31.12.2005 

Krisis 29 – Editorial

Die schlimmsten Einpeitscher des gegenwärtigen kapitalistischen Wahnsinns sind, wie könnte es anders sein, ehemalige Linke. Nirgendwo sonst kommt der kapitalistische Zwang so als aggressive Herzensangelegenheit zu sich wie bei solchen Leuten. Da drehen sie auf, da schlagen sie zu. Einer davon, Matthias Horx, war früher mal Redakteur bei der Frankfurter Spontipostille Pflasterstrand. Nun ist er geläutert und ein gern gesehener und gut bezahlter Gast bei diversen Events der Marktmissionare. Als Trendforscher ist er eine oft bestellte Kurzstreckenrakete der Medienindustrie. Da wird scharf geschossen.

Matthias Horx ist ein grober Festredner, wie ihn sich jede Propagandaabteilung wünscht. Bei ihm wird Klartext gesprochen. Da sprudelt es nur so heraus. Da sagt uns einer jede Gemeinheit offen ins Gesicht, beschönigt nichts. Da spornt uns einer an und fordert uns auf, nicht zum Widerstand natürlich, sondern zur totalen Kapitulation. Sein Programm ist das berüchtigte „survival of the fittest“, Sozialdarwinismus pur. Seine militärische Funktion ist die eines Meldeoffiziers des Kapitals. Denn zweifellos befindet sich die Wirtschaft im Krieg. Horx spricht daher auch vom „war of talents“ (alle folgenden Zitate aus Der Standard, 11. Dezember 2004). In der Ökonomie gehe es schließlich um „Beteiligung an der Beute“. Und da einer den Scout der Marodeure spielen muss, hat unser Trendsetter diesen Part übernommen. Er sagt reißenden Tieren, wie gerissen werden muss und wie gerissen sie zu sein haben. Das findet heutzutage reißenden Absatz.

Menschen dienen in diesem Krieg als illustres Zahlenmaterial gelungener oder misslungener Verwertung. Nicht als individuelle Schicksale interessieren jene. Was interessieren soll, ist, ob sie anpassungsfähig sind oder nicht. „Man darf den Leuten nicht mehr vormachen, dass sie ganz sichere Jobs haben.“ Man habe sich „unberechenbaren Karriereläufen“ zu fügen. Dass diese immer mehr unberechenbare Leute schaffen, wen schert’s?

Das alles wird als Selbstbestimmung verkauft. Es beginnt nun, so der Ideologe, die „Selfnesswelle – die Menschen wollen lernen, sich selbst zu verändern.“ Was nichts anderes bedeutet, als dass sie sich den ökonomischen Anforderungen auszuliefern haben. Dass sie wollen, was sie sollen. Die Menschen sollen sich zwar fürchten, und sie sollen der Furcht entsprechend handeln, aber sie sollen sich jedes leidvolle Spüren oder gar Erfassen der Angst verbieten. Nicht die Furcht ist zu bekämpfen, sondern das Bewusstsein von ihr. Die Angst ist als Naturgegebenheit wollüstig hinzunehmen. Immer feste ran beim Hauen, Stechen, Rempeln, so das unmenschliche Credo der Konkurrenz. Jede Zumutung wird zur Chance, kein Schrecken, der nicht umgedeutet werden kann. Mitleid oder gar Solidarität sind etwas, dessen wir nicht bedürfen. Da gibt es kein Abwägen und keine Milde. Nur nix lamentieren, wer attackiert wird, soll attackieren. Ja, man muss, so Mister Horx, „die Karriereabsturzängste überwinden“ und „Entängstigungsstrategien“ entwickeln.

So ganz geheuer scheint das alles aber nicht einmal dem Überbringer solcher Botschaften zu sein – oder geht bloß die Sprache mit ihrem Autor durch, verrät sie mehr als er zu sagen hat? Jedenfalls schreibt er: „Unternehmen müssen sich auch daran gewöhnen, eine Kultur des Scheiterns zu leben.“ Zweifellos, die erleben wir täglich. Da hat er recht, wenn auch anders als er meint. Frei nach Schumpeter ist es die produktive Kraft der Zerstörung, die zusehends ihr ganzes destruktives Potenzial entfaltet. Die Kultur des Scheiterns ist heute freilich eine, die alle Sektoren der Gesellschaft betrifft.

