31.12.2005 

White, Wild, West

Bemerkungen zum Rassismus und Sexismus der Neuen Mitte

09-2005

von Karl-Heinz Lewed

Sie kann einem schon leid tun, die Neue Mitte. Unlängst gab es doch noch alles: die innovativen Kreativ-Jobs in den Kultur- und Medienbereichen oder anderswo, das nötige Accessoire an expressiven Konsumartikeln und schließlich die Event- und Kulturindustrie, mit deren Hilfe ganz individuell am Gesamtkunstwerk „Ich“ gearbeitet werden konnte. In diese Atmosphäre passte bestens das Bild stets gutaufgelegten Politpersonals um den Medienkanzler Schröder, dessen spezielle Performance vollends die Umwandlung von Politik ins mediale Spektakel markierte.

Doch die postmoderne Inszenierungsmaschine stottert zunehmend. Kein Wunder, denn nach dem Ende der Luftnummer an den Börsen tröpfelt der Geldhahn der Simulationsökonomie nur mehr und lässt allmählich die Nachfrageschöpfung aus dem Nichts versiegen. Das Selbstbewusstsein des Konsumsubjekts zeigt sich darob auch zunehmend verunsichert. Angesichts dieses ökonomischen wie sozialen Umbruchs liegt ein Wechsel auf der kulturell-symbolischen Ebene mehr oder weniger in der Luft. Es überrascht also wenig, wenn es nun auch für diese Entwicklung Querdenker gibt, die neue Perspektiven und Sinnhorizonte erschließen, kurz Ansätze haben. Matthias Politycki ist so einer, Essayist und Dichter. Schon vor einiger Zeit publizierte er ein Manifest für einen „relevanten Realismus“, mit deren Hilfe die „leere Mitte der Gesellschaft zurückgewonnen“ werden sollte. Gegen den „kulturellen Kannibalismus“ der postmodernen Indifferenz gerichtet, sollen die „ewig Linksliberalen“ endlich wieder Standpunkt beziehen, diesmal einen „wertkonservativ“ versteht sich. Dieses Plädoyer für eine neue „Relevanz“ wurde unlängst durch eine ausführlichere Positionsbeschreibung in der „Zeit“ (Ausgabe 36/2005) ergänzt und übersteigert: Politycki diagnostiziert unter dem alles andere als ironisch gemeinten Titel „Weißer Mann – was nun?“ für das alte Europa ein kulturelles, ökonomisches, religiöses, ja sogar eine physisches Untergangsszenario: „Wir in Europa sind drauf und dran, die letzten Reste unsres eignen Jahrtausenderbes zugunsten einer grassierenden Pseudoamerikanisierung willig preiszugeben“. Diese Bedrohungsituation, explizit verknüpft mit den USA, bringt Europa aber auch ins Hintertreffen gegenüber anderen, nichtwestlichen „Kulturen“. Der sich vollziehende kulturelle Niedergang droht sich auf Ökonomie, ja sogar auf die Physis westlicher Männlichkeit auszuweiten: Ob „afrikanischer Intensität“, „karibischer“ Unmittelbarkeit, maghrebischer Potenz oder asiatischer Wirstschaftskraft, überall sieht sich der weiße Mann Versagensängsten gegenüber. Die schal wirkenden Werte der westlichen Aufklärung verbunden mit der „Hilflosigkeit der Humanisten“ bedarf eines ganz anderen Gegenmittels. Nötig sei eine „neue Verwurzelung“, eine „relevanter“ Standpunkt im „kathartischen Erschauern vor dem Jenseits“. Je aussichtloser die Situation, desto verrückter scheinbar die Gegenmittel.

Dabei sind Momente der Kritik Polityckis am postmodernen Life-Style sogar zutreffend: das Anything-goes hat menschliche Erfahrung tatsächlich bis zur Unerträglichkeit nivelliert und das Event zur allgemeinen Erfahrungsform werden lassen. Vom Verzehr einer Leberwurst bis zum Fußballspiel, vom Parteitag bis hin zum Papst-Besuch: jederzeit und allerorten herrscht die fade Banalität und seichte Selbstreferentialität der Spaßkultur. Die vielzitierte Oberflächlichkeit steht indes keineswegs für sich. Tatsächlich hat die Postmoderne nie die negative Kohärenz, d.h. das einheitliche Prinzip von Wert, Arbeit und Geld überwunden, sondern ist nur dessen vollendetster Ausdruck. Die Kategorien des Kapitalverhältnisses lagen dem bunten Schleier des Immer-Gleichen stets zu Grunde.

