31.10.2008 

Finanzmarktsozialismus


von Ernst Lohoff

Panik herrscht in Wirtschaft und Politik. Das Platzen der amerikanischen Immobilienblase hat eine Kettenreaktion ausgelöst. Eine Mega-Bankenpleite jagt die nächste. Weltweit befinden sich die Börsen im freien Fall und auch die Weltkonjunktur schmiert ab. Aus Furcht vor „dem Zusammenbruch des gesamten Zahlungsverkehrs“ (Bundesbankpräsident Axel Weber) fluten die Notenbanken die Weltfinanzmärkte mit Liquidität und leihen den privaten Geldinstituten das Geldkapital, das sie einander gegenseitig nicht mehr anvertrauen. Gleichzeitig schnüren die nationalen Regierungen zur Stabilisierung der Lage ein Rettungspaket nach dem anderen und übernehmen die aufgehäuften Verluste. Die USA machten den Vorreiter, mittlerweile haben alle anderen Staaten nachgezogen, auch die Bundesrepublik. Kaum hat die Kanzlerin für den Fall aller Fälle eine Garantieerklärungen für Spareinlagen abgegeben, schon werden auf die Schnelle 480 Mrd € Unterstützung für das hiesige Bankensystem aus dem Hut gezaubert. Allein diese eine Maßnahme lässt die aufgehäufte Staatsverschuldung mit einem Satz von 63 auf 83 Prozent des BIP nach oben schnellen.

Seitdem die Finanzmärkte Ende der 1970er Jahre zu ihrem historisch einmaligen Höhenflug ansetzten, gab es zwischenzeitlich immer mal wieder Einbrüche und Rückschläge, aber keine Erschütterung erreichte auch nur annähernd die Qualität und Reichweite des derzeitigen Kriseneinbruchs. Diesmal hat es nicht eine spezielle Weltregion erwischt, wie bei der Asienkrise 1997 und auch nicht einen einzelnen Sektor wie beim Absturz der New Economy, vielmehr ist der gesamte, in drei Jahrzehnten aufgetürmte Finanzüberbau ins Rutschen geraten, und zwar weltweit gleichermaßen. Selbst wenn die gigantische Spontan-Verstaatlichung des notleidenden Finanzkapitals die „Kernschmelze“ erst einmal verhindern und die ökonomische Abwärtsspirale bremsen sollte, das Gesicht des Kapitalismus hat sich im Herbst 2008 irreversibel verändert. Ein Krisenmanagement, das kurzfristig „das Schlimmste“ abzuwenden versucht, schafft Fakten von langfristiger Tragweite, ja historischer Dimension. Dass die Staaten die Lasten, die sie gerade auf ihren Schultern auftürmen, später wieder los werden könnten, ist pures Wunschdenken. Der Kulminationspunkt ist überschritten, der das Zeitalter des „fiktiven Kapitals“ in zwei Etappen scheidet. Das große private Reichrechnen, das die Aktienindizes zu immer neuen Rekordmarken trieb und dabei den Finanzmarkt der USA gegenüber 1980 auf das Fünfundzwanzigfache anschwellen ließ, sind Geschichte. Eine neue Ära hat begonnen, die im Zeichen langanhaltender Entwertungsprozesse und finanzmarktsozialistischer Notstandsverwaltung steht.

Was Marx schon für die zyklischen Krisen des 19. Jahrhunderts herausgearbeitet hat, gilt für das Weltwirtschaftsbeben unserer Tage umso mehr: die großen akuten Krisenschübe nehmen zwar stets von den Finanzmärkten ihren Ausgang, die eigentlichen Ursachen liegen aber in den Widersprüchen der sog. Realökonomie. Das Abheben des Finanzüberbaus ist Symptom für tiefer reichende, die Realakkumulation betreffende Prozesse.

Die laufende Debatte lässt diese strukturellen Hintergründe schon aus Gründen der Legitimationsproduktion ausgeblendet. Die Finanzmarkteskapaden müssen das Problem sein, weil der Kapitalismus selber kein Problem sein darf. In den 1990er Jahren fiel der Glaube an das kapitalistische System mit dem Glauben an die Grenzenlosigkeit der Finanzmarktdynamik zusammen. Mit dem Crash ist die einseitige Kritik von Finanzkapital und Spekulation zur alles beherrschenden Form der Kapitalismus-Apologie aufgestiegen. Bis tief ins liberale Lager hinein wird zur Verteidung der „soliden bodenständigen Marktwirtschaft“ gegen das „verantwortungslose Finanzkapital“ getrommelt.