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Mit der Verallgemeinerung der Kultur des Scheiterns und Scheiternlassens löst diese sich vom bloßen Nachvollzug so genannter ökonomischer Sachzwänge ab. Während es sich allerorten einbürgert über Leichen zu gehen, verschwimmt die Motivlage dafür. Treibt wirklich bloß wildgewordenes Effizienzdenken dazu, beim urliberalen „Streben nach dem eigenen Glück“ ohne Rücksicht auf Verluste den allerkürzesten Weg zu wählen? Oder bedarf es der fremden Opfer und der eigenen Selbstkasteiung auch, um die Zweifel am Wert des großartigen Erfolgs niederzukämpfen, nach dem die Konkurrenzsubjekte mit allen Mitteln zu streben haben? Beweisen erst die auf der Strecke Gebliebenen, dass es sich lohnt, im großen Wettbewerb mitzurennen? Ist der Weg vielleicht gar das eigentliche Ziel und die Opferung drauf und dran, zum Selbstzweck und zum wahren Inhalt warengesellschaftlicher Konkurrenz zu werden? So viel ist jedenfalls klar: Der neosozialdarwinistische „Kampf ums Dasein“ wird von den Zeitgeistideologen nicht nur als unvermeidliches Schicksal verkauft, er macht eine regelrechte Ästhetisierung durch. „Born to be wild“, das ist mehr als ein Schmachtfetzen aus der Geschichte der Rockmusik. Nicht zufällig hatte schon Nietzsche das Ideal des starken Menschen mit der Sehnsucht nach Wildheit verknüpft. „Born to be wild“, das ist der mal ausgesprochene, mal im Impliziten belassene kategorische Imperativ unserer Epoche. In den unbedingten Zwangsoptimismus mischt sich nicht nur nackte Verzweiflung, sondern auch Lust an Zerstörung und Untergang.

Sozialpsychologisch betrachtet, steigert sich die Warengesellschaft gerade in einen Zustand hinein, der ganz fatal an die Funktionsmechanismen von Sekten erinnert. Der Glaube an Arbeit und Ökonomie als eine allgemeinen Wohlstand und Glück spendende Kraft hat nicht nur längst die Struktur eines gegen alle Dementis resistenten, geschlossenen Wahnsystems angenommen; auch die Formen der Repression sind kaum mehr von den Methoden zu unterscheiden, mit denen bis dato vor allem so menschenfreundliche Organisationen wie die Moon-Kirche oder die Scientologen ihre Anhänger bei der Stange gehalten und psychisch ruiniert haben. Wer heute in die Fänge der neuen Unternehmenskultur oder der Arbeitslosenverwaltung gerät, hat permanent auf Trab zu sein und die eigene Rührigkeit beständig unter Beweis zu stellen. Nur keinen Moment das Hamsterradtempo verlangsamen und den Delinquenten Zeit zum Denken und Atmen lassen. Sie oder er sieht sich einem konsequent individualisierten, zusehends auf den „ganzen Menschen“ gerichteten Druck ausgesetzt. Jeder geäußerte Zweifel am Selbstbehauptungszwang, jedes Innehalten kann verdächtig machen. Für Misserfolg gibt es nur einen Grund: persönliche Defizite. Wer das anders sieht, ist entweder Sozialromantiker oder charakterschwach. Der Vormarsch der Esoterik, ihr Eindringen als positives Denken und Flagellantentum in die offizielle kapitalistische Kultur ist denn auch kein Randphänomen, sondern Indikator dafür, wie weit die kapitalistische Gesellschaft mittlerweile auf ihrem langen Weg vorangekommen ist.

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Der Schwerpunkt dieser Ausgabe, Subjekt- und Metaphysikkritik, scheint auf den ersten Blick von allen aktuell brisanten Fragestellungen eher weg zu führen. Wer die Metamorphose der Arbeits- und Warengesellschaft zur planetaren Sekte nicht nur polemisch versteht, sondern analytisch ernst nimmt, dem tut sich indes eine etwas andere Perspektive auf. Die Transformation der kapitalistischen Gesamtgemeinde in einen öffentlichen Sektenzusammenhang verweist auf den metaphysisch religiösen Charakter des Kapitalismus überhaupt, und genau diese Tiefendimension muss gesellschaftskritische Theorie mit ausleuchten, will sie gegen den kapitalistischen Irrsinn auf der Höhe der Krisenzeit Front machen.

