Über den Zusammenhang von Islamismus und westlichen Werten
Streifzüge 44/2008
Karl-Heinz Lewed
Islamismus und Modernisierung
Im Jahre 1936 sandte Hasan al-Banna, Grundschullehrer, Gründer und Führer der Muslimbruderschaft, eine Schrift mit dem Titel „Aufbruch zum Licht“ an den ägyptischen König Faruq.1
Darin forderte al-Banna eine Neuausrichtung, ja eine Wiedergeburt der ägyptischen Nation:
Nur durch die Stärkung der „arabischen“ und „islamischen Einheit“ könne die „verlorene Unabhängigkeit und Souveränität“ gegenüber dem Einfluss des verkommenen Westens wiedergewonnen werden. Zeitgeschichtlicher Hintergrund war die damalige Loslösung Ägyptens von englischer Kolonialherrschaft und die Ausrufung nationaler Souveränität. In seinem Traktat verknüpfte al-Banna die Ideologie des „Erwachens der Nation“ mit einem strikt politisch formulierten Programm, das nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche umfasste, von Justiz und Verwaltung bis hin zu Bildung, Sozialwesen und Ökonomie.
Wenn man einmal von der Anrufung Gottes als politischer Legitimationsinstanz absieht, unterscheiden sich die dort formulierten Leitlinien in keiner Weise von der ideologischen Programmatik der Disziplinierung und Formierung, die die Durchsetzung der Moderne insgesamt begleiteten. In der modernistischen Strömung des Islamismus, deren wichtigster Repräsentant die Bewegung der Muslimbruderschaft in Ägypten war, wurde der Prozess der Modernisierung und Säkularisierung bloß im Vokabular eines religiös gewendeten Fundamentalismus formuliert. Bei der totalitären Programmatik des Islamismus handelt es sich also um nichts anderes als um die „islamische Variante des modernen ‚Zeitalters der Ideologien’“, wie der Islamwissenschaftler Andreas Meier treffend bemerkt hat (Meier, S. 169).2 Das zentrale Ziel, das im Zuge des Modernisierungsprozesses angestrebt wurde, war – wie al-Banna proklamierte – die „Gewöhnung des Volkes an die Respektierung der öffentlichen Sitten“ (zit. nach Meier, S. 181), die „Bekämpfung derjenigen Volkssitten, die in wirtschaftlicher, moralischer oder sonstiger Hinsicht schädlich sind“ und die „Umlenkung der Massen zu nutzbringenden Bräuchen oder Korrektur jener Sitten in dem Sinn, dass sie mit dem öffentlichen Interesse in Einklang stehen“ (ebd., S. 182).
Da für die Ideologen der Modernisierung die durchgreifende Unterwerfung aller Lebenszusammenhänge unter die Logik der modernen Form auf der historischen Tagesordnung stand, versuchte man die hergebrachten Sitten bis in die letzten Winkel hinein aufzulösen und durch neue, an der Moderne orientierte zu ersetzen. In diesem Sinne formulierte al-Banna eine Vielzahl reglementierender Anweisungen, Gesetze und Verordnungen, die noch die feinsten Verästelungen alltäglicher Lebenspraxis betrafen. So forderte er beispielsweise die „Festsetzung der Öffnungs- und Schließungszeiten für die öffentlichen Cafes“ und die „Kontrolle der Aktivitäten ihrer Besucher und ihre Anleitung zu nützlichen Beschäftigungen anstatt die viele Zeit zu verschwenden“ (ebd., S. 182). Diese von ihm so genannten „praktischen Schritte“ des national-religiösen Erweckungsprogramms lesen sich über weite Strecken wie schwarze Pädagogik im Sinne der Disziplinierung des neu zu bildenden Nationalkörpers. Wie bei allen Modernisierungsbewegungen war dieser Formierungsprozess ideologisch bezogen auf einen „höheren“ und sinnstiftenden Zusammenhang der Nation, nur mit dem Zusatz einer in Gott verbürgten Souveränität. Das Disziplinierungsprogramm der Muslimbrüder wurde deswegen auch ergänzt durch einen irrationalen Rahmen „spirituelle(n) Empfinden(s) …, welches die Nation (umma) bei ihrem neuen Erwachen beflügeln muss“ (ebd., S. 180).
