Skizze zu Wertkritik und Soziologie
Julian Bierwirth
Wertkritik als Gesellschaftskritik
In seinem Werk “Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft” stellt Moishe Postone die Behauptung auf, bürgerliche Individuen hätten analog zur Ware einen Doppelcharakter. Diesen macht er in ihrer Bestimmung als warenproduzierende und -tauschende Menschen aus: Einerseits sind es die Menschen, die hier ihre Gesellschaftlichkeit produzieren, die also handelnd ihre Welt einrichten. Andererseits sind sie den dadurch entstehenden Systemnotwendigkeiten unterworfen, die als scheinbare Naturgewalt auf sie einwirken. Sie sind also zugleich Subjekt gesellschaftlichen Handelns und Objekt gesellschaftlicher Verhältnisse.
Diese Doppeldeutigkeit bleibt ihnen im Alltag allerdings verborgen. Die Menschen nehmen sich vielmehr entweder als Subjekt oder als Objekt wahr. Einerseits imaginieren sie sich als unabhängige Individuen, die fernab jeglicher Gesellschaftlichkeit ihre Geschmäcker und Vorlieben scheinbar aus ihrem freien Willen entwickelt haben. Und andererseits werden gesellschaftliche Institutionen wie Markt oder Staat als Prozesse angesehen, die wie Naturgewalten auf die einzelnen einwirken und gegen die sich nichts unternehmen lässt.
Die kapitalistischen Subjekt-Objekte wechseln nun sprunghaft, je nach Situation und Anforderung, zwischen dem einen Mechanismus und dem anderen. Die gesellschaftliche Bedingtheit beider vermeintlich naturhaften Prozesse vermögen sie dabei ebenso wenig zu ergründen wie deren Zusammenwirken (Postone 2003, 251ff).
Die eine oder der andere kann diese Überlegungen vielleicht mit privaten Erfahrungen abgleichen und so für sich verständlich machen. Dass eben gespart werden muss, wird von manchen mit ebenso überzeugter Pose vorgetragen wie bereits im nächsten Moment auf das eigene Freidenkertum gepocht wird. Doch auch über die private Erfahrung hinaus gibt es im Feld bürgerlicher Wissenschaften durchaus Untersuchungen, welche diesem Phänomen Allgemeingültigkeit zusprechen.
Beispiel: Ideologiebildung bei Jugendlichen
Die wohl bekannteste Langzeit-Untersuchung im Bereich der Studien zum politischen Selbstverständnis junger Menschen wird vom Shell-Konzern finanziert, kann aber trotz ihres offensichtlichen Charakters als PR-Projekt als durchaus repräsentatives und wissenschaftlich fundiertes Werk angesehen werden. Die Shell-Studie 2006 macht zum einen eine auf persönlichen Erfolg gemünzte Individualisierung aus. Das Ich steht, wollen wir der Studie glauben, im Mittelpunkt des jugendlichen Interesses. 90 Prozent der Jugendlichen halten das Aussehen für einen wichtigen Faktor, 79 schätzen das Tragen von Markenklamotten für wichtig ein und 84 machen bei ihren Altersgenossen das Ziel aus, Karriere machen zu wollen. Weiterhin gelten Eigenverantwortung, viele Kontakte, Unabhängigkeit sowie Kreativität als wichtig. Wesentlich geringer fällt die Zustimmung für Selbstdurchsetzung sowie Macht und Einfluss aus. Dies deutet darauf hin, dass gesellschaftlicher Erfolg weniger als erfolgreiches Bestehen in einer Konkurrenz gesehen wird, in der auf jede Siegerin stets auch eine Verliererin zu kommen hat. Stattdessen soll die individuelle, von jeder Gesellschaftlichkeit getrennte Anstrengung als Grund für Erfolg und Misserfolg herhalten (Shell 2006, 172; 174).