„Kapitalismus ist Kult!“, plärrt der Zeitgeist seit den Tagen der Voodoo-Ökonomie. Ernst Lohoff sieht das auch so, allerdings nicht affirmativ, sondern kritisch. In seinem Beitrag, Die Verzauberung der Welt, fragt er nach den religiösen Wurzeln des warengesellschaftlichen Weltbezugs und wird beim christlichen Gottesverständnis fündig. Die spezifische „Welt-Fremdheit“ und Sinnenfeindschaft des „unbewegten Bewegers“ hat Eingang in das Selbstverständnis und in die gesellschaftliche Praxis des modernen Menschen gefunden. Lohoffs „Skizze der Subjektform und ihrer Konstitutionsgeschichte“ versucht den Weg sichtbar zu machen, auf dem das geschehen konnte. Das Augenmerk dieser Spurensuche richtet sich zunächst auf den philosophischen Diskurs von Descartes bis Kant. Rationalismus und Aufklärung sind wesentlich als die geistesgeschichtliche Zusammenfassung und Konsequenz eines Prozesses der „ursprünglichen Entleibung“ zu verstehen, eines Prozesses, der die Grundlage der modernen Subjektform gelegt hat. Auf diesem Fundament konnten die großen politischen Diesseitsreligionen, der Nationalismus und der Sozialismus, aufbauen. Mit der Formierung der Kollektivsubjekte Nation und Klasse rückte der Subjektform-Kult nicht nur näher an die alltägliche Praxis heran, er machte einen entscheidenden Gestaltwechsel durch. Der Aufsatz untersucht diesen Übergang und stößt dabei auf ganz grundlegende Gemeinsamkeiten der aufklärerischen und der gegenaufklärerischen Subjektvorstellungen.

Einen etwas anders gelagerten Ansatz der Subjektkritik entwickelt Peter Klein in seinem Artikel Die Schizophrenie des modernen Individuums. Als Wegweiser der Kritik dient ihm der von Kant geführte Nachweis, dass es sich beim freien Willen, dem zentralen Strukturelement der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Subjektform, um Metaphysik handelt. Insofern gehört diese Subjektform wie alles reine, zum Prinzip und zum Anspruch allgemeinen Geltens fortgetriebene Denken, einer eigenen Realitätsebene an, der so genannten „intelligibelen Welt“, die sich zu den Bedürfnissen der „Sinnenwelt“ schlechthin jenseitig verhält. Diese Jenseitigkeit ist vom modernen Menschen nur schwer zu verstehen – einfach deshalb, weil er ihr inzwischen unmittelbar unterworfen ist, weil die moderne Metaphysik des „Wollens überhaupt“ weitgehend sein Bewusstsein bestimmt. Für Kant war mit der Kategorie der Allgemeingültigkeit sein berühmter Imperativ verbunden: daran (und nur daran) kann der freie Wille seine Richtschnur, sein moralisches Maß haben. Für das moderne Individuum dagegen, das sich von Kind auf in lauter rechtlich definierten und standardisierten Lebenssituationen befindet, ist die metaphysische Welt der „Allgemeingültigkeiten“ geradezu realitätsbestimmend geworden – kein „Sollen“ mehr, sondern das „Sein“. Kant konnte sich noch „der Autonomie des Willens unterworfen“ erkennen, für das moderne Individuum ist das abstrakte „Ich will“, das dieser „objektiven Realität“ zugeordnet ist, selbstverständlich und unverzichtbar. Es resultiert daraus ein paradoxer Egoismus, der, ausgerechnet im Namen des „eigenen Interesses“, über die einfachsten und nächstliegenden Bedürfnisse hinwegzutrampeln pflegt. Der Darstellung dieser schizophrenen Situation, das „höchst eigene Selbst“ (Nietzsche) zu meinen, aber eben darin der eigenen Empirie entfremdet zu sein, ist der Artikel gewidmet.