Freiheit versus Kollektivismus
Für den westlichen Aufklärungsstandpunkt bildet nun gerade die Auffälligkeit repressiver staatlicher Gewalt den Einsatzpunkt für dessen Kritik am Islamismus. In diesem scheint das gänzlich ausgelöscht, was für das westlich-aufgeklärte Denken als Inbegriff zivilisierter und fortschrittlicher Verhältnisse gilt, nämlich die individuelle Freiheit. Die repressive und totalitäre Verwirklichung einer Ideologie sei das Gegenbild westlich-moderner Gesellschaftlichkeit, die auf der Selbstbestimmung und dem freien Willen des Einzelnen gründe. Dies gelte umso mehr, wenn diese Ideologie nicht mehr wie im untergegangenen Realsozialismus ein politisches System repräsentiere, sondern sich auf religiös-regressive Traditionen stütze, die direkt einer „archaischen Hirtenkultur“ (Ralph Giordano) entstammen würden. Laut Aufklärungsstandpunkt ist die Autonomie des Einzelnen und die Vernunft der bürgerlichen Gesellschaft mit Totalitarismen aller Art gänzlich unvereinbar.
Diese Frontstellung, totalitäre Ideologie versus individuelle Freiheit, repressive Herrschaft versus persönliche Autonomie, ist indes ein Evergreen bürgerlicher Selbstlegitimierung und überdies die klassische Methode, deren eigenen Herrschaftscharakter unsichtbar werden zu lassen. Natürlich handelt es sich bei totalitären Systemen und dem dazugehörigen Kollektivismus, auch oder besonders wenn sie sich ein religiöses Mäntelchen umhängen, um repressive Herrschaftsformen. Doch der Umkehrschluss, die Kategorie des „freien Willens“ wäre dagegen der Anknüpfungspunkt emanzipativen Versprechens, verkennt völlig die innere Struktur der modernen Herrschaftsbeziehungen. Kollektivismus und Totalitarismus einerseits, abstrakte Freiheit und „ungesellschaftliche Gesellschaftlichkeit“ (Marx) andererseits gehören einem gemeinsamen und übergreifenden Bezugssystem moderner Herrschaftsverhältnisse an. Sie sind die unzertrennlichen Geschwister der modernen gesellschaftlichen Form.
Ein wesentliches Moment totalitärer Herrschaftspraxis bestand gerade darin, traditionelle Lebenszusammenhänge aufzulösen und diese durch die abstrakte Beziehungsform zwischen den „vereinzelten Einzelnen“ (Marx) zu ersetzen. An die Stelle diversifizierter Herrschaftsverhältnisse trat das abstrakte Prinzip von Ware, Arbeit und Recht, während sich der gesellschaftliche Zusammenhang in ein anonymes Verhältnis innerhalb einer homogenen Massengesellschaft verwandelte. Im Zuge der Durchsetzung der modernen Warengesellschaft trat die äußerliche Herrschaft von Staat und nationaler Politik freilich zurück, um als abstrakte Herrschaftsform des freien Willens unmittelbar mit diesen „vereinzelten Einzelnen“ identisch zu werden. Am Ende dieses Prozesses bedarf es kaum noch der staatlichen Lenkung und Kontrolle, um die Einzelnen der Diktatur von abstrakter Arbeit und abstrakter Zeit zu unterwerfen, sondern diese folgen den Vorgaben moderner Logik quasi von selbst.