Der Mythos von der „gesunden Realökonomie“, die von einem hyperthrophen Finanzüberbau in den Abgrund gerissen wird, stellt freilich den realen ökonomischen Zusammenhang auf den Kopf. Schon in den 1970er Jahren hatte die kapitalistische Produktionsweise mit einem fundamentalen strukturellen Problem zu kämpfen. Mit dem Auslaufen des fordistischen Booms und der einsetztenden flächendeckenden Rationalisierung im Gefolge der mikroelektronischen Revolution war ein selbsttragender Wachstumsschub, der auf realer Arbeitsvernutzung und Kapitalakkumulation beruht, unmöglich geworden. An der ökonomischen Oberfläche ließ sich das am damals viel diskutierten Phänomen der „Stagflation“ ablesen. Sämtliche westliche Ökonomien wiesen Ende der 1970er Jahre gleichzeitig niedrige Wachstumsziffern und hohe, zum Teil zweistellige Inflationsraten auf. Die Entfesselung fiktiver Kapitalschöpfung war bereits die Reaktion auf dieses fatale Lage und gleichzeitig deren provisorische Auflösung. Die Schaffung von Werten, die keine reale Verwertung mehr repräsentieren, wurde zur neuen Basisindustrie des kapitalistischen Weltsystems. Damit hängt der kapitalistische Gesamtladen auf Gedeih und Verderb am Mechanismus der Aufhäufung von Schulden und Besitztiteln. Erst diese in immer neuen Schüben erfolgte Aufblähung des spekulativen Finanzüberbaus eröffnete dem so genannten Realkapital die Wachstumsspielräume, für die es aus eigener Kraft nicht mehr sorgen konnte. Die nunmehr unisono geforderte Schließung des Kasinos hätte zu keinem Zeitpunkt die Befreiung der angeschlossenen globalen Schwitzbuden und High-Tec-Firmen bedeuten können, sondern immer nur deren Schließung.

Dieser Zusammenhang ist indes auch für die gegenwärtige Entwicklung entscheidend. Kein Zweifel: Der Kollaps der Finanzmärkte belastet heute die Realökonomie. Aber nicht in dem Sinn, wie ein mitgeschlepptes Klavier jeden Spaziergang zur Qual macht, sondern eher in der Weise wie die Explosionen von zwei, drei Triebwerken Flugzeugpassagiere belasten. Auf dem heutigen Produktivitätsniveau wäre ein Kapitalismus, der ohne aberwitzige Spekulationsbewegungen auskommen soll, eine denkbar armselige Veranstaltung.

Und wie reagiert die Politik? Die politische Klasse bedient sich derzeit einer Sprache, als sei sie geschlossen Attac beigetreten und selbst EZB-Chef Trichet fordert vehement „strengere Regeln und mehr Transparenz auf den Finanzmärkten“. Diese Rhetorik hält sie freilich nicht davon ab, ihre Praxis allein darauf auszurichten, um jeden Preis die Entleerung der geplatzten Gesamtblase zu stoppen. Die Sozialisierung des astronomisch dimensionierten Abschreibungsbedarfs und die Geldschöpfungsorgien haben nur den Zweck, den unvermeidlichen Wertberichtigungsprozess zu kanalisieren und so weit wie irgendmöglich in die Zukunft zu verschieben. In den USA werden ganz offen Änderungen in den rechtlichen Vorgaben für die Bilanztechnik diskutiert, die den maroden Banken die Verschleierung des Umfangs ihrer Verluste erleichtern sollen und auch beim bundesdeutschen Rettungspaket ist das ein integraler Bestandteil.

Was die Krisenbewältigungsstrategien angeht, weist die heutige Situation gewisse Parallelen zu der Entwicklung Japans in den 1990er Jahren auf, als das Land nach dem Kollaps der dortigen Immobilienspekulation eine gut zehn Jahre währende Depressionsphase durchmachte. Auch damals kam die Kombination von rücksichtloser Geldschöpfung, Verstaatlichung von Verlusten und kreativer Buchführung zur Anwendung. Die dortige Zentralbank ging soweit, jahrelang Geld mit negativen Realzins, also Zinsen, die deutlich unter der Inflationsrate lagen, zu verleihen. Trotzdem zeigten die geldpolitischen Maßnahmen damals kaum die erhoffte Wirkung. Das war vornehmlich darauf zurückzuführen, dass die geschöpften Gelder über den Pazifik emigrierten und dort als Anlage suchendes Geldkapital mit die amerikanische Blase speisten. Auf die japanische Realwirtschaft wirkte das nur insofern positiv zurück, als dadurch die fernöstliche Exportkonjunktur mitbefeuert wurde. Das innerjapanische Geldschöpfungsprogramm wurde Teil des pazifischen Defizitkreislaufes. Diesmal jedoch gibt es kein Außerhalb, in dem die Selbstvermehrung fiktiven Kapitals ungebrochen weiterläuft. Insofern dürfte die jetztigen staatlichen Interventionen spürbarere Konsequenzen haben als im Japan der 1990er Jahre – allerdings weniger die erhofften. In dem Maße wie die von Staats wegen geschöpfte Liquidität sich nicht als Rohstoff neuerlicher Blasenbildung in fiktives Kapital verwandelt, bereiten die staatlichen Rettungsmaßnahmen inflationären bis hyperinflationären Entwicklungen den Boden. Sicherlich hat die Politik erheblichen Einfluss auf den weiteren Krisenprozesses. Sie bestimmt jedoch nicht darüber, ob die große Entwertungsbewegung der fiktiven Werte sich fortsetzt, sondern nur über das Tempo und die Verlaufsform. Die Alternative lautet: Werden in erster Linie aufgehäufte Ansprüche und Besitztitel entwertet oder nimmt der Prozess die Gestalt der Inflation an? Die Weltwirtschaft steuert jedenfalls schnurstracks wieder dem Zustand zu aus dem sie die aberwitzige Spekulationsbewegung einst erlöst hatte, freilich auf wesentlich höherer Stufenleiter. Die Stagflation der 1970er Jahre, das Nebeneinander von Wachstumsschwäche und stetiger Geldentwertung droht als Ineinander von Depression und galoppierender Inflation wiederzukehren.