der „praktischen Vernunft“ zur logischen Notwendigkeit und Gewissheit verdichtet.
Wahrhaftig: man müsste, mit dieser Konstellation im seelischen Gepäck, sein Leben im Zustand der Dauerzerknirschung verbringen. Die Wirkung davon wäre allerdings die Lähmung meiner Aktivitäten, wo die Gegenstandswelt doch meine Strebsamkeit und Regsamkeit erheischt. Das ständige Fragen nach der eigenen Person: „Was stimmt mit mir nicht?“, „Was habe ich falsch gemacht?“, „Was muss ich ändern?“, hat, wie sein Ursprung vermuten lässt, die unerquickliche Tendenz, ins Sisyphusmäßige auszuarten. Sich hierauf einzulassen, ist nur den therapeutisch Begabten zu empfehlen, sofern sie es schaffen, mit ihrer Begabung Geld zu verdienen und die entsprechend zahlungsfähige Klientel zu finden. Für die Mehrzahl der abstrakten Individuen bietet sich der Weg in die entgegengesetzte Richtung an. Sie stellt, um in Sachen „positive Ausstrahlung“ sicher zu gehen, nicht nur das „kritische“, sondern auch das „selbstkritische“ Fragen ein und versucht sich darin, die schon vorhandene Fassade auszubauen, sie gewissermaßen komplett zu machen und ins Kategorische zu erweitern. Die avancierte Version des abstrakten Individuums ist, mit anderen Worten, immer und unter allen Umständen „gut drauf“.24 Die Stimmung macht hier die Fassade. Die Vertreter dieser Spezies zeichnen sich durch eine gleichbleibende, freundlich-aggressive Wachheit aus, die erkennen lässt, dass sie mit Schwung an die Lösung der „Aufgabe“, welche es auch sei, herangehen werden. Jedes Problem wird ihnen zur freudig angenommenen „Herausforderung“. Sie vibrieren geradezu vor mühsam gezügelter Energie. Projektarbeit, ein ganzes Jahr ohne Pause? Ein spannendes Abenteuer! Arbeitslosigkeit? Sollte man kennen gelernt haben! Krankheit? Ein wichtiges Stück Selbsterfahrung! Was auch immer geschieht, es ist ein „Event“. Alles ist „irgendwie wichtig“, „irgendwie spannend“, „irgendwie lehrreich“. Selbst noch die Erfahrung des Todes wirkt auf diese Panzernashörner des positiven Denkens „irgendwie bereichernd“ – vom Urlaub im „survival camp“, der Durchquerung der Alpen mit dem Mountainbike und dem Sahara-Trip auf „echten Kamelen“ natürlich ganz zu schweigen. Es gibt für diese – im Kern unberührbaren und unerschütterlichen – Individuen nichts, was sich nicht zur Ausstattung und Ausschmückung der eigenen „Persönlichkeit“ verwenden ließe. Wollte man vom Bild des Potemkinschen Dorfes ausgehen, so müsste man sagen, es ist jetzt zum Potemkinschen Palast ausgebaut worden. Und der dient nicht mehr bloß dem Verstecken und Verheimlichen, er ist fürs Funkeln, Glänzen und Blenden ausgelegt.25
Damit die ganze kräftezehrende Veranstaltung gelingt und möglichst lange durchgehalten werden kann, ist freilich eines zuallererst vonnöten: man muss „selbst“ daran glauben. „Glaubwürdigsein“, „Authentischsein“ ist, wie sich denken lässt, überhaupt das Höchste für die Handwerkerzunft der modernen Fassadenbauer. Und wie immer in der individualisierten Gesellschaft ziemt es sich auch in diesem Falle, dass ein jeder und eine jede bei sich selbst beginne. Wenn man andere überzeugen will, muss man zunächst einmal selbst überzeugt sein. Das, was ich die Komplettierung der Fassade nenne, dient genau diesem Ziel. Sie ist „gelungen“, könnte man sagen, wenn sie dazu im Stande ist auch mich „selbst“ zu blenden, wenn sie mich von der Wahrnehmung meiner eigenen Empirie möglichst gut abschirmt. Und genau hier schließt sich der Kreis der Argumentation: Wir begegnen wieder dem ursprünglichen Kantschen Konzept, das ja das „Hintanstellen“ von „Gefühl, Antrieb und Neigung“ ohnehin zum moralischen Gebot erklärt. Das, was blendet und geblendet werden will, ist das „eigentliche Selbst“ der „praktischen Vernunft“. In dem Maße, wie der Geist dieses „eigentlichen Selbst“ mich in Beschlag genommen hat, gerät mein empirisches Sosein als etwas, das unwichtig und eher lästig ist, ganz automatisch in den Hintergrund. Schon im Normalbetrieb des alltäglichen Funktionierens bleibt mir wenig Zeit, dem, was ich „hier und jetzt“ zu spüren bekomme, Beachtung zu schenken. Das ganze System der „objektiven Gegebenheiten“ und ihrer „Sachzwänge“ drängt mich in diese Richtung: weg von den unmittelbaren Bedürfnissen. Von Kindesbeinen an werden wir, um dem „Ernst des Lebens“ gewachsen zu sein, in diesem Sinne abgehärtet und abgerichtet. Das Trainingsprogramm, das sich „Erziehung zur Mündigkeit“ nennt, dient der Abstumpfung unseres Sensoriums – damit wir möglichst auf Distanz kommen zu dem, was uns unmittelbar bewegen und berühren könnte. Das Unmittelbare ist das Unwahre, sagt Hegel, und das moderne Individuum pflichtet ihm bei. Wenn man „zielgerichtet“ lebt, wenn man rund um die Uhr von „Aufgaben“ in Anspruch genommen wird: von der Planung des nächsten Urlaubs etwa, von der nächsten größeren Anschaffung, die man sich „leisten“ will, von der Sorge um den Arbeitsplatz und um die Miete, die zum nächsten Ersten fällig ist – was „nützen“ einem dann die Empfindungen, die von der existenziellen Ebene des Daseins herkommen? „Was hab’ ich davon?“, fragt der Alltagsmensch – während er achselzuckend die Tablette in den Mund schiebt, die er braucht, um seinen Blutdruck zu zügeln. Ein leichtes Anheben des Tonfalls, eine Prise jenes lauten, „die Unsicherheit überwältigenden“ Gebarens und Bekennens, das uns von Nietzsche überliefert ist – und schon ist das Wehklagen der „Sinnenwelt“ überdröhnt, schon nehmen wir von den Nachrichten aus dem Untergeschoss der Existenz überhaupt nichts mehr wahr.
Im Idealfall des abstrakten Individuums gibt es überhaupt keine Regung mehr, die dem Zufall überlassen wäre. Jede Lebensäußerung steht unter der Kontrolle des „eigentlichen Selbst“ und ist in diesem Sinne das Resultat einer „bewussten Entscheidung“, eines bewussten, vom freien Willen deutlich ausgesprochenen „Ja“. Die gesamte Erscheinung zeugt dann vom „Gestaltungswillen“ des betreffenden Individuums. Selbst noch das scheinbar Unabsichtliche – ein spontanes Lächeln etwa, ein Ausruf des Erstaunens – geht aus der Absicht des Generalunternehmers namens „Ich“ hervor, der aus meiner Empirie, die für sich genommen wertlos ist und außerhalb seines Blickfelds liegt, eine möglichst ansehnliche und attraktive (und also allgemeinheitsfähige) Fassade zu machen bestrebt ist.27 Der Wahlspruch, den eine Virtuosin des Fassadenbaus verkündet: „Es gibt keine hässlichen Menschen, nur unbewusste“, liegt genau auf dieser Linie.28 Auch das Thema „Genuss“, „Gesundheit“, „Fithalten des eigenen Körpers“ und jede andere Facette des Daseins wird ein hochgezüchtetes Fassaden-Ich dieser Art mit „Bewusstsein“ anpacken; mit dem gleichen entschlossenen Bewusstsein, mit dem es auch im Geschäftsleben seinen Vorteil wahrzunehmen gewillt ist – wenn man überhaupt sagen kann, dass es sich jemals außerhalb dieser Sphäre bewegt.