Für den spezifischen Mechanismus von abstrakter Herrschaft heißt dies, dass die individuelle Form subtiler dimensioniert ist und jene deshalb viel weniger angreifbar macht als die dem Einzelnen offen gegenüberstehende staatliche Gewalt. Das moderne Individuum ist im Regelfall nicht mehr der offenen Repression unterworfen, sondern den Gesetzen verselbständigter Gesellschaftlichkeit und deren Sachzwängen, für die keiner mehr persönlich verantwortlich gemacht werden kann. Mit diesem historischen Vorsprung im Rücken konnte indes der Standpunkt individueller Selbstunterwerfung, alias bürgerliche Autonomie, die äußerliche Herrschaft der Modernisierungsdiktaturen stets als Kontrapunkt darstellen.
Nun ist der Realsozialismus zwar längst Geschichte, was jedoch überdauert hat, ist das Bedürfnis nach Legitimierung des Standpunkts individueller Freiheit. Im islamischen Fundamentalismus hat die aus Zeiten der Blockkonfrontation eingeschliffene Selbstimmunisierungsstrategie der bürgerlichen Werte einen aktuellen Widerpart gefunden. Der ständige beschwörende Hinweis auf die besondere Würde der westlichen Werte verdankt sich wohl auch dem Umstand, dass diese selbst immer repressivere Formen annehmen. In einer Zeit, in der sich das Selbstunternehmertum der Arbeitskraft verallgemeinert, trägt schließlich der Einzelne selbst das Risiko des Scheiterns und damit seiner Verelendung. Die Herrschaft der bürgerlichen Vergesellschaftung geht unvermittelt durch die Individuen hindurch und ist nicht mehr ein bloß äußeres Verhältnis zwischen Einzelnem und einem repressiven Staatsorgan. Insofern kann mit dem Bedrohungsszenario einer totalitären Herrschaft des religiösen Fundamentalismus trefflich davon abgelenkt werden, wie totalitär die westlichen Werte der Freiheit selbst sind.3
Das Panier der Freiheit ist das Gesetz
Doch gerade was die Kategorie der Freiheit und Selbstbestimmung als herausgehobenes Moment der Aufklärung angeht, bahnt sich schon seit geraumer Zeit ein Umschwung in den westlichen Gesellschaften an. Auf verschiedenen Ebenen wird eine Tendenz sichtbar, die Einzelnen strikt an die reglementierende und kontrollierende Funktion des Gesetzes rückzubinden und die Freiheit auf ihre Kerndimension, die Bindung an das Recht, zu reduzieren. Im Zuge dieser Entwicklung sieht sich die bürgerliche Subjektivität zunehmender individueller Disziplinierung und einer Stärkung öffentlicher Ordnung unterworfen. So wird die Überwachung zum Alltäglichen, die Kontrolle via Sozialsystem und Arbeitszwang zur Normalität, das Bildungssystem zur Selektionsanstalt und der politische Ausnahmezustand zum Graubereich staatlicher Praxis. Ergänzt und komplettiert wird diese äußere Disziplinierung von einer nach innen gewendeten Dimension: Man muss sich selbst härter an die Kandare nehmen, diszipliniert an Qualifikation und Profil arbeiten, sich insgesamt also möglichst stromlinienförmig dem Diktat von Angebot und Nachfrage und den repressiven Vorgaben des Marktes unterwerfen.
1989 konnte Thomas Meyer in seiner Kampfschrift gegen den „Fundamentalismus“ und der Verteidigung der Aufklärung als „kultureller Moderne“ noch schreiben: „Niemals zuvor (vor der ,Aufklärung’, K.L.) in der Geschichte der Menschheit kannte der Einzelne eine solche Befriedigung materieller Lebensbedürfnisse und solche Chancen der Ausbildung und Entfaltung seiner Persönlichkeit. Niemals zuvor hatte er wie heute die Chance der Selbstbestimmung über sein persönliches Leben und der Einflussnahme auf die gemeinsamen Angelegenheiten“ (Meyer, S. 155f.).4 Gegenüber solchem Enthusiasmus über die Segnungen moderner Vernunft und der bürgerlichen Form ist derweil Ernüchterung eingetreten.
