Kritische Anmerkungen zur Broschüre „Finanzkapitalismus – Geldgier in Reinkultur!“, herausgegeben von ver.di, Oktober 2007
Herausgeber: Finanzkapital AG beim ver.di-Bezirk Stuttgart
1.) Die Broschüre erweckt den Eindruck, es gäbe ein „nicht so schlimmes“ Kapital und ein „geldgieriges“ Finanzkapital. Auf Seite 2 heißt es zunächst noch richtig: „Kapital einsetzen und mit einem maximalen Profit zurückbekommen – das ist Grundprinzip kapitalistischen Wirtschaftens. Jeder Unternehmer verfährt so.“ Doch unmittelbar danach wird diese Erkenntnis zurückgenommen – mit schwerwiegenden Folgen. Nun wird auf einmal „den Unternehmern“ in der so genannten Realwirtschaft unterstellt, sie hätten „noch einen Bezug zu den arbeitenden Menschen“. Während sich „der Fondsmanager“ von ihnen angeblich dadurch unterscheide, dass für ihn „arbeitende Menschen, die die Werte schaffen,… nur als abstrakte Kostenfaktoren vor(kommen)“.
Nun kriegen wir aber in ver.di, genauso wie die KollegInnen aus den Industriegewerkschaften, in der tagtäglichen gewerkschaftlichen Praxis vom „Bezug des Realkapitals zu den arbeitenden Menschen“ im Wesentlichen genau das mit, was das Kapital sowieso schon immer ausgemacht hat, nämlich eben „arbeitende Menschen als Kostenfaktoren zu betrachten“. Was soll also diese künstliche Gegenüberstellung? Hätte man geschrieben: „Kapital einsetzen und mit einem maximalen Profit zurückbekommen – das ist Grundprinzip kapitalistischen Wirtschaftens. Jeder Unternehmer verfährt so. Hedgefonds und Private-Equity-Fonds sind die gegenwärtig „modernste“ Form der Ausprägung dieses kapitalistischen Grundprinzips.“ – so hätte man erstens eine klare und nachvollziehbare Aussage getroffen, sich zweitens die schon rein logische Verwirrung zwischen „schlechten“ und „weniger schlechten“ Kapitalisten, die aber doch alle irgendwie nach dem maximalen Profit streben, erspart und drittens den allgemeinen Charakter der neuesten finanzkapitalistischen Erscheinungen einigermaßen auf den Punkt gebracht.
Das Festhalten an dieser Konstruktion lässt hingegen vermuten, dass hier unterstellt, wird, das Kapital sei „früher“, als es noch nicht so viel Finanzkapital gab, irgendwie humaner oder doch wenigstens nicht so inhuman gewesen. Damit wird jedoch ein idealisiertes Bild des fordistischen Nachkriegsbooms zwischen Beginn der 50er und Beginn der 70er Jahre und der „sozialen Marktwirtschaft“ (auf die sich dieses Früher im Wesentlichen bezieht) zum Maßstab gemacht und dabei übersehen, dass es sich um eine historische Ausnahmesituation gehandelt hat, in der die Realökonomie expandierte wie nie zuvor. Die Hoffnung, man könne diesen historischen Ausnahmezustand mit einer „richtigen Politik“ heute wieder herstellen, ist jedoch auf Sand gebaut, was im Folgenden erläutert wird.
2.) Die zentrale These der Broschüre und gleichzeitig ihre grundlegendste Fehleinschätzung findet sich auf Seite 21: “Dass die Finanzmärkte heute immer dominanter werden, ist kein Sachzwang, sondern Folge politischer Weichenstellungen.“ Stimmte diese Analyse, so wäre allerdings von einer Verschwörung oder jedenfalls einer rein politisch-ideologisch motivierten Richtungsentscheidung in den Hinterzimmern der Macht auszugehen, die seit ungefähr Mitte der 70er Jahre praktisch auf dem gesamten Globus wirksam wurde – und genau in dieser Perspektive beschreibt die Broschüre ja auch für die Bundesrepublik die Politik der verschiedenen Regierungen seit Helmut Schmidt.