Andererseits herrscht aber auch ein ganz spezieller, zu Postones Befund passender Bezug auf Politik und Staatlichkeit vor. In der Studie wird festgestellt, dass Staat und Politik zunehmend als naturhafte Entitäten gesehen werden, die objektive Anforderungen an die politisch Handelnden stellen. Die Jugendlichen bringen “den unabhängigen Institutionen in einem demokratischen Rechtsstaat, wie etwa den Gerichten oder der Polizei und interessanterweise auch der Bundeswehr, eher Vertrauen entgegen” als den Parteien, der Bundesregierung und den Unternehmerverbänden (Shell 2006, 113ff).
Es ergibt sich hier eine Hierarchisierung des Vertrauens: Grundsätzlich erhalten diejenigen Institutionen ein höheres Vertrauen, die als unabhängig eingestuft werden und für das gesellschaftliche Ganze, die Universalität, stehen sollen. Niedriger fallen die Zustimmungswerte für diejenigen Institutionen aus, die als Aktivistinnen in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wahrgenommen werden, denen also zugeschrieben wird, aus partikularem Interesse heraus das große Ganze mit Konflikten zu belasten.
Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch Alex Demirovic und Gerd Paul in ihrer Mitte der 90er Jahre veröffentlichten Studie zum politischen Selbstverständnis von Studierenden. Unzufriedenheit mit dem System politischer Partizipation wird vor allem als Frust über PolitikerInnen und “Parteienklüngel” geäußert. Diese gingen lieber ihren Partikularinteressen nach, als das berechtigte und offensichtliche Anliegen der Allgemeinheit umzusetzen (Demirovic/Paul 1996, 144ff).
Gleichzeitig verweisen die Autoren darauf, dass diese akuten Formen von Ideologiebildung stark mit politischen Vorstellungen gerade der Neuen Rechten einhergehen (Demirovic/Paul 1996, 137ff), sodass es doch als zumindest fragwürdig erscheinen muss, wenn diese Haltung als “unpolitisch” eingeordnet wird und gar als Anknüpfungspunkt für eine emanzipative, antipolitische Praxis diskutiert wird.
Methodische Anmerkungen
In den erwähnten Studien finden wir die von Postone eingeführten Kategorien geradezu mustergültig vorgeführt: die ungesellschaftlich gedachte Ideologie vom unabhängigen, autonomen Individuum einerseits, die bereitwillige Unterwerfung unter gesellschaftliche Naturgesetze auf der anderen Seite. Während die AutorInnen einigermaßen ratlos vor ihrem Zahlenwust stehen, wird eine befruchtende Re-Interpretation dieser Daten vor dem Hintergrund grundsätzlicher, kategorialer Überlegungen möglich.
Ein solches Vorgehen ist aber bislang in Kreisen, die sich an der Wertkritik orientieren, eher selten. Gerne wird die kategoriale Beschränktheit unterschiedlichster Studien und theoretischer Ansätze herausgearbeitet. Aber nur vereinzelt wird versucht, deren (empirische) Ergebnisse für die eigene theoretische Tätigkeit fruchtbar zu machen. Will die Wertkritik aber diesbezüglich über den Charakter eines gehobenen Feuilletons hinauskommen, muss sie sich wohl oder übel auf wissenschaftlich zumindest ansatzweise valides Material stützen.
Das eigenständig zu erheben, mag wiederum ein hehres Unterfangen sein, scheint aber aufgrund der zunehmenden Prekarisierung von Theoretikerinnen und der mangelnden institutionellen Einbindung in finanziell halbwegs abgesicherte Institutionen kaum möglich. Wertkritische Re-Interpretation kann hier einen Ausweg bieten. Nicht zuletzt auch für eine weitere Konzeptionalisierung der theoretischen Kategorien und deren Bedeutung sowie für eine plausible Einschätzung der aktuellen Entwicklungen.