Hatte sich das postmoderne Alltagsbewußtsein, genauso wie die Gesellschaftstheorie, von jeder kritischen Reflexion der Gesellschaft verabschiedet, so drängen spätestens mit dem Platzen der New-Oconomy-Blase grundlegende Bestimmungen der Warenform wieder in den Vordergrund. Die Fetischform der kapitalistischen Gesellschaft wäre freilich keine, könnte sie nicht das Realkapital durch beliebig viel Verblendungskapital ersetzen. Polityckis „relevanter Realismus“ drückt einerseits den lebensweltlichen Umschwung in Richtung zunehmende Prekarisierung auch der gesellschaftlichen Mitte aus, andererseits wirft er aber auch ein Schlaglicht auf die grundsätzliche Beziehung zwischen Aufklärung, Gegenaufklärung und Postmoderne.

Die Kritik an der Postmoderne vom Standpunkt der Moderne mit ihrer vergeblichen Suche nach einer neuen Ethik, nach einer authentischen Aufklärung, einer richtigen Moral oder der wahren Freiheit des Einzelnen will nicht wahrhaben, dass diese Ideale in der Postmoderne längst verwirklicht sind. Der Kaiser ist nackt und das bloße Hinzuphantasieren von Kleidungsstücken macht die Kritik so illusionär, insuffizient und letztlich kraft- wie perspektivlos. Diese Schwäche des alten Aufklärungsstandpunkts ist nicht zuletzt ein Motiv für das Umschlagen in ihr eigenes Gegenteil. Polityckis Positionsbestimmung dokumentiert diesen Prozess geradezu paradigmatisch. Mit nahezu allen aus der Gegenaufklärung bekannten Mustern des Sexismus, Rassismus und Sozialdarwinismus will er dem weißen männlichen Subjekt wieder Leben einhauchen. Das durch die Postmoderne erreichte Ende der Aufklärung führe zu einer allgemeinen und „epochalen Erschöpfung der gesamten Alten Welt“, die er, ganz persönlich, in seiner „weißen Haut(!) zu spüren“ vermeint. Angesichts der Bedrohung der eigenen Waren-Existenz stammelt man sich mit klischeehaftester Phraseologie aus postmoderner Langeweile in das Gegeneinander kulturell grundsätzlich getrennter Zivilisationskreise. Huntington lässt grüßen.

Statt die grundlegenden Fetischformen der (Post-)Moderne zu reflektieren, verfällt Politycki selbst dem mystischen Denken. Die Mechanismen dieser Dialektik sind allzu bekannt: auf die Ohnmacht folgt die Projektion. In der Konstruktion eines kulturell Anderen – je nach Bedarf ist es der sanftmütige, edle Wilde oder der kraftstrotzende, potente Barbar – wird versucht, die Ängste eigener Subjektivität an einem äußeren Gegenüber festzumachen und damit unter Kontrolle zu bringen. Diese Psychomechanik hat in der Moderne eine ziemlich angestaubte aber deswegen nicht minder wirksame Tradition. Schon Montaigne verknüpfte im 16. Jahrhundert angesichts des europäischen Kolonisationsprozesses die als fremd erlebten sozialen Beziehungen mit der Projektion ihres vermeintlich vitalen Gegenteils. In diesem Spannungsverhältnis diente ihm die Figur des „Wilden“ zur Projektionsfläche verdrängter Wünsche. Die „Wilden“ galten der westlichen Vernunft ehedem schon als diejenigen, die „die wahren, tauglicheren und ursprünglicheren Kräfte und Eigenschaften“ besitzen, die in „jenen lebendig und mächtig sind“ (Montaigne). An dieser Psychomechanik hat sich bis heute wenig geändert: das männliche Warensubjekt imaginiert sich, angesichts der Krise seines Universums, immer noch die Welt des Ursprünglichen, Eigentlichen und Vitalen als neuen Kraftquell. Auch der andere Pol der Projektion, d.h. das Dingfestmachen des Schuldigen, ist nicht gerade neu. Hier befindet sich Politycki im Bannkreis rechter Zivilisationskritik des letzten Jahrhunderts: europäische Kultur versus amerikanische Zivilisation. Angesichts der existentiellen Situation gilt es, das an sich überlegene kulturelle Erbe Europas gegenüber dem von Amerika induzierten Verfall mit männlich-ursprünglicher Vitalität anzureichern und zu stärken, die in den „Natur“ gebliebenen Kulturen noch präsent sein soll.

Doch, auch wenn im sozial-ökonomischen Krisenprozess die Neue Mitte immer offener ihren latenten Rassismus, Sexismus und auch Antisemitismus artikuliert, eines bleibt historisch obsolet: es wird keinen politischen Willensakt des Westens mehr geben, der mit der Mobilisierung eines gegenaufklärerischen Eigentlichen noch einmal eine Renaissance der europäischen Nationalstaaten initiieren könnte. Eine derart formierende Souveränität gehört einer gerade zu Ende gehenden Epoche an. Die sich zersetzende Macht und Gewalt staatlicher Souveräne wird aber in den poststaatlichen Konflikten nicht minder destruktiv ersetzt durch die substaatliche Zusammenfassung von entsicherter männlicher Subjektivität. Einen ideologischen Pflasterstein in diese Richtung gelegt zu haben, darauf kann sich Matthias Politycki tatsächlich etwas einbilden.