Alle Erklärungsversuche, die davon ausgehen, dass Leute wie F.A. Hayek und Milton Friedman eine marktradikale („neoliberale“) Lehre entwickelten und ihr dann mithilfe von viel Geld, Beziehungen und einer guten Organisation in der ganzen Welt zum Sieg verholfen haben, ignorieren jedoch, dass sich diese Lehre nur auf dem Hintergrund einer tiefen Krise der keynesianistischen Regulation durchsetzen konnte, die spätestens Mitte der 70er Jahre selbst an ihre Grenzen gestoßen ist. Denn die Aufblähung der Finanzmärkte ist nicht etwa ursächlich durch die Deregulierung in Gang gesetzt worden, sondern war zunächst eine kapitalistisch „ganz normale“ Reaktion auf die Krise des Fordismus. Wie in jeder Krise wich das überschüssige Kapital, das keine ausreichenden Anlagemöglichkeiten mehr in der Realwirtschaft fand, in die Sphäre der Spekulation und des Kredits aus. Und wie in jeder Krise war dies zunächst nichts anderes als ein Krisenaufschub. Das heißt: die Krise schlug nur teilweise auf Realwirtschaft, Sozialsysteme und Lohnabhängige durch, weil das überschüssige Kapital in den Finanzmärkten ein Ventil fand und deshalb nicht entwertet wurde.
Richtig ist, dass die Politik ihren Teil dazu beitrug, dieses Ventil immer weiter zu öffnen. Doch ist sie keinesfalls der Verursacher des ungeheuren Ausweichdrucks (der ständig anwächst, weil immer mehr überschüssiges Kapital angehäuft wird), sondern hat auf diesen mit einer immer weitergehenden Deregulierung der Finanzmärkte reagiert. Insofern ist die Politik in diesem Fall (und nicht nur in diesem) viel eher Gejagter als Jäger. Das heißt natürlich nicht, dass jede einzelne der Maßnahmen, wie sie in der Broschüre aufgelistet werden, unvermeidbar war. Auch ist es im einzelnen durchaus richtig, Forderungen nach einer Einschränkung der Aktivitäten etwa von Hedgefonds zu stellen. Aber darüber sollte man eines nicht vergessen: Aufs Ganze gesehen ist die gigantische Finanzblase nicht Ursache, sondern Wirkung der Krise des Fordismus, die eben keine bloß vorübergehende Krise war, sondern einen qualitativen Einbruch in der kapitalistischen Geschichte markiert. Denn sie war der Auftakt für die Entfesselung der mikroelektronischen Produktivkraftrevolution, die immer mehr Menschen in den Kernsektoren der Weltmarktproduktion für die kapitalistische Verwertung „überflüssig“ macht und daher marginalisiert und prekarisiert. Hier liegt die strukturelle Triebkraft für die immer stärkere soziale Polarisierung und die Zerstörung der Sozial- und Sicherungssysteme.
Das Finanzkapital beschleunigt zwar diese Prozesse ebenso wie die Globalisierung, ist darin aber nur Teil einer kapitalistischen Gesamtdynamik, die eine immer gewaltigere Zerstörungskraft entwickelt und immer mehr Menschen ins Abseits drängt. Wenn die Broschüre das Finanzkapital einseitig zur Ursache dieser Entwicklung erklärt, ist das also auch ökonomisch falsch.
3.) Mit der mikroelektronischen Produktivkraftrevolution wurde endgültig offenbar, dass sich der Kapitalismus des Nachkriegsbooms auch in den reichen Zentren auf Nimmerwiedersehen verabschiedet hatte: Während die Anzahl der produzierten Güter „explodierte“, „implodierte“ gleichzeitig die Anzahl der für ihre Produktion notwendigen Arbeitskräfte. Auf der anderen Seite sammelten und sammeln sich die Unternehmensgewinne an. Diese immer größeren Geldsummen können aber nicht einfach für Realgüter ausgegeben werden. Abgesehen davon, dass das „Realkapital“ bzw. dessen Eigentümer gar nicht so viel verarbeiten, vernutzen, verwahren oder „genießen“ könnten, würde das Auftreten solcher Geldmengen auf den Gütermärkten sofort eine gigantische Inflation herbeiführen.