Dies kann selbstverständlich nicht heißen, das vorgefundene Material umstandslos zu übernehmen und oberflächlich in den vorhandenen, wertkritischen Begriffsapparat einzuflechten. Zu Recht ist auf die Gefahr hingewiesen worden, damit lediglich an das Bestehende anzuknüpfen und es zu affirmieren. Da die wissenschaftlichen Techniken stets vom verwendeten theoretischen Konzept abhängen, gibt es einen Zusammenhang zwischen den Daten und diesen Konzepten (vgl. Eberle 1974, 138ff). Nur sollte dabei nicht vergessen werden, dass die Theorien nicht einfach “falsch” sind, sondern dass auch sie die Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft auf je individuelle Art reproduzieren. Sie lassen sich also selber in das obige Schema vom Doppelcharakter bürgerlicher Selbstwahrnehmung einordnen. Den WissenschaftlerInnen zerfällt “die Totalität in die Pole Individuen hier und verdinglichte gesellschaftliche Struktur dort, die nur äußerlich zusammengebracht werden können”. (Winkel 1986)
Dies gilt es bei der Re-Interpretation der Daten zu berücksichtigen. Ein wesentliches Reflexionsmoment stellt dabei die marxsche Unterscheidung von Wesen und Erscheinung dar, die sich zwar auf Platon zurückführen lässt, durch Marx aber eine qualitativ neue Bedeutung erhielt. Gemäß dieser Unterscheidung werden an der für Soziologinnen wahrnehmbaren Oberfläche der Gesellschaft die ihr zugrundeliegenden Mechanismen sowohl ausgedrückt als auch verschleiert. Postone führt diese Unterscheidung nicht zufällig im Kapitel über den Fetisch ein. Der an Marx orientierte Begriff vom Fetisch deutet darauf hin, dass gesellschaftliche Verhältnisse als dinghaft dargestellt werden. In diesen “gesellschaftlichen Beziehungen der Sachen” (MEW 23, 87) verbergen sich die “sachlichen Verhältnisse der Personen” ebenso, wie sie sich in ihnen darstellen (Postone 2003, 258ff). Die verwendeten Items bürgerlicher Forschung und die mit ihrer Hilfe erworbenen Daten verschleiern also die Realität ebenso, wie sie sie kenntlich machen.
Ebenso kann sicherlich nicht davon ausgegangen werden, dass die Ideologiebildungen umfassenden Charakter angenommen hätten. Die entsprechenden Werte auf den Skalen der angeführten Studien sind zwar hoch und bedürfen einer gesellschaftskritischen Erklärung, aber sie sind nicht total. Ganz offensichtlich gibt es Wege und Möglichkeiten, sich dem Trend zu entziehen. Dass hier ein detaillierter Blick auf qualitatives Interviewmaterial notwendig ist, soll gar nicht geleugnet werden. Vermieden werden sollte jedoch ein Verfahren, das aus der reinen Abstraktion von den Besonderheiten des zu untersuchenden Gegenstandes dessen Spezifik zu erklären versucht (Creydt 1997). Es gilt weniger die Begrifflichkeiten identitätslogisch gleichzusetzen, als vielmehr das Allgemeine im Besonderen zu entdecken, ohne dabei das zu übersehen, was nicht im Allgemeinen aufgeht. Es geht darum, “Untersuchungen zu beziehen auf Analysen der objektiven gesellschaftlichen Institutionen, mit denen die zu ermittelnden Meinungen und Verhaltensweisen etwas zu tun haben”. (Adorno 1969, 544)
Diesen widersprüchlichen Zusammenhang zu dechiffrieren wäre eine wichtige Aufgabe des hier vorgeschlagenen ,Friendly Reading’. Dabei sind nach wie vor viele Fragen offen: Fragen nach methodischen Problemen des Ausgangsmaterials ebenso wie nach ihrer Bedeutung für einen wertkritischen Begriffsapparat. Diese Notwendigkeit wurde in frühen wertkritischen Schriften durchaus gesehen (vgl. etwa Winkel