In seinem Text, Schopenhauer on the Rocks, zeigt Karl-Heinz Lewed Perspektiven postmoderner Männlichkeit auf. Die Medienfigur Reinhold Messner dient dabei als Beispiel für eine die bürgerliche Gesellschaft kennzeichnende Subjektstruktur: das zwanghafte Bedürfnis nach Extremsituationen bis in den „Grenzbereich Todeszone“ (Messner) lässt sich als Manifestation des Todestriebs der männlichen Subjektmonade dechiffrieren. Die gesellschaftskritisch umformulierte Theorie Freuds dient in diesem Artikel als analytischer Hintergrund. Um das narzisstische Selbst und die fremd erscheinende Außenwelt näher zu fassen, wird darüber hinaus auf die Schopenhauersche Willensmetaphysik zurückgegriffen. Die Orientierung auf einen „Nirwana“-Zustand (Freud) bzw. auf ein „Zerfließen ins Nichts“ (Schopenhauer) stellt sich als Resultat der Absonderung in vereinzelte Einzelne heraus. Schopenhauer bringt dabei konsequent zum Ausdruck, dass die Ohnmacht gegenüber der verselbständigten Außenwelt zu einer narzisstischen Rückwendung in einen vermeintlich inneren Glückszustand führt. Gerade der „Grenzbereich Todeszone“ Reinhold Messners bringt diese Beziehung auf den Punkt. Die bewusste Inszenierung von Grenzsituationen, in denen sich das Subjekt bis in die Existenzgefährdung der „Härte des Daseins“ aussetzt, fließt in den öffentlichen Diskurs über den Umgang mit den zunehmend entsicherten Verhältnissen im kapitalistischen Krisenprozess ein.

„Kehrt der Klassenkampf auf die Bühne der Geschichte zurück?“, fragt Norbert Trenkle in seinem Aufsatz Die metaphysischen Mucken des Klassenkampfs. Die Antwort fällt eindeutig aus: Auch wenn der Begriff derzeit in der Linken eine unerwartete Renaissance erlebt, taugt er nicht dazu, die aktuellen sozialen Auseinandersetzungen im Rahmen des globalisierten Krisenkapitalismus auch nur einigermaßen adäquat zu beschreiben. Das zeigen gerade die definitorischen Verrenkungen des neuerlichen Klassenkampfdiskurses, der den Begriff der Klasse mehr oder weniger auf die gesamte Menschheit ausweitet (beispielhaft dafür steht der Begriff der „Multitude“). Darin spiegelt sich zwar das Faktum, dass der Zwang zum Verkauf der Ware Arbeitskraft mittlerweile ein allgemeiner geworden ist, doch gerade deshalb lässt sich daraus keine antikapitalistische „Wesenhaftigkeit“ ableiten. Trenkle zeigt, dass die neuen Klassenkampfstrategen die metaphysische Erhebung des „Proletariats“ zum Erlöser der Menschheit, die charakteristisch für den traditionellen Marxismus war, nur scheinbar überwunden haben. Tatsächlich wurden nur die metaphysischen Bezüge ausgetauscht. Nicht mehr die „Entwicklung der Produktivkräfte“, sondern ein ominöser „Wille“ soll die Triebkraft des zum allmächtigen Schöpfer geadelten Kollektivsubjekts sein. Diese falsche Glorifizierung der stattfindenden sozialen Kämpfe versperrt den Zugang zu der Frage, welche emanzipatorischen Potentiale und Möglichkeiten tatsächlich in ihnen stecken und wie sie weiterentwickelt werden können.

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Der Schwerpunkt Subjektkritik soll in den kommenden Ausgaben weiter verfolgt und vertieft werden. So ist geplant, die bereits in dieser Nummer begonnene Auseinandersetzung mit den Thesen von Peter Klein durch einen kritischen Beitrag von Ernst Lohoff fortzusetzen. Darüber hinaus werden wir uns aber auch wieder verstärkt der Wert- und Krisentheorie widmen und uns in diesem Zusammenhang u.a. den Fragen nach dem Verhältnis von Wissen und Wertproduktion sowie von produktiver und unproduktiver Arbeit zuwenden.

Abschließend bleibt noch der Hinweis auf das neue Buch unseres langjährigen Autors Anselm Jappe, „Die Abenteuer der Ware. Für eine neue Wertkritik“, das soeben im Unrast-Verlag erschienen ist. Das Buch bietet einen ausgezeichneten Überblick über grundlegende Fragen der Wertkritik und kann insbesondere auch als Einführung gelesen werden. Es sei unseren Leserinnen und Lesern wärmstens empfohlen.

Franz Schandl und Ernst Lohoff für die krisis-Redaktion

April 2005