„Immer mehr Geld strömt auf die Finanzmärkte.“ heißt es auf S. 15. Ja wohin soll es denn sonst strömen? Zum einen erwirtschaften die Unternehmen selber ja einen Teil ihrer Gewinne an den Finanzmärkten, es sähe folglich ohne sie um ihre Investitionsfähigkeit schlecht aus. Zum andern erwirbt das Geld dort Ansprüche auf künftige Gewinne, die heute schon gehandelt und sogar schon in der Gegenwart ausgegeben werden.
Außerdem werden hier Bankangestellte, Börsenmakler und viele andere Leute beschäftigt, die selber als Käufer auftreten und damit vorübergehend die Kaufkraftlücke abmildern. Aktien und andere Papiere werden in Höhen gejubelt, die von keiner realwirtschaftlichen Aktivität mehr gedeckt sind.
So wird die Weltwirtschaft schon lange nicht mehr durch die reale Produktion, sondern vor allem durch den Finanzüberbau am Laufen gehalten. Es ist gerade der viel gescholtene spekulative Sektor mit seinen Finanzblasen, der eine immer unrentabler werdende Sphäre der Produktion alimentiert und Geldmengen generiert und in Umlauf hält, wie es der produktive Bereich nie leisten könnte. Die mit rein spekulativen Finanzoperationen erzielten Gewinne sind mittlerweile ein unverzichtbarer Posten im Haushalt von Unternehmen, Staaten und Privatleuten geworden. Die enorme Staatsverschuldung der USA ist letztendlich der “Motor der Weltwirtschaft”.
Finanzspekulation lässt sich nicht von den anderen ökonomischen Vorgängen im Kapitalismus trennen und anschließend bekämpfen. „Finanzmärkte und Realwirtschaft laufen auseinander“ heißt es an anderer Stelle. Aber würde man die Spekulationskrücke entfernen, dann würde die Weltwirtschaft gar nicht mehr funktionieren. Eine isolierte Spekulationskritik geht folglich ins Leere.
Wenn man Kritik an der Ökonomie übt – und die ist nun wirklich dringend geboten – dann muss man das System mit seiner Verwertungs- und Profitlogik als Ganzes im Blick behalten. Leider ist es besonders in Krisenzeiten immer wieder zu beobachten, dass dem Alltagsverstand die Vorgänge im Kapitalismus um so suspekter erscheinen, je weiter sie sich von ihrem eigentlichen Ursprung in der Sphäre von Produktion und Arbeit fortbewegen. Während die Warenproduktion weitgehend unkritisiert bleibt, gilt das kaufmännische Kapital schon als leicht verdächtig. Dem Geldkapital wird bereits Verachtung entgegengebracht und spätestens im Falle von Hedge-Fonds und Private- Equity-Fonds bricht der blanke Hass aus. Diese spontane Denkweise des Alltagsverstands läuft auf die Trennung zwischen einem bösen „raffenden“ und einem guten „schaffenden“ Kapital“ hinaus – ein Bild, dass die Propaganda der Nazis bekanntlich (mit sehr großem Erfolg!) popularisiert hat.
4.) Eine gängige Argumentation lautet, mit dem Begriff der „Heuschrecke“ sei ja nur der strukturelle Vorgang gemeint, wonach die Private-Equity-Fonds „über Unternehmen herfallen, sie häufig faktisch ausplündern sowie Arbeitsplätze vernichten und sie nach kurzer Zeit wieder verkaufen.“ Doch auch dieser Vorgang ist alles andere als neu. Dass Kapital dahin fließt, wo der höchste Profit zu erwarten ist, diesen zu realisieren sucht und sich danach „ohne jede Rücksicht auf Verluste“ entweder anderen Betätigungsfeldern widmet oder die Ausbeutungsrate am gerade bearbeiteten Objekt noch einmal zu steigern sucht – dies ist dem Kapital immanent. Neu ist lediglich, dass unter den Bedingungen globaler mikroelektronischer Vernetzung immer größere Teile des Kapitals diese ihm innewohnende Tendenz in wesentlich schnellerem Tempo und wesentlich „effektiver“ realisieren können als zuvor (quasi „gleichzeitige“ Präsenz überall auf dem Globus). Auch hier wäre es also richtig, darauf zu verweisen, dass der moderne, informationstechnisch enorm aufgerüstete und globalisierte Kapitalismus seine Grundtendenz heute nur umso radikaler ausleben kann, anstatt das vermeintlich gute produktive dem schlechtem spekulativen Kapital gegenüberzustellen. Kapitalismus war noch nie ohne Spekulation, Zins, Banken und Finanzkapital zu haben. Er ist es heute umso weniger. Auch die Privatisierung des Gewinns und die Vergesellschaftung des Risikos waren im Übrigen schon immer charakteristisch für die kapitalistische Wirtschaft. Hedgefonds und Private-Equity-Fonds sind auch insofern nichts wirklich Neues unter der Sonne. Neu ist allein das Ausmaß der Krisenhaftigkeit und der destruktiven Potenz des modernen Kapitalismus. Angesagt ist folglich keine isolierte Kritik „des Finanzkapitals“, sondern eine fundierte Kritik des globalisierten Kapitalismus, der unser aller Lebensgrundlage auf vielfältige Weise immer mehr zerstört.
5.) Schon der erste Satz des Textes macht eine gefährliche Verengung der Sichtweise auf das Thema deutlich: „Wir alle haben einen Personalausweis.“ Das „Wir“, von dem da ausgegangen wird, ist ganz offensichtlich das Kollektiv „der Deutschen“. Ist es den VerfasserInnen der Broschüre wirklich entgangen, dass Millionen Menschen ohne die deutsche Staatsbürgerschaft in Deutschland leben und deswegen vielfältigen Benachteiligungen und Diskriminierungen ausgesetzt sind, gerade auch in den Betrieben und Verwaltungen? Ist es nicht ureigenste gewerkschaftliche Aufgabe, Solidarität zwischen Deutschen und Nichtdeutschen zu entwickeln? Stattdessen behandelt die Broschüre das Kollektiv der „Deutschen“ und „Deutschland“ als positive Bezugsgrößen: Auf Seite 17 spielen geldgierige Typen an einem einarmigen Banditen mit dem Namen „Finanzplatz Deutschland“, der Finanzminister steht untätig dabei und macht sich Illusionen. Die Karikatur wäre auch nicht wesentlich besser gewesen, wenn der Bandit „Finanzplatz Industrie“ oder „Finanzplatz Realwirtschaft“ geheißen hätte, aber es ist ihr ganz offensichtlich wichtig, mitzuteilen, wie übel eben gerade Deutschland mitgespielt wird. Auf Seite 7 wird geschildert, wie bei Cewe in Oldenburg die Übernahme durch einen Hedgefond verhindert wurde. Statt nun zu schlussfolgern, was nahe läge, nämlich dass die Absichten eines Hedgefonds von der Belegschaft oder in diesem Fall wohl eher vom Management durchkreuzt wurden, wird das Resümee gezogen: „Diesmal hat noch Oldenburg gegen New York gewonnen“. Das Management eines mittelständischen Betriebes steht also für „Oldenburg“, das Finanzkapital für „New York“: „wir“ werden von „New York“ bedroht, das gute Deutschland muss gegen den Angriff der bösen USA verteidigt werden. Auf Seite 20 wird von der „Unterwanderung des Rheinischen Kapitalismus“ geredet, auch dieses Bild unterstreicht, dass es sich um etwas handelt, was „von außen“ auf „uns“ zukommt und „unseren“, offenbar irgendwie „besseren“ Kapitalismus beseitigen will. Wenn auf Seite 24 gefordert wird, das Geld solle wieder „verstärkt in die inländische (wohl verschämt für: deutsche) Produktion statt auf internationale Finanzmärkte“ fließen, wird auch hier der positive Bezug auf das nationale Kollektiv deutlich. Was aber in einer globalisierten Welt überhaupt noch „inländische“ oder „deutsche“ Produktion sein soll, kann ja wohl niemand mehr rational erklären.
6.) Auf einen weiteren Aspekt in diesem Zusammenhang, der eine unmissverständliche Positionierung der Gewerkschaften erfordert – wenn das auch den Rahmen der Debatte um diese Broschüre sprengt – möchten wir wenigstens hinweisen: Auf Seite 2 heißt es „’Deutschland ist Profiteur der Globalisierung’, sagt Finanzminister Steinbrück. Das ist nicht ganz richtig, denn Profiteure sind deutsche Unternehmer.“ Dagegen bleibt festzuhalten, dass auch nicht wenige deutsche Arbeitnehmer Profiteure der Globalisierung sind. Der Umstand, dass Deutschland „Exportweltmeister“ ist – und gerade ver.di wird ja zurecht nicht müde, auf diesen Sachverhalt hinzuweisen, wenn es um die Abwehr des Ansinnens geht, wonach die Gewerkschaften im Interesse der Konjunktur Lohnzurückhaltung üben müssten – beschert nicht wenigen Leuten in Deutschland einen Arbeitsplatz und einen im internationalen Maßstab gesehen relativ hohen Lebensstandard.
Beides wäre gefährdet – und das weiß auch die Mehrheit der Bevölkerung wie der Gewerkschaftsmitglieder ziemlich genau – wenn internationale Konkurrenten Deutschland diesen Titel streitig machen würden. Geht es den Gewerkschaften also um die Verteidigung des Standorts Deutschland oder geht es ihnen um internationale Solidarität der Lohnabhängigen?
7.) Was heißt das alles für die Gewerkschaften? Mit Sicherheit nicht, sich dem Schicksal ergeben, „weil man ja doch nichts machen kann“. Ebenso wenig, dass man auf abstrakte „Revolutionspropaganda“ umschalten sollte. Es bleibt uns nichts, als das zu versuchen, was wir sowieso im Wesentlichen noch machen (aber bitte mit größerer Verve, nur das ist wieder ein anders Thema): Notwehrmaßnahmen gegen die schlimmsten Zumutungen ergreifen, nach Möglichkeit Grenzen setzen und dort, wo es möglich ist, auch Verbesserungen durchsetzen, seien sie auch zeitweilig und brüchig. Insofern ist es natürlich prinzipiell richtig, Forderungen an den Staat zu stellen. Wir sollten uns dabei allerdings vor der Illusion hüten, es könne wieder einen politisch regulierten Kapitalismus nach dem Vorbild der 50er und 60er Jahre geben. Diese Zeiten sind vorbei. Angesagt ist Gegenwehr unter den Bedingungen eines zunehmend krisenhaften Kapitalismus. Deswegen ist es für die Gewerkschaften überlebensnotwendig, ihre tagtägliche konkrete Arbeit mit der Verbreitung einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik zu verbinden. Eine isolierte Kritik des „Finanzkapitalismus“ muss dagegen oberflächlich und falsch bleiben, sie bedient, wenn auch ungewollt, nicht die Kritik, sondern das Ressentiment. Auffallend ist – nebenbei bemerkt – auch der deutliche Kontrast zwischen dem oft genug staatstragend-zurückhaltendem Auftreten der Gewerkschaft in der Praxis und der scheinbar so radikal daherkommenden Polemik gegen das Finanzkapital, die in diesem Lichte besehen geradezu kompensatorischen Charakter annimmt.
8.) Bevor wir auf das – zugegebenermaßen schwierige – Thema der notwendigen Vermittlung eingehen, hier noch einige Bemerkungen zu den in der Broschüre verwendeten Karikaturen, denn sie zeigen überdeutlich, wie man es auf keinen Fall machen darf:
Der „uns“ bedrohende, aggressive Charakter der Heuschrecken ist unübersehbar und gewollt herausgearbeitet. Der verschiedentlich, auch bereits auf dem Titelblatt auftauchende, sich im Unendlichen verlierende Schwarm weckt Assoziationen an das Bild der „anschwellenden Flut“, die sich über „uns“ ergießt. Willige Helfershelfer, unschwer erkennbar als Mitglieder der Bundesregierung, rollen dieser bedrohlichen Flut den Roten Teppich aus (Seite 1), eine Szene, die nicht von ungefähr an einen Staatsbesuch erinnert: Da drängt etwas Fremdes und Bedrohliches in „unser Land“ hinein und einige verräterische Kollaborateure erleichtern ihm sein Vorhaben. Das Bild von der „Flut“ wird auf Seite 19 in abgewandelter Form bedient: Ein Tsunami aus Geldbündeln schwappt über das Land und die ängstlich flüchtenden Menschen. Wollte man sich unbedingt für dieses sowieso fragwürdige Bild entscheiden, um Funktionsmechanismen des Finanzkapitalismus zu verdeutlichen, hätte man es dabei auch bewenden lassen können. Aber nein, ganz oben auf der Flutwelle erscheint „natürlich“ wieder ein Mensch, der zähnebleckend auf ihr surft, es wird erneut – und ohne Not – personalisiert. Eine weitere Variation findet sich auf Seite 21: Da kommen drei Heuschrecken – davon die eine, um jedes Missverständnis von vornherein zu verhindern, mit Brille, Anzug und Krawatte – diesmal auch noch von Haien eskortiert übers Meer auf „unser Land“ zugerast. Und wieder machen es ihnen verräterische Helfershelfer leicht: sie zerstören den schützenden Deich, schon ergießt sich die Flut ins Land und die Heuschreckenden richten ihre starren Blicke auf die friedlich vor sich hinqualmende, ehrlich und ahnungslos arbeitende Fabrik. Das Bild auf Seite 3 macht ebenfalls in aller Offenheit klar, dass die Broschüre ständig mit Personifizierungen operiert: Drei gierige Personen, davon zwei als Menschen gezeichnet, die mittlere als Heuschrecke erkenntlich, (wie um klarzumachen, was die andern beiden in Wirklichkeit auch sind), saugen und quetschen Fabriken und Wohngebäude aus. Auf Seite 5 fehlen die Heuschrecken schließlich völlig, es sind nur noch grinsende und zähnebleckende Menschen zu sehen, die mit der Weltkugel Roulette spielen und dabei Geldstapel vor sich anhäufen. Das Bild bedient ein antisemitisches Stereotyp (dazu mehr im folgenden Absatz): Es beschreibt eine Verschwörung der „Geldgierigen“ gegen die ganze Welt. Ist es ein Zufall, dass auf Seite 9, unmittelbar unter der (bereits zum dritten Mal abgebildeten) Heuschreckenflut zu lesen ist: „Der Blackstone-Gründer Schwarzman hat 2006 ein Einkommen von knapp 300 Millionen Euro kassiert – soviel wie 9 000 Beschäftigte mit durchschnittlichem Einkommen in Deutschland.“? Selbstverständlich liegt die Assoziation in der Luft: „Diese Heuschrecke!“ Und genau so denkt es sich das Alltagsbewusstsein immer häufiger. Die Karikaturen bedienen durchgängig personalisierendes und biologisierendes Ressentiment.
9.) Was bleibt, ist das Problem der Vermittlung. Natürlich ist die alles andere als einfach, aber gerade deswegen sollten wir nicht den einfachsten Weg gehen und uns unkritisch an problematische Stimmungslagen „dranhängen“. Ja, die Heuschreckenmetapher hat sich in der letzten Zeit rasend schnell verbreitet. Aber ist sie deswegen schon gut, müssen wir sie deswegen auch übernehmen? Und vor allem können wir nicht davon absehen, wofür dieses Sinnbild steht und welche Assoziationen es weckt. Es gibt eine Geschichte auch in Bezug auf Sinnbilder, die wir immer mitdenken müssen.
Die Heuschreckenmetapher ist in Deutschland spätestens seit Veit Harlans “Jud Süß” eindeutig antisemitisch besetzt: “Wie die Heuschrecken fallen sie über uns her!” Dass die Juden Träger der „Geldgier“ seien, gehört zu den bis heute am hartnäckigsten verbreiteten antisemitischen Stereotypen. Die Kombination aus beidem bereits auf dem Titelblatt bietet geradezu ideale Andockpunkte für antisemitische Projektionen.
Wir betonen ausdrücklich, dass wir niemandem der Verantwortlichen irgendwelche Absichten in diese Richtung unterstellen. Das wäre in der Sache völlig daneben und obendrein persönlich unfair. Uns geht es um eine teilweise in der Gewerkschaft verbreitete erschreckende Unsensibilität, ggf. auch Unkenntnis, die dringend überwunden werden sollte.
Selbstredend kann eine Gewerkschaft ihren Aktiven, Mitgliedern und der Öffentlichkeit nicht nur den „nackten wissenschaftlichen Diskurs“ bieten. Hier sind Kreativität und Phantasie gefragt. Leichter wird es nicht dadurch, dass wir natürlich in unserer Arbeit vor Ort immer wieder gezwungen sind, bestimmte Personen für bestimmte Maßnahmen und Entscheidungen (z.B. den Privatisierungsversuch eines Krankenhauses) verantwortlich zu machen. Denn klar: es sind immer konkrete Menschen, die als kapitalistische Funktionsträger auftreten. Aber grundsätzlich wären z.B. Fragen wie diese zu stellen und durchaus auch zu popularisieren: „Machen wir ein Gedankenexperiment. Nehmen wir an, ein Manager würde nur 3 000 Euro im Monat verdienen und nicht mehr. Möglicherweise würde er sich in einzelnen Fällen anders verhalten. Aber könnte er grundsätzlich andere Entscheidungen treffen, als er dies heute tut?“ Die Antwort lautet natürlich Nein, denn er muss ja – bei Strafe seines „Untergangs“ und desjenigen „seines“ Betriebes die Diktate des Marktes exekutieren. Mit solchen Fragen wären wir evtl. auf dem richtigen Weg, nämlich zu vermitteln, dass es sich wirklich um Funktionsmechanismen handelt und dass es letztendlich gilt, eben diese auszuhebeln.
10.) Es ist zugegeben ein schmaler Grat, der da beschritten werden muss. Aber die Grenze muss auf jeden Fall dort gezogen werden, wo Personalisierung Gefahr läuft, Ressentiment zu fördern. Die Heuschreckenmetapher überschreitet diese Linie gleich mehrfach.
Dass die meisten Leute (noch) nicht wieder an „Juden“ denken, wenn sie von den „Heuschrecken“ hören, stimmt. Grund zur Beruhigung gibt das aber nicht. Wir verweisen auf zwei Studien:
a) Friedrich-Ebert-Stiftung: „Vom Rand zur Mitte – Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland“, 2006.
http://www.fes.de/rechtsextremismus/inhalt/studie.htm
Sie kommt zu dem Schluss, dass ca. 15 bis 20% der Deutschen Sätzen zustimmen wie diesen: „Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß“, „Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen“ und „Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns“. Die Autoren konstatieren bei ca. 8 Prozent der Nichtmitglieder und bei ca. 11 Prozent (!) der Mitglieder von Gewerkschaften stabile antisemitische Einstellungen.
b) Die Studie von Fichter/Kreis/Stöss/Zeuner im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“, ebenfalls 2006. http://www.polwiss.fu-berlin.de/projekte/gewrex/gewrex_downl.htm Die Autoren konstatieren bei ca. 20 Prozent (!) der Gewerkschaftsmitglieder ein rechtsextremistisches Weltbild. Dass diese Zahlen nicht gesponnen sind, kann jedeR immer wieder aus vielen Alltagsgesprächen heraushören. Es gibt keinerlei Grund, das auf die leichte Schulter zu nehmen.
Aber selbst wenn überhaupt niemand beim Stichwort „Heuschrecken“ an „Juden“ denken würde – wovon wie gesagt nicht auszugehen ist – bliebe die Sache hochproblematisch. Denn dieses äußerst stammtischkompatible Bild bedient die verbreitete Stimmung, wonach „wir alle“ von einigen wenigen Gierigen, die „uns“ belügen und betrügen, übers Ohr gehauen werden. Es ist unübersehbar, wie sich diese einfältige und hochgefährliche „Welterklärung“ in immer mehr Köpfen einnistet. Sie gebiert heute schon (wieder!) den Ruf nach dem starken Mann, der endlich „damit aufräumt“. Das Heuschreckenbild bedient dieses plumpe Weltbild geradezu ideal.
Dass solche Bilder „spontan“ unter den Menschen entstehen, ist schlimm genug, aber es ist noch einmal etwas ganz anderes, wenn ein Gewerkschaftsapparat diese Bilder bewusst in die Organisation hineinträgt. Die Geister, die wir damit rufen, werden wir nicht mehr los.
Bitte erkennt Eure Verantwortung und lasst es bleiben!
November 2007 Kontakt baerbel.illi@verdi.de
Link zu: Broschüre „Finanzkapitalismus – Geldgier in Reinkultur!“