2.3. „Aussichten auf den Bürgerkrieg“29
Dass dieser Zustand gefährlich ist, liegt auf der Hand. Wer mit Kant daran festhält, dass es diesseits der „intelligibelen Welt“ unseres fassadenbauenden „Ich“ noch eine „andere Welt“ gibt – man mag sie nennen, wie man will: Sinnenwelt, unmittelbare Existenz oder empirisches Dasein -, kann keinen Zweifel daran haben, dass diese Situation, in welcher der Teil sich für das Ganze hält, katastrophenträchtig ist. Wenn die existenzielle oder empirische Dimension des Lebens ohne Rest zur Verfügung des „eigentlichen Selbst“ stehen soll, wenn sie in ihrem eigenen Gewicht geradezu verleugnet wird und bloß noch als Material für den Fassadenbau in Frage kommt, dann eben ist das entstanden, was man mit dem bekannten Ausdruck Herbert Marcuses als den „eindimensionalen Menschen“ bezeichnen könnte. Je mehr Kompetenzen sich das „eigentliche Selbst“ anmaßt, je mehr das „Bewusstsein“ und der „Gestaltungswille“ sich auch dort noch zu schaffen machen, wo sich das Revier der unmittelbaren Existenz befindet, desto weniger Platz bleibt übrig für diese Ebene der „Sinnenwelt“, desto enger wird es für „Gefühl, Antrieb und Neigung“ – und desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass es zu unkontrollierbaren, unvorhersehbaren Eruptionen kommt, in denen der Rahmen der bürgerlichen Normalität ganz zerbricht. Als Nietzsche sich bis zu seinem „unbedingten Ja“ emporphilosophiert hatte, war, das sollte man nicht vergessen, der Ausbruch des Wahnsinns nicht mehr fern.
Offensichtlich tut es dem Leben nicht gut, als Philosophie betrieben zu werden. Diesseits von allem „Sinn“ und aller „Bedeutung“, die das „eigentliche Selbst“ ihm auflädt, muss es auch in der Dimension der Unmittelbarkeit gelebt werden. Ob ich mich wohlfühle oder nicht, das erfahre ich nicht von einem Urteilsspruch der „Vernunft“, das muss ich spüren können. Und hier, auf dieser Ebene des „Spürens“, ist all der Aufwand, den die fassadenbauende Vernunft betreibt, umsonst. Die „Anerkennung“, die sich auf diese Weise erzielen lässt, gehört in die Sphäre der „intelligibelen Welt“, sie kommt dort, wo die Banalität des alltäglichen Existierens stattfindet, nicht an.30 Die „Sinnenwelt“ hat nun einmal ihre eigenen Ansprüche und Bedürfnisse, und die können von keiner Simulation des „Gut-Drauf-Sein“ zufrieden gestellt werden. „Denn das Behagen liegt im Leben und nicht daneben“, um es mit Heimito von Doderer zu sagen.31
Genau an diesem Punkt aber tut sich das Dilemma des abstrakten Individuums auf. Es erleidet einen existenziellen Mangel, es wird von dem Steuermann (dem „eigentlichen Selbst“), der ihm das Leben unter der Voraussetzung bürgerlicher Verhältnisse ermöglichen soll, mit logischer Notwendigkeit dahin gebracht, diesen Mangel zu erleiden, kann ihn aber, eben auf Grund des Mechanismus, durch den er zustande kommt, nicht wahrnehmen. Dieser Mangel müsste ja, bevor er zu einem Gegenstand der Erfahrung werden könnte, zunächst einmal gespürt werden. Damit aber ist es bei dem Übermaß an „Bewusstheit“, über das dieses allzu „vernünftige Wesen“ verfügt, nicht weit her. Längst schon hat es seine Gefühle „im Griff“, längst schon ist es daran gewöhnt, diesen ganzen Bereich des Fühlens und Spürens auf die „objektiven Erfordernisse“ des Fassadenbaus abzustimmen. Was ein ordentlicher Fassadenbauer ist, wie kann der „negative Gefühle“ zulassen? Wie kann der sich eingestehen, dass es ihm nicht gut geht, dass er mit irgendeinem Aspekt seines „selbstherrlich“ und „selbstverantwortlich“ geführten Lebens nicht zurechtkommt? Nein, dann doch lieber die Zähne zusammengebissen und den Genussmenschen und Hedonisten markiert!
Es ist ein dünnes Eis, auf dem sich dieser psychologische Totalitarismus abspielt. Wenn das „eigentliche Selbst“ sich für Alles zuständig hält und also auch – qua Simulation – das Geschäft von „Gefühl, Antrieb und Neigung“ betreibt, dann hat es allerdings gesiegt – aber auf eine verhängnisvolle Weise. Die Kontrollinstanz, als welche Kant das „eigentliche Selbst“ der „praktischen Vernunft“ eingeführt hatte, befindet sich jetzt gewissermaßen allein auf weiter Flur. Sie übt ihre Tätigkeit mit einer solchen Perfektion aus, dass ihr der „Untertan“, den es nach Kants Auffassung zu unterjochen und zu beherrschen gilt, vor lauter Unterjochung und Beherrschung glattweg abhanden gekommen ist.32 Das gilt nicht nur für die eigene Empirie des abstrakten Individuums, sondern logischer Weise, da es jetzt nur noch auf seinesgleichen trifft, auch für seine Beziehung zur Außenwelt. Es gibt dort keine „Untertanen“ mehr; also nichts mehr, was dauerhaft und verlässlich als Projektionsfläche für die verdrängte „Sinnenwelt“ geeignet wäre. Der so genannte Abspaltungsmechanismus, mit dessen Hilfe sich der „vernünftig“ gewordene Teil der Menschheit eine ganze Geschichtsepoche hindurch Erleichterung verschaffen konnte, kommt zum Erliegen. Alles Kontrollieren wird hinfällig. Die Extreme berühren sich, die totale Kontrolle ist keine mehr. Vertrieben aus der sinnlich-konkreten Welt der endlichen Bedürfnisse wird das jetzt erst wahrhaft abstrakt zu nennende Individuum nicht etwa kleinlaut, sondern größenwahnsinnig. Als Inhaber eines Bewusstseins, das sich auf dem Standpunkt der „absoluten Spontaneität“ befindet, muss es alles für möglich und alles für machbar halten. Die Beliebigkeit, die in der Kategorie des freien Willens theoretisch angelegt ist, kommt bei Millionen von Menschen praktisch zur Geltung: in den völlig unrealistischen Forderungen, die sie an sich selber stellen, in den konfusen Vorstellungen von dem, was das „Leben“ ihnen zu bieten haben sollte.
Dass ein dermaßen verblendetes, ganz und gar von der „reinen Form“ bestimmtes Bewusstsein gleichsam auf der Kippe steht, dass es gefährdet ist, dass die totale Kontrolle jederzeit in den totalen Kontrollverlust umschlagen kann, lässt sich leicht vorstellen. Ohne Kontakt mit der Empirie, ohne irgendwelche Rückmeldungen oder Warnsignale von dorther wahrnehmen zu können, befindet sich das abstrakte Individuum ständig am Rand der Überforderung; bis zur Kapazitätsgrenze ist es ausgelastet mit den von der „praktischen Vernunft“ her kommenden „Notwendigkeiten“. Es ist nirgendwo geborgen und es kann sich nirgendwohin zurückziehen, denn es ist immer im Dienst – nämlich im Dienst am „höchst eigenen Selbst“. Schon im Normalfall ist dies ein kritischer Zustand. Schon die „geglückte“ Karriere ist ein Hohn auf alles, was empirischer Weise als Glück und als Wohlbefinden zu bezeichnen wäre.34 Und erst recht ist es ein Hohn, wenn man mit letzter Kraft, bloß um nicht unterzugehen, das Glück und die „good vibrations“ auch noch fassadenmäßig zur Aufführung bringen muss. Irgendwelche Reserven für außergewöhnliche Vorkommnisse sind da nicht mehr vorhanden. Eine winzige Dosis zusätzlicher Frustration, eine unerwartete Belastung, eine Rechnung, die nicht sofort aufgeht – und es ist aus mit der Fassade. Mit einem Mal spürt das abstrakte Individuum doch etwas: nämlich, dass die ganze Veranstaltung schon bisher vergebens war, dass das Mühen, Hasten und Rennen im Dienste der „objektiv“ gebotenen Chancen und Gelegenheiten von vornherein nicht aufs Glücklichsein angelegt war. Es dämmert ihm, dass es betrogen worden ist, dass es jener Lüge aufgesessen ist, die besagt, dass das Leben unter den Vorgaben der „objektiven Vernunft“ ein angenehmes Leben sei. Diese Lüge, die Plato zu seiner Zeit noch für „nützlich“ erklärt hat (sofern sie die Menschen dazu bewege, das, „was recht ist, nicht gezwungenermaßen, sondern freiwillig“ zu tun35, wird, wie gesagt, nur geahnt; es handelt sich um ein Aufdämmern, um ein verschwommenes, undeutliches Ereignis – aber dieses Ereignis stellt sich, wie es beim Durchbruch zu einer neuen Erkenntnis oft geschieht, plötzlich ein, es überfällt das abstrakte Individuum mit einem Schlag und von allen Seiten gleichzeitig. Entsprechend abrupt ist der Übergang vom „Gut-Drauf-Sein“ zum Ausrasten.36 Für dasjenige, was Enzensberger ein „psychotisches Um-Sich-Schlagen“ nennt, ist jetzt jeder Anlass geeignet. „Für das Pogrom sind keine Juden, für die Säuberung keine Konterrevolutionäre mehr nötig. Es genügt, dass einer einen anderen Fußballklub bevorzugt, dass sein Gemüseladen besser geht als der nebenan, dass er anders angezogen ist, dass er eine andere Sprache spricht, dass er einen Rollstuhl braucht oder sie ein Kopftuch trägt. Jeder Unterschied wird zum lebensgefährlichen Risiko“ (S. 30f.). Über Nacht können sich unauffällige Bürger „in Hooligans, Brandstifter, Amokläufer und Serienkiller verwandeln“ (S. 19).
Die Energie, die sich in solchen Ausbrüchen entlädt, stammt – natürlich – von der existenziellen Ebene des Daseins, aber damit ist keine Richtung vorgegeben. Dasjenige, was den Aufstand probt gegen die allseits herrschende „Vernunft“ ist – auf Grund dieser Ausgangslage – frei von jeder Vernunft und also mit Blindheit geschlagen. Unmittelbar kann dieser „Aufstand“ nichts anderes sein als die akute Zuspitzung, das plötzliche Offenbarwerden eben jener katastrophalen Situation, die die ganze Zeit über schon vorhanden war, aber im Zustand der Latenz. Der von der „Objektivität“ herkommende Druck ist an einzelnen Stellen zu groß geworden, statt wie bisher nach „innen“ wendet er sich jetzt nach „außen“ – und zwar explosionsartig. Eine Explosion aber pflegt bei der Bestimmung ihrer Ziele nicht wählerisch zu sein. Das Vermögen, zwischen dem Feind der Metaphysik einerseits und dem Freund der diesseitigen Bedürfnisse andererseits zu unterscheiden, darf man von ihr nicht erwarten. Das Gift der „objektiven Vernunft“ befindet sich ohnehin überall. Alle Phänomene, auf die das abstrakte Individuum bis dahin gebaut hatte, sind mehr oder weniger gleichmäßig davon befallen. Alles, was funktioniert, funktioniert im Rahmen und im Dienst der herrschenden Metaphysik – und so ist denn auch „Alles“ gleich gut als Ziel geeignet.37 Das eigene empirische Dasein war ja auch bloß ein Funktionieren, es wird ebenso wenig verschont wie irgendein anderes.
Der neueste Typ des „Täters“, so schreibt Enzensberger in seinem Bürgerkriegs-Essay, sei unfähig, „zwischen Zerstörung und Selbstzerstörung zu unterscheiden“ (S. 20). Die „Aggression richtet sich nicht nur gegen die anderen, sondern auch gegen das eigene verhasste Leben. Es ist, als wäre es, mit den Worten von Hannah Arendt, den Tätern einerlei, nicht nur, ob sie leben oder sterben, sondern ob sie je geboren wurden oder nie das Licht der Welt erblickten“ (S. 31). Und er erinnert in diesem Zusammenhang an das Wort vom „Selbstverlust“, das sich Hannah Arendt bei der Analyse des politischen Totalitarismus aufgedrängt hatte. Damals, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, waren es die politischen Allgemeinbegriffe, die das „Hintanstellen“ der diesseitigen Bedürfnisse besorgten. Betört und berauscht von den auf sie gemünzten Parolen, von der „gewaltigen geschichtlichen Aufgabe“, für die das „Schicksal“ oder die „Zukunft der Menschheit“ sie ausersehen hatte, verloren die zum „politischen Machtfaktor“ gewordenen Massen das Nächstliegende aus den Augen: ihr empirisch-handgreifliches Wohlergehen. Mit Todesverachtung zogen sie in den Krieg. „Was aber die modernen Massen von dem Mob (vergangener Zeiten) unterscheidet, ist die Selbstlosigkeit und Desinteressiertheit am eigenen Wohlergehen… Sie leiden an einem radikalen Schwund des gesunden Menschenverstandes und seiner Urteilskraft sowie an einem nicht minder radikalen Versagen der elementarsten Selbsterhaltungstriebe.“38
„Selbstlosigkeit und Desinteressiertheit am eigenen Wohlergehen“ – diese Aussage bezog sich seinerzeit auf den „Massenmenschen“ der Weltkriegsepoche, auf seine „Sucht nach Anonymität, nach reinem Funktionieren, nach Aufgehen in einem so genannten größeren Ganzen“39, sie gilt aber ebenso für das in Massen vorhandene Individuum der neuesten Zeit, und hier sogar, wie ich meine, in höherem Maße. Das mag seltsam klingen bei einem Wesen, das von seinem „höchst eigenen Selbst“ nicht loskommt und das permanent im Namen seines „eigenen Interesses“ unterwegs ist. Aber von Kant belehrt wissen wir ja, was es mit diesem so genannten eigenen Interesse auf sich hat. Das „größere Ganze“, die spezifische Sorte von „Objektivität“, mit welcher die Welt des abstrakten Individuums gesalbt ist, wird dabei nie außer Acht gelassen. Schon allein deshalb nicht, weil es als die „objektive“ Subjektform des „Wollens überhaupt“ zu einem wesentlichen Bestandteil des modernen Ich-Bewusstseins geworden ist und dieses geradezu konstituiert.
Gewiss waren auch schon die politischen Kollektivsubjekte wie etwa das „Volk“ oder die „Arbeiter und Bauern“ sehr gut zur Verinnerlichung geeignet. Auch der Gottesbegriff der Reformation war bereits eine Kategorie, mit der sich viele Menschen auf eine innige, existenzbestimmende und -vernichtende Weise einlassen konnten.40 Aber in allen diesen Fällen war doch von Seiten der Empirie und ihres „Wohlergehens“ noch so etwas wie Widerstand möglich. Die ideologischen Gestalten, in denen sich die Metaphysik seinerzeit präsentierte, als sie noch nicht auf dem Höhepunkt ihrer „Reinheit“ angelangt war, sie befanden sich in vieler Hinsicht tatsächlich noch, wie bei Nietzsche gesehen, „außen und oben“. Die „reine Form“ hatte die „Sinnenwelt“ noch nicht vollständig erfasst und im Griff. Das Individuum – ein noch seltenes Gut dazumal – konnte gegenüber den von Kirche und Staat verbindlich gemachten Glaubensinhalten einen Vorbehalt anmelden. Es war ihm möglich, in die innere oder äußere Emigration zu gehen. Es konnte sich „eigene“ Gedanken machen, die wirklich noch danach aussahen. Daher rührt ja auch sein guter Ruf. Daher die Hoffnungen, die in der Ära des klassischen Liberalismus auf das Individuum gesetzt wurden. Und als diese Ära in der Weltkriegsepoche unterging, da brachte sie immerhin noch tragische Gestalten hervor, Helden und Märtyrer, die klar sagen konnten, wofür und wogegen sie waren, die den Widerstand gegen den politischen Totalitarismus im vollen Bewusstsein eines „eigenen Standpunktes“ leisteten und auch nur auf Grund eines solchen Standpunktes zu leisten vermochten. Dass das so genannte linke und kritische Denken in den letzten sechzig Jahren sehr weitgehend auf den Rahmen des „Antifaschismus“ beschränkt geblieben ist, dürfte sich zum Teil psychologisch erklären lassen: als die gewissermaßen nostalgische Sehnsucht nach einer geschichtlichen Konstellation, in welcher die politischen Fronten klar als solche zu erkennen und die Rollen von „Gut“ und „Böse“ eindeutig bestimmt waren – zumindest im Nachhinein.
Wie aber, wenn die Metaphysik in der Form des „eigentlichen Selbst“ sich so innig mit mir verbunden hat, dass sie umstandslos zu meinem „eigenen Ich“ geworden ist, von dem ich als ein empirisches Dasein mich nicht mehr zu unterscheiden vermag? An die „Nation“ oder an das „Volk“ kann ich glauben, an mein „eigenes Ich“ aber muss ich doch geradezu glauben! Bin ich nicht tagtäglich angewiesen auf dieses „Ich“? Ist es in dem raschen Wechsel der Zeiten und Umstände nicht der einzige Fixpunkt, an den ich mich halten kann? Wäre ich nicht dem blanken Wahnsinn ausgeliefert, wenn mir nach so vielen Gewissheiten auch noch diese Gewissheit verloren ginge? Muss ich nicht jedweden Zweifel, der sie mir zu rauben droht, schnellstmöglich unterdrücken und zurückweisen? – Und doch ist dieses „Ich“ nicht mit mir, nicht mit meinen Bedürfnissen, sondern mit der „Objektivität“ verbündet. Unter dem beschönigenden Titel meines „Realitätssinnes“ ist es der Statthalter, der den Druck, den diese „Objektivität“ ausübt, tief in mir verankert hat und ihn so aussehen lässt, als käme er von mir selbst, von meinem „Ehrgeiz“, von meinem „Durchsetzungsvermögen“, von meinem „starken Willen“41. Ich müsste mich zur Wehr setzen gegen diesen Statthalter, der mir im Namen der „Selbstbehauptung“ und der „Selbstverantwortung“ das Leben bitter macht, aber stattdessen bekomme ich Panikattacken, weil mir jeder solche Impuls das Wichtigste zu bedrohen scheint, das ich inmitten der anderen „Selbstbehauptungs-Selbste“ für ein „normales Leben“ benötige. Der Druck, dem ich von Seiten des Statthalters ausgesetzt bin, ist unerträglich, aber die Angst, ihn zu verlieren, ist es genauso.
Man versteht jetzt, warum die kapitalistische Krise die Tendenz hat, ins Apokalyptische auszuarten. Zusätzlich zu dem, was die „Objektivität“ (etwa des „Weltmarkts“ oder des „unabdingbaren technischen Fortschritts“) mit immer mehr Härte und Unerbittlichkeit von den Subjekten fordert, die totale Hingabe- und Leistungsbereitschaft für die Zwecke des perfekten Funktionierens, kommt das Gewicht der Objektivität als Objektivität. Dieses Gewicht stellt eine weitere Dimension der Unerträglichkeit dar, die sich zur ersten und ursprünglichen in diametralem Gegensatz befindet. Je mehr der Kapitalismus sich durchsetzt gegen die vorkapitalistischen Institutionen und Denkhaltungen, desto mehr befestigt sich logischer Weise auch die zugehörige Subjektform. Das abstrakte, über das „Vermögen absoluter Spontaneität“ verfügende „Ich“ wird zur unbezweifelbaren, unhinterfragbaren Selbstverständlichkeit. Und für dieses „Ich“ ist das eng geknüpfte Netz der vom kapitalistischen System bereitgestellten Funktionen schlicht und einfach die Realität – und weiter nichts. Auch Dank der eifrigen Bemühungen des Positivismus gibt es dazu keine Alternative, nichts, was sich darüber hinaus noch vorstellen oder erhoffen ließe. Welche Dramatik, wenn nun ausgerechnet diese „objektive Realität“ selber zweifelhaft wird und ins Rutschen kommt, wenn sie jene Beständigkeit und Verlässlichkeit verliert, die man von ihr als der „einzig möglichen Realität“ erwarten können sollte, wenn mit einem Wort das Funktionieren selber nicht mehr funktioniert! Die herrschende Subjektform verliert damit gewissermaßen ihre raison d’être, ihre angestammte Umgebung, an die sie angepasst, für die sie gemacht ist. Und das ergibt mehr als bloß eine Glaubenskrise. Wenn es geradezu das „Sein“ ist, das dem bürgerlichen Menschen abhanden kommt, die von der „Wissenschaft“ tausendmal beglaubigte „Objektivität“, dann muss auch das zugehörige Bewusstsein aus den Fugen geraten – und zwar nachhaltig. Armut, Hunger und Elend begleiten den Kapitalismus seit jeher. Was seine Krise diesem – sagen wir: physiologischen – Moment hinzufügt, ist die tiefreichende Zerrüttung der modernen Seele. Ein Geruch von Wahnsinn liegt über dieser Gesellschaft, seit den Tagen der Nietzsche und Freud41 ist das offenkundig. Jedenfalls hat Enzensberger über die sich anbahnende Katastrophe kein Wort zuviel gesagt. Die wenigen Jahre, die seit dem Erscheinen seiner Schrift vergangen sind, haben das bereits hinreichend deutlich gezeigt.
Literatur:
Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986 (amerik. Erstausgabe 1951).
Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben, München 2002 (amerik. EA 1958).
Doderer, Heimito von: Die Strudlhofstiege, München 1966 (EA 1951).
Enzensberger, Hans Magnus: Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt/M. 1993.
Fromm, Erich: Haben oder Sein, München 1979 (amerik. EA 1976).
Graf, Oskar Maria: Wir sind Gefangene – Ein Bekenntnis, München 1981 (EA 1927).
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werkausgabe Bd. 7, Frankfurt/M. 1969-1971 (EA 1820, auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ediert von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel).
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Werkausgabe Bd. 19, Frankfurt/M. 1969-1971 (auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ediert von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel).
Hirschberger, Johannes: Geschichte der Philosophie (2 Bände), Freiburg im Breisgau 1991 (EA 1948).
Janz, Curt Paul: Friedrich Nietzsche, Biographie (3 Bände), München 1978.
Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten/Kritik der praktischen Vernunft, in: Werkausgabe Bd. VII (Hg. Wilhelm Weischedel), Frankfurt/M. 1974 (EA 1785 und 1788).
Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten/Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Werkausgabe Bd. VIII (Hg. Wilhelm Weischedel), Frankfurt/M. 1968 (EA 1797 und 1793).
Kelsen, Hans: Die platonische Gerechtigkeit, in: Ders., Staat und Naturrecht – Aufsätze zur Ideologiekritik (Hg. Ernst Topitsch), München 1989 (EA 1964).
Klein, Peter: Das Wesen des Rechts, in: krisis 24, Bad Honnef 2001.
Leinemann, Jürgen: Höhenrausch – Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker, München 2004.
Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden (Hg. Karl Schlechta), Darmstadt 1997 (EA 1956).
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, Darmstadt /Neuwied 1981 (amerik. EA 1964).
Marcuse, Ludwig: Mein zwanzigstes Jahrhundert, Zürich 1975 (EA 1960).
Ortega y Gasset, José: Der Aufstand der Massen, Reinbek bei Hamburg 1956ff. (span. EA 1930).
Scholz, Roswitha: Das Geschlecht des Kapitalismus, Bad Honnef 2002.
Sperber, Manès: Zur Analyse der Tyrannis, in: Die Tyrannis und andere Essays aus der Zeit der Verachtung (Hg. Jenka Sperber), München 1987 (EA 1937).
Topitsch, Ernst: Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie, München 1981 (EA 1967).
Anmerkungen:
1 Es handelt sich hier um die Zusammenfassung eines längeren Textes, der, im Rahmen meines Buchprojektes zur Kritik der modernen Demokratie („Die Herrschaft der Beliebigkeit“) entstanden, sich ausführlicher mit Kant und Nietzsche auseinander setzt. Das folgende Kapitel („Der ausbrechende Wahnsinn“) – es ist eine im Wesentlichen ungekürzte Auskoppelung aus diesem Projekt – bedarf einer solchen einführenden Zusammenfassung. Im vorgegebenen Rahmen musste sie freilich denkbar knapp und skizzenhaft ausfallen. Beide Kapitel zusammengenommen sollten dem Verständnis aber keine allzu großen Schwierigkeiten bereiten, zumal ja das Thema der „Subjektkritik“ für die Leserschaft der krisis keine Neuigkeit darstellt.
2 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Werke Bd. 19, S. 538.
3 Die Seitenangaben im Text (auch die beiden folgenden) beziehen sich auf: F. Nietzsche, Werke Bd. II.
4 Vgl. P. Klein, Das Wesen des Rechts, in: krisis 24. Die Auseinandersetzung mit Rousseau befindet sich dort auf den Seiten 67ff.
5 Nur kurz sei hier die von Kant in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ gegebene Ableitung skizziert. Kant geht davon aus, dass sich im Willen das Bewusstsein der Kausalität äußert. Ein seiner selbst bewusstes Ich denkt sich, indem es will, als aus sich heraus wirkend, setzt sich somit rein als Ursache – und abstrahiert damit von dem Bedingungszusammenhang, in dem es sich als empirisch-reales Wesen immer schon befindet. Deshalb spricht Kant bei dieser Art zu wollen, die er von dem sinnlichen „Begehren“ scharf abgrenzt, auch von dem „Vermögen absoluter Spontaneität“. Der Begriff der Ursache führt wiederum den der Wirkung bei sich, und in der Art, wie Ursache und Wirkung miteinander verknüpft gedacht werden, ist schließlich auch die Denkfigur der gesetzmäßigen Notwendigkeit im Willen enthalten: ein rein geistiges Erzeugnis, das, wie Hume gezeigt hat, nirgendwo beobachtet werden kann. Es macht im Wesentlichen das aus, was der modernen, am Vorbild der Newtonschen Physik (Naturgesetze) orientierten „Vernunft“ als ihre – ganz und gar nicht mehr zauberhafte – Metaphysik zu Grunde liegt. Wir bedienen uns dieser Denkfigur und nehmen sie als Kriterium für „Objektivität“, wenn wir von einem Ereignis auf alle möglichen Ereignisse einer Art schließen; wenn wir also verallgemeinernd denken und vom einzelnen Phänomen abstrahieren.
6 Wie um diese These zu bestätigen und sich selber als ein solches an die Gesetzesform angepasstes „Vernunftwesen“ zu überführen, zählt Nietzsche „Staat, Gerichtswesen, Ehe, Kranken- und Armenpflege“ allen Ernstes zu den „natürlichen Institutionen“, die „vom Instinkt des Lebens“ in die Welt gesetzt worden seien (Der Antichrist, Werke Bd. II, S. 1188).
7 Der Gedanke, den ich eingangs in meine Argumentation geschmuggelt habe, dass es sich bei den metaphysischen Phänomenen (den „Geistern“) um das – verselbständigte – Denken selber handelt, stammt also von Kant. Mit Kant wird der „Geist“ rückbezüglich oder, mit Hegel zu reden, zum „in sich reflektierten Geist“. Er ist jetzt kein harmloses Ding mehr, dass es „geben“ oder „nicht geben“ mag, sondern es ist – von Kant bis Hegel – ein Innewerden, dass er realiter herrscht: „Es ist der Gang Gottes in der Welt, dass der Staat ist“ (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke Bd. 7, S. 403). Erst von diesem Reflexionsniveau ab wird die Metaphysik als ein die Existenz unmittelbar betreffendes Problem kenntlich. Die Aufgabe, sie zu überwinden, kann von jetzt ab – man vergleiche die elfte Feuerbach-These von Marx – nicht mehr bloß die Frage ihrer theoretischen Interpretation oder ihrer „Entlarvung“ sein. Sie ist – bei Strafe der Vernichtung aller Existenz – zu einer Frage der „die Menschen wie die Umstände“ verändernden Praxis geworden.
8 Anregende Gedanken zum Thema „Sich Verhalten“ in Abgrenzung zum „Handeln“ finden sich bei Hannah Arendt, Vita activa, z.B. S. 51ff.
9 „Ich lese augenblicklich die Kritik der reinen Vernunft (Kant), in dem angenehmen Gefühl, dass ich nicht nötig habe, sie zu verstehen“ (Janz, Bd. 2, S. 35). So bedankt sich (in einem Brief vom 20.12.1879) der Freund Paul Rée für die Einsichten, die ihm Nietzsche verschafft hat.
10 Der theoretischen Ehrlichkeit halber muss ich erwähnen, dass Nietzsche das landläufige „Ich“, das dem Willen vorausgesetzt ist, sehr wohl hinterfragt und angegriffen hat. Eines von vielen Beispielen ist die Vorrede zu „Jenseits von Gut und Böse“ (1885), wo er vom „Subjekt- und Ich-Aberglauben“ spricht. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als ließe sich Nietzsche im Handumdrehen „erledigen“, oder als seien seine Einsichten zu dem, was er den „Moloch der Abstraktion“ nennt, allesamt bloß lächerlich. Der Konstitutionszusammenhang, dem das abstrakte „Ich“ angehört (Individuum als „Strukturelement“, s.o.), die kapitalistische Warenproduktion, ist ihm freilich vollkommen fremd.
11 Anders als Kant, der zu seiner Zeit noch Bedenken trug, ob das „Einpfropfen“ der Abstraktion in die „Gemüter“ (Grundlegung…, S. 40) nicht auf anthropologische bzw. biologische Grenzen – etwa beim weiblichen Geschlecht, beim „Pöbel“ oder bei den „Wilden“ – stoßen werde, meine ich, dass wir nach weiteren gut zweihundert Jahren „Einpfropfungs-Geschichte“ diese Bedenken nicht mehr zu haben brauchen. Ich betrachte das „Hintanstellen der Sinnenwelt“, wie es von Kant im Namen der „Vernunft“ gefordert wird, als ein Vergesellschaftungsprojekt, das seither einen alle empirischen Unterschiede durchschlagenden Erfolg gehabt hat. Deshalb verzichte ich hier darauf, die entsprechende Problematik nach „Geschlecht“ oder „Rasse“ differenziert darzustellen. Begleitet von den bekannten ideologisch-politischen Reflexen (Lebens- und Existenzphilosophie, Psychoanalyse, totalitäre Demokratie, Frauen-, Schwulenbewegung etc.), hat die kapitalistische Modernisierung längst schon dazu geführt, dass so ziemlich alle Phänomene der „Sinnenwelt“ die Weihe der „Objektivität“ empfangen haben. Sie sind in das System der bürgerlichen Normal-Tatsachen eingemeindet worden und als solche nicht mehr dafür geeignet, ein zuverlässiges Merkmal für „Unmündigkeit“ oder „Minderwertigkeit“ abzugeben. In jenem ursprünglichen Sinne (der Kant vor Augen gestanden haben mag), in dem sie als das ganz „Andere der Vernunft“ die Grundlage für einigermaßen stabile und dauerhafte Identifikationen sein konnten, sind sie dem bürgerlichen Bewusstsein – zu seinem Unglück, muss man sagen – abhanden gekommen. (Indem ich, Kant folgend, die Abstraktion als solche und also auch „geschlechts-transzendental“ behandle, unterscheide ich mich von Roswitha Scholz, die unter Hinweis auf die männliche Urheberschaft des kapitalistischen Systems den Begriff der „strukturellen Männlichkeit“ in Vorschlag bringt. Vgl. R. Scholz: Das Geschlecht des Kapitalismus, und verschiedene u.a. in der krisis erschienene Aufsätze. Siehe auch die Anmerkung zum „Abspaltungsmechanismus“ im folgenden Kapitel.)
12 Ich bin mir bewusst, dass die hier vertretene Auffassung von der (im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu beseitigenden) dualistischen Struktur der modernen Seele im Gegensatz steht zur Freudschen Konzeption des „psychischen Apparats“, die drei Instanzen des Bewusstseins unterscheidet: Über-Ich, Ich und Es. Der Gegensatz lässt sich meines Erachtens historisch auflösen. Das „realitätstüchtige Ich“, dem Freuds ärztliche Sympathie gehört, ist dann seinerseits eine gesellschaftliche Instanz, sozusagen der (moderne) Nachfolger des (vormodernen) Über-Ichs. Es scheint mir genau jene Kantsche Art der „Vernunft“ zu repräsentieren, die der „Objektivität der Tatsachen“ zugeordnet ist. Ebenso wie Nietzsche und der Positivismus überhaupt hilft Freud also mit, die bürgerliche Gesellschaft im Sinne der Kantschen Metaphysik zu modernisieren – selbstverständlich ohne sich eigens mit Kant oder dem deutschen Idealismus auseinander gesetzt zu haben. Zu diesem Thema existiert bereits der Rohentwurf eines Artikels, den ich vielleicht in einer der nächsten Ausgaben der krisis veröffentlichen kann.
13 E. Fromm, Haben und Sein, S. 16.
14 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft , Werke Bd. VII, S. 163.
15 „Als Vorrat von Möglichkeiten ist unser Zeitalter prachtvoll…“ (Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, S. 33).
16 Nietzsche spricht u.a. von der „aus der Fülle, der Überfülle geborne(n) Formel der höchsten Bejahung, (vom) Ja-Sagen ohne Vorbehalt, zum Leiden selbst, zur Schuld selbst, zu allem Fragwürdigen und Fremden des Daseins selbst“ (Ecce homo, Bd. II, S. 1109f.). „Die Erkenntnis, das Jasagen zur Realität, ist für den Starken eine ebensolche Notwendigkeit, als für den Schwachen … die Feigheit und Flucht vor der Realität – das ‚Ideal‘“ (ebd.).
17 In einem an die Freundin Malwida von Meysenbug gerichteten Brief vom 14.1.1880 heißt es: „Kein Schmerz hat vermocht und soll vermögen, mich zu einem falschen Zeugnis über das Leben, wie ich es erkenne(!), zu verführen. … Was Qual und Entsagung betrifft, so darf ich das Leben meiner letzten Jahre mit dem jedes Asketen irgendeiner Zeit messen; trotzdem habe ich diesen Jahren viel zur Läuterung und Glättung der Seele abgewonnen – und brauche weder Religion noch Kunst mehr dazu“ (Janz, Bd. 2, S. 16).
18 In Nietzsches erster Schaffensperiode, die laut Hirschberger etwa bis 1876 reicht (Abschluss der „Unzeitgemäßen Betrachtungen“), gibt sich das „Ja“ zum Leben noch als eine Art Antithese gegen den bürgerlich-liberalen Zeitgeist. Hier lassen sich noch am ehesten Elemente einer Gesellschafts- bzw. Kulturkritik ausmachen. Später wird Nietzsches „Ja“ immer großzügiger und positivistischer. Er macht sich (etwa in dem 1886 erschienenen Buch „Jenseits von Gut und Böse“) weiterhin lustig über das formale Denken eines Kant und über die „anscheinende Selbstherrlichkeit“ dieses Denkens, gibt aber zu erwägen, ob nicht gerade „die falschesten Urteile“ die für das Leben „unentbehrlichsten sind“: „… ohne ein Gelten-Lassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl“ könnte „der Mensch“ (zu ergänzen: der bürgerlichen Gesellschaft, P. K.) womöglich „nicht leben“ (Jenseits von Gut und Böse, Bd. II, S. 569). Die Kantsche Frage „wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“, konfrontiert er mit der Gegenfrage „warum ist der Glaube an solche Urteile nötig?“ Und er rät dem bürgerlichen Menschen zu begreifen, „dass zum Zwecke der Erhaltung von Wesen unserer Art (Hervorh. P. K.) solche Urteile als wahr geglaubt werden müssen…“ (ebd. S. 576).
19 Ebenso wie Freuds „Bewusst machen“ der „Tatsachen des psychischen Lebens“ lässt sich auch Nietzsches „Ja“ als eine Variante von Hegels „Einsicht in die Notwendigkeit“ darstellen
20 In diesem Sinne typisch argumentiert etwa Ernst Topitsch in der Schrift „Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie“. Darin wird jegliche Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft als Hegelianismus denunziert: nämlich als die philosophisch-theologische Sehnsucht nach einem „wahrhaft Seienden“, das erhaben sei „über die schmerzlichsten Formen des Realitätsdruckes – Tod, Leid, Schuld, Bedürftigkeit – und in weiterer Folge über alle Schranken empirischen und daher endlichen Daseins…“ (S. 19). Der „Übermacht der Gegenstandswelt“ zu entkommen, die „Weltabhängigkeit des Menschen“ zu beseitigen, „den Druck der Realität zu überwinden“ (S. 21) – das sei letztendlich die Motivation derjenigen, die sich in die Rationalität der „offenen Gesellschaft“ nicht schicken wollen. Was Topitsch sich zu Nutze macht, ist der Umstand, dass bei Hegel die Metaphysik der bürgerlichen Gesellschaft positiv besetzt ist. Topitsch repräsentiert demgegenüber – nach den Exzessen der demokratischen Weltrevolution ist das verständlich – das Stadium der Ernüchterung der bürgerlichen Gesellschaft. Ihm sind im Zusammenhang mit Freiheit und Gleichheit die chiliastischen Hoffnungen (die übrigens nicht bei Hegel selbst, sondern nur bei den vulgären Spielarten des Hegelianismus anzutreffen sind) abhanden gekommen. Daraus aber zu schließen, dass er es bei der rechts- und staatsförmig organisierten Gesellschaft überhaupt nicht mehr mit Metaphysik zu tun habe, ist unzulässig. Es ist eine kindliche Negation des Kinderglaubens, wenn ich sage: Etwas, an das ich nicht mit ehrfürchtigen Gefühlen zu glauben vermag, das sich stattdessen rein als „Objektivität“ darstellt, kann keine Metaphysik sein.
21 „Und man merke wohl: wenn etwas, das ein Ideal war, zum Bestandteil der Wirklichkeit wird, hört es unerbittlich auf, Ideal zu sein“ (Ortega y Gasset, a.a.O., S. 16).
22 Spiegel 51/03, S. 180. Ich bin auf diese Formulierung per Zufall, beim absichtslosen Blättern, gestoßen. Einer gleichen oder ähnlichen Formulierung hätte ich auch in jedem anderen „Intelligenzblatt“ begegnen können; sie drückt den herrschenden Konsens aus.
23 „Kein Mensch, dem die Moralität nicht gleichgültig ist (übersetze: … der den Vorgaben der Gesetzesform unterworfen ist, P. K.), kann an sich ein Wohlgefallen haben, ja gar ohne ein bitteres Missfallen, an sich selbst, sein, der sich solcher Maximen bewusst ist, die mit dem moralischen Gesetze in ihm nicht übereinstimmen“ (I. Kant, Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft, a.a.O. Bd. VIII, S. 696f.).
24 Die Ausführungen Kants am Ende der „Metaphysik der Sitten“ kann man als eine Art Kommentar zu den im Text folgenden Sätzen lesen: „Die Regeln der Übung in der Tugend (exercitiorum virtutis) gehen auf die zwei Gemütsstimmungen hinaus, wackeren und fröhlichen Gemüts (animus strenuus et hilaris) in Befolgung ihrer Pflichten zu sein. Denn sie hat mit Hindernissen zu kämpfen, zu deren Überwältigung sie ihre Kräfte zusammen nehmen muss, und zugleich manche Lebensfreuden zu opfern, deren Verlust das Gemüt wohl bisweilen finster und mürrisch machen kann; was man aber nicht mit Lust, sondern bloß als Frondienst tut, das hat für den, der hierin seiner Pflicht gehorcht, keinen inneren Wert und wird nicht geliebt, sondern die Gelegenheit ihrer Ausübung so viel möglich geflohen (S. 626)“. – „Denn wer wollte wohl mehr Ursache haben, frohen Muts zu sein und nicht darin selbst eine Pflicht finden, sich in eine fröhliche Gemütsstimmung zu versetzen und sie sich habituell zu machen(!), als der, welcher sich keiner vorsätzlichen Übertretung bewusst und, wegen des Verfalls in eine solche, gesichert ist“ (S. 626). – „Die ethische Gymnastik besteht also nur in der Bekämpfung der Naturtriebe, die das Maß erreicht, über sie … Meister werden zu können; mithin die wacker und, im Bewusstsein seiner wiedererworbenen Freiheit, fröhlich macht“ (ebd.). – „Die Zucht (Disziplin), die der Mensch an sich selbst verübt, kann daher nur durch den Frohsinn, der sie begleitet, verdienstlich und exemplarisch werden“ (ebd.). Seitenangaben nach: I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, a.a.O. Bd. VIII.
25 Vom „Keep-Smiling“ sagt Ludwig Marcuse in seiner Autobiographie, es sei der „kategorische Imperativ“ der Amerikaner. Dieser Eindruck ist bei ihm gleich zu Beginn seines Amerika-Aufenthalts entstanden, in den Jahren 1939ff. Seither ist „Amerika“, wie jeder weiß, weit herumgekommen in der Welt.
26 Über Nietzsches „Zerrissenheit“, sein „inneres Gejagtsein“, seine „ins Extreme getriebene Feinnervigkeit“ gibt es viele Aussagen seines Biographen. Hier ist die folgende Stelle gemeint: „Auch nach jedem philosophischen Werk haben wir dieses Bild: einerseits ein zagendes Zurücknehmen, Zurückschrecken, und andererseits ein diese Unsicherheit überwältigendes lautes, zuweilen mit Zynismen durchsetztes Bekennen“ ( Janz, Bd. 2, S. 559).
27 Wie so oft ist Nietzsche auch hier, in punkto Fassadenbau, paradigmatisch für das moderne Individuum: „Seinem Charakter ‚Stil geben‘ – eine große und seltne Kunst! Sie übt der, welcher alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt. Hier ist eine große Masse zweiter Natur hinzugetragen worden, dort ein Stück erster Natur abgetragen – beide Male mit langer Übung und täglicher Arbeit daran. Hier ist das Hässliche, welches sich nicht abtragen ließ, versteckt, dort ist es ins Erhabene umgedeutet… – Es werden die starken, herrschsüchtigen Naturen sein, welche in einem solchen Zwange, in einer solchen Gebundenheit und Vollendung unter dem eignen(!) Gesetz ihre feinste Freude genießen; die Leidenschaft ihres gewaltigen Wollens erleichtert sich beim Anblick aller stilisierten Natur, aller besiegten und dienenden Natur; auch wenn sie Paläste bauen und Gärten anzulegen haben, widerstrebt es ihnen, die Natur frei zu geben“ (Die Fröhliche Wissenschaft, Aphorismus Nr. 290, in: Werke II, S. 168f.).
28 So äußert sich die Lifestyle-Unternehmerin Caren Pfleger in einem Buch mit dem Titel „Charisma“ (Handelsblatt, 29.1.2004, S. 24). Neben dem Artikel ist ein ausdrucksloses, maskenhaft wirkendes Gesicht abgebildet, das zur Kommentierung dieses Ausspruches vollauf genügt.
29 Hans Magnus Enzensberger
30 „Das Verlangen nach Anerkennung ist unersättlich“ (S. 47). So kennzeichnet H. M. Enzensberger die äußerst labile Gemütsverfassung, die bei dieser Konstellation entsteht. Die „Anerkennung“, die der „universelle, homogene Verfassungsstaat“ (S. 45) zu bieten hat, kommt eben nur einer metaphysischen Kategorie, dem besagten „eigentlichen Selbst“ des freien Willens, zugute. Sinnlich-reale Wesen können davon weder in emotionaler noch in irgendeiner anderen Hinsicht satt werden (Seitenangaben – auch im weiteren Verlauf des Textes – nach H. M. E.: „Aussichten auf den Bürgerkrieg“).
31 Die Strudlhofstiege, S. 221.
32 „Die Kontrolle erfolgt nicht unter und nicht über dem Bewusstsein, sie ist bereits in der Wahrnehmung erfolgreich wirksam“ (M. Sperber, Zur Analyse der Tyrannis, S. 29).
33 Die Schmerzen und emotionalen Gestehungskosten, die die Herrschaft der „reinen Vernunft“ mit sich bringt, konnten, solange es sozial und geographisch „unvernünftig“ gebliebene Regionen gab, in diese abgeführt und dadurch gewissermaßen erträglich gemacht werden. Dasjenige, was das unter die Herrschaft der „Vernunft“ geratene Individuum bei sich selbst nicht wahrnehmen und gelten lassen mochte, die „Sinnenwelt“ von „Gefühl, Antrieb und Neigung“, es wurde anderswohin projiziert und projektiert: geographisch in die von „Primitiven“ und „Wilden“ bewohnten Erdteile, sozial in die „niederen Stände“, biologisch in das „weibliche Geschlecht“. Das vernünftige – und seinerzeit eindeutig als „männlich“ und „weiß“ zu bestimmende – Individuum hatte es mit lauter Phänomenen zu tun, in denen es das eigene Verdrängte gleichsam wie einen fremden, unbekannten Gegenstand – der Neugier, der Fürsorge, des Ekels, der Bewunderung, der Verachtung, der Sehnsucht etc. – behandeln konnte. Dieser Mechanismus wird nun in dem Maße hinfällig, in dem die dabei entstehenden Stereotypen (der „edle Wilde“, die „einfühlsame Frau“ etc.) sich ihrerseits objektivieren. Sie werden dadurch zu „wertfrei“ registrierbaren „Tatsachen des Lebens“, die das jeweilige (jetzt abstrakt zu nennende) Individuum bloß noch auf äußerliche Weise betreffen. Es kann sie im Sinne der herrschenden Rationalität sogar zum „höchst eigenen“ Vorteil einsetzen. Als „naturgegebene Eigenschaften“, mit denen sich bestimmte Menschengruppen dauerhaft kennzeichnen und stigmatisieren ließen, taugen sie dagegen immer weniger. Der genossenschaftlich organisierte „Wilde“, der zu einem festgesetzten Tarif den „Regentanz“ seiner Vorfahren zur Aufführung bringt, ist natürlich kein „typischer Wilder“ mehr, der vom Ethnologen als Beispiel für das „Andere der Vernunft“ zu verwenden wäre. Er ist ein abstraktes Individuum, das eine von der Tourismusindustrie gebotene Marktchance wahrnimmt und – von seiner „praktischen Vernunft“ dazu angehalten – wahrnehmen muss. Ebenso verhält es sich mit der Frau, die ihre „typisch weibliche“ Kommunikations- und Teamfähigkeit als Konkurrenzvorteil auf dem Arbeitsmarkt zur Geltung bringt. Sie kann ihr Privatinteresse in eigener Regie verfolgen – und geht im gleichen Maße der Privatsphäre des traditionellen patriarchalischen Zuschnitts verloren. Die Äußerung kruder Gewalt ist weiterhin als eine männliche Domäne anzusehen, aber jener abgesteckte Bezirk, in dem sie sich das Aussehen (und Ansehen) einer Art von Herrschafts- oder Regierungsgewalt zu geben vermochte, steht ihr nicht mehr zur Verfügung. Das Private wird auf eine unerwartete Weise öffentlich – und trägt so bei zu dem Bürgerkrieg, den Enzensberger im Kleinen wie im Großen sich allenthalben entwickeln sieht.
34 Über seinen „unersättlichen Hunger nach Anerkennung und Bestätigung“ – Motor für eine erfolgreiche Karriere als Journalist, aber auch Ursache für eine „lebensbedrohliche Krise“ – schreibt der ehemalige Spiegel-Redakteur Jürgen Leinemann: „Ich begann zu ahnen, dass ich meinem Aufstieg nur unzureichend gewachsen war. Zwar hatte ich gelernt, die Erwartungen meiner Umwelt zu erkennen, und ich war auch talentiert und fleißig genug, sie zu erfüllen. Doch meinem äußeren Aufstieg fehlte das innere Gleichgewicht. Ich brauchte Erfolg, um meine Selbstzweifel zu kompensieren. Ich war hungrig nach Lob und Zustimmung, um meine Ängste zu ersticken. Und ich arbeitete bis zur Bewusstlosigkeit, um meinen Aufstieg zu rechtfertigen und meinem Leben einen Sinn zu geben“ (J. Leinemann, Höhenrausch, S. 11).
35 Vgl. Kelsen, Die platonische Gerechtigkeit, in: Ders., Staat und Naturrecht. Das Zitat aus Platos Dialog „Die Gesetze“ lautet dort folgendermaßen: „Gesetzt es verhielte sich nicht so (dass der Gerechte glücklich, der Ungerechte aber unglücklich sei, P. K.) …, so würde doch ein Gesetzgeber, der irgendetwas taugt, wenn überhaupt irgendwo, so doch in diesem Falle sich eine Unwahrheit erlauben; und was gäbe es für eine Lüge, die nützlicher wäre als diese und in höherem Maße die Wirkung hätte, dass man nicht gezwungen, sondern aus freiem Willen den Forderungen der Gerechtigkeit folgte“ (Kelsen, Staat und Naturrecht, S. 215).
36 Zur Illustration dieses Ausrastens mag eine typische Meldung dienen, wie man sie fast täglich in der Zeitung findet: Unter der Überschrift „Bankangestellter erschießt Chefs und richtet sich selbst“ war im Handelsblatt vom 6.7.2004 Folgendes zu lesen: „Ein 56-jähriger Finanzspezialist der Zürcher Kantonalbank (ZKB) hat gestern seinen Chef und dessen Stellvertreter mit Schüssen in den Kopf tödlich verletzt und dann Selbstmord begangen. Die Polizei geht von einem Konflikt am Arbeitsplatz als Tatmotiv aus…“
37 Die Ideologie von Freiheit und Gleichheit geht allzu glatt auf, sie ist allzu deutlich auf das widerspruchsfreie Funktionieren reibungslos aneinander vorbeigleitender Monaden ausgerichtet, als dass diejenigen, die von dem ewigen Singsang der Chancengleichheit und des friedlichen Wettbewerbs verhöhnt werden, nicht einen abgrundtiefen Hass entwickeln müssten. „Reifen werden zerstochen, Nottelefone mit der Drahtschere unbrauchbar gemacht, Autos angezündet. In spontanen Handlungen drückt sich die Wut auf das Unbeschädigte aus, der Hass auf alles, was funktioniert, der mit dem Selbsthass ein unauflösliches Amalgam bildet“ (Enzensberger, Aussichten…, S. 52).
38 H. Arendt, zit. nach Enzensberger, a.a.O., S. 30f.
39 H. Arendt, Elemente und Ursprünge…, S. 532.
40 „Schon der Begriff des Selbsterhaltungstriebes ist ja problematisch, um nicht zu sagen naiv. Möglich, dass er das Verhalten von Bakterien und Pflanzen erklären kann, doch versagt er schon bei den höheren Tieren, und für die Geschichte gibt er kaum etwas her. Schließlich sind Millionen von Menschen als Heilige und Märtyrer, als Helden und Fanatiker gestorben, ohne Rücksicht auf das Gebot der Selbsterhaltung. … Es kann sein, dass alle Religionen ihren Ursprung im Menschenopfer haben, und auch nach der Entgötterung der Welt hat es den Menschen nie an höheren Zwecken gefehlt, in deren Namen sie töteten und starben“ (Enzensberger, a.a.O., S. 34).
41 Nietzsche hat diesen „starken Willen“ prompt biologisiert – es ist der „Wille zur Macht“: „Denn was ist Freiheit? Dass man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat. Dass man die Distanz, die uns abtrennt, festhält. Dass man gegen Mühsal, Härte, Entbehrung, selbst gegen das Leben gleichgültiger wird (man vergleiche damit das oben zitierte „Ja-Sagen zum Leben“, P. K.). Dass man bereit ist, seiner Sache Menschen zu opfern, sich selber nicht abgerechnet…“ usw. usf. (Götzendämmerung Nr. 38, Werke Bd. II, S. 1015).
42 Nebenbei gesagt ist das auch die Zeit, von der ab, beginnend mit dem Expressionismus, die moderne Kunst das Haupt mit den verzerrten Gesichtszügen erhebt.