Vor allem die Versprechungen, die das gesellschaftliche Klima der letzten Jahrzehnte entscheidend geprägt hatten, die postmoderne Lebensweltperspektive mit überall verfügbaren Möglichkeiten und Chancen, haben neuer Sachlichkeit und neuen Zwängen Platz gemacht. Die Perspektive individueller Selbstverwirklichung entpuppt sich angesichts von Prekarisierung, Selbstunternehmertum und sozialem Ausschluss immer mehr als Strafanstalt des abstrakten Ichs. Aus den Karriereträumen in innovativen Zukunftsbranchen ist oftmals nur eine Existenz als Call-Center-Agent, Milchaufschäumer bei Starbucks oder als 1-Euro-Jobber übrig geblieben. Angesichts der unübersehbaren sozialen Marginalisierung bestimmt den gesellschaftlichen Horizont nicht mehr das überschäumende Versprechen individueller Freiheit, sondern das Einfügen in den verbindlichen Kanon gesetzesförmiger Repression. Ob als repressive Selbstbestimmung und frei gewählte Disziplinierung oder als strenger Arm des Gesetzes.
Die Erfahrung wachsender sozialer Verwerfungen lässt das moderne Subjekt dabei aber keineswegs an der gesellschaftlichen Matrix zweifeln, in der es sich bewegt. Ganz im Gegenteil: Die individuelle Freiheit kann sich angesichts von Krise und sozialer Unsicherheit, verrückt wie sie ist, sogar noch als Heroismus und Standpunkt der Stärke abfeiern. Davon wusste auch schon T. Meyer: „Die Chance der Selbstbestimmung gewährt sie (die Moderne, K.L.) nur um den Preis der Auflösung aller Sicherheit … Sie setzt für die Entfaltung ihrer Möglichkeiten eben jene Ich-Stärke, Orientierungssicherheit und Selbstgewissheit voraus, deren zuverlässige und breitenwirksame Ausbildung sie ohne Absicht fortwährend untergräbt“ (ebd., S. 156). Wo immer man diese Unsicherheiten und Risiken verortet, im grandiosen Selbstentwurf seiner Existenz werden dessen Gestehungskosten deutlich sichtbar: die bedingungslose Affirmation des männlichen Durchsetzungs- und Konkurrenzsubjekts.
Gerade das Absehen und die Trennung von allen konkreten Umständen und Beziehungen ist das beständige Lebenselixier des männlichen Subjekts, und die Selbstdisziplinierung war schon immer sein intimstes Betätigungsfeld. Doch so jugendfrisch und überzeugend kommen die Versprechen des selbstbezüglichen Standpunkts männlicher Unabhängigkeit und Freiheit nicht mehr daher, wenn sich Selbstbestimmung in blanke (Selbst-)Repression transformiert. Wohin aber rettet sich die moderne, männliche Vernunft, wenn die Freiheit sich nicht mehr auf Chancen reimt, sondern nur noch auf Selbstunterwerfung? – Richtig, zum Gesetz.
Dass der Inbegriff der Freiheit nicht individuelle Möglichkeiten und Chancen meint, sondern auf Recht und Gesetz zielt, mag für die postmoderne Subjektivität verblüffend klingen. Die Rechtswissenschaft, die die Gesellschaft als quasi naturgegebenen, gesetzesförmigen Zusammenhang reflektiert, wusste dies freilich schon immer. Der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang von Böckenförde hat diese Grundeinsicht jüngst erst noch einmal fürs Stammbuch der Kämpfer für Aufklärung und westliche Kultur wiederholt. Als die geplante Errichtung einer Moschee in Köln-Ehrenfeld zum „Kulturkonflikt“ zwischen „Westen“ und „Islam“ hochstilisiert wurde, ein Vorgang, der bundesweit für mediales Aufsehen sorgte, schrieb er: „Freiheitsbezogene Gesetze, werden sie konsequent und unparteiisch angewandt, können eine neue Art von einigendem Band über einer pluralen, teilweise auseinanderstrebenden religiös-kulturellen Wirklichkeit hervorbringen: die Gemeinsamkeit des Lebens in und unter einer vernunftgetragenen gesetzlichen Ordnung, die unverbrüchlich ist. … Der wichtige Satz Montesquies: ‚Freiheit heißt, alles tun zu dürfen, was die Gesetze erlauben’ erhält auf diese Weise eine neue Bedeutung und legitimierende Kraft – das Gesetz, nicht die Beliebigkeit, ist das Panier der Freiheit“ (Böckenförde, S. 142).5
Wenn Chancen und Möglichkeiten, also die Pluralität der Beliebigkeit, nicht mehr das Medium sind, in dem sich Freiheit verwirklicht, weil die Integrationskraft des warenförmigen Zusammenhangs schwindet, so offenbart sie ihren repressiven Kern: Sie gründet „unverbrüchlich“ im Gesetz. Der Bezug auf das „einigende Band“ der Gesetzesform bedeutete aber schon immer auch repressive Selbstzurichtung unter staatlicher Kontrolle. Die Aufklärungsvernunft war in ihrer Durchsetzung stets nicht nur rein formales Gerüst in der Beziehung der Einzelnen, sondern auch inhaltliches Programm der Disziplinierung. Die besondere Errungenschaft der bürgerlichen Vernunft bestand und besteht dabei in der Freiheit, sich dieser Gesetzesform in freier Selbstbestimmung zu unterwerfen,6 ergänzt durch entsprechende staatliche Kontrollmechanismen. In dieser Weise stimmen dann Freiheit und Gesetzlichkeit überein. Eine wahre Großtat emanzipativen Versprechens.
Das Fundament im Sturm der Aufklärung
Darin schließt sich indes der Kreis zum Islamismus, dessen Ausrichtung wesentlich durch die Orientierung an den „islamischen“ Gesetzesvorschriften und der damit verknüpften Moralisierung, Disziplinierung und Kontrolle gekennzeichnet ist. Den Bezugsrahmen der Gesetzgebung und der allgemeinen Prinzipien bildet allerdings nicht die von der Aufklärung geltend gemachte abstrakte Vernunft, sondern diese ist aufgehoben in einem größeren kollektiven Zusammenhang der umma, also der Gemeinschaft der Gläubigen.7 Der gesetzliche Kanon, der die Lebenswirklichkeit regulieren und ordnen soll, wird damit gleichzeitig auf ein festes Fundament einer höheren Sinnsphäre bezogen. Thomas Meyer hat in seinem Kulturalismus-Essay merkwürdig offenherzig den Fundamentalismus als eine der modernen Vernunft immanente Fluchtbewegung aus Freiheit und Selbstbestimmung bezeichnet und damit deren wechselseitige Beziehung durchaus eingeräumt: All denjenigen, so schreibt er, die sich dem Fundamentalismus „ergeben haben“, sei gemeinsam „die Weigerung, die Zumutungen von Aufklärung und Moderne … als Gesetz ihres Denkens und ihres Lebens anzunehmen … Der Sturm, welcher des Menschen Geist durch die in der Aufklärung auf sich selbst zurückgewendete Denkbewegung entfacht und in den Umwälzungen der Moderne, in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Lebenswelt vertausendfacht und in jeden Winkel der menschlichen Existenz gelenkt hat, hat nach und nach fast alles hinweggefegt, womit sich die Menschen zum Schutz gegen Kälte, Unwirtlichkeit und Ohnmacht umgeben hatten“ (Meyer, S. 8, Hervorheb. K.L.). Bei all der zur Schau gestellten Differenz des hell erstrahlenden Aufklärungsstandpunkts gegenüber dem finsteren Fundamentalismus wird also durchaus eingeräumt, dass mit der modernen Vernunft alles andere als eine stabile und ihrer selbst mächtige gesellschaftliche Form installiert wurde, ja dass dessen „Zumutungen“ und die produzierte „Ohnmacht“ geradezu nach einem festen Fundament drängen. Insofern ist die aufklärerische Opposition zum „Islam“ durchaus ambivalent. In projektiver Weise ist er auch das, was man als Eigenanteil nicht zulassen darf. Insofern blickt man gewissermaßen mit „Phantomschmerzen“ und „eine(r) gute(n) Portion Identifikation mit dem vermeintlichen Aggressor“ (Leggewie in: Sommerfeld, S. 228) auf seinen Gegenüber.
In dem schon angesprochenen „Kulturkampf“ um die Errichtung einer Moschee in Köln kommt dies besonders deutlich zum Ausdruck. Der Stein des Anstoßes, die Moschee also, wird hierin als ein starkes Symbol für ein feststehendes Fundament religiösen und identitären Eingebundenseins wahrgenommen, das dem bedrohlichen Gegenüber zukommt, das einem selber aber abgeht. „In der Empörung gegen ihn steckt auch verstohlener Neid“. Der Fundamentalismus ist der große „Versucher der modernen Welt“, wie C. Türke meint.8 In der Kritik am steinernen Fundament der Moschee externalisiert die Vernunft des westlichen Kulturkämpfertums die eigenen nicht eingestandenen Wünsche und Sehnsüchte. Es liegt wohl alles andere als fern anzunehmen, dass dem post-postmodernen Werte-Subjekt das Fundamentale der muslimischen Sakralbauten dazu dienen könnte, den vermeintlich eigenen symbolischen Kanon christlicher Tradition als Grundlage seines Daseins wieder zu entdecken und anzurufen. War nicht Petrus, also der „Stein“, „Fels“, das Fundament, auf dem Jesus Christus seine Gemeinde bauen sollte? Mit der Verallgemeinerung dieser Grundsteinlegung ließe sich dann der Streit zwischen abendländisch-christlicher Kultur und islamisch-archaischer „Hirtenkultur“ auf einem neuen Niveau führen. Derweil bleibt den Kulturkämpfern der Aufklärung immerhin die Disziplinierung und Unterwerfung unter das einigende Band des Gesetzes. Auf dieser Ebene sind die Islamisten und der Vernunftstandpunkt schon mal Brüder im Gesetze und in der Freiheit.
Anmerkungen
1 http://www.2muslims.com/directory/Detailed/227102.shtml
2 Meier, Andreas (1994): Der politische Auftrag des Islam. Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen. Originalstimmen aus der islamischen Welt; Wuppertal.
3 Siehe dazu die Beitrage in krisis 26 und krisis 27, die sich ausführlich der Kritik moderner Vernunft und der Aufklärung widmen; www.krisis.org.
4 Meyer, Thomas (1989): Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne; Hamburg.
5 Böckenförde, Ernst Wolfgang: Säkularer Staat und Religion. In: Sommerfeld, Franz (2008): Der Moscheestreit. Eine exemplarische Debatte über Einwanderung und Integration; Köln.
6 Bei Kant ist diese Selbstunterwerfung klar formuliert: „Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, dass er auch als selbstgesetzgebend, und eben um deswillen aller erst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen, angesehen werden muss“ (Kant, Immanuel (1998, zuerst 1788): Grundlegung der Metaphysik der Sitten, in: Werke Bd. IV, Darmstadt).
7 Siehe dazu: Lewed, Karl-Heinz (2008): Finale des Universalismus. Der Islamismus als Fundamentalismus der modernen Form; in: krisis 32; Münster.
8 Türcke, Christoph (2003): Fundamentalismus – Maskierter Nihilismus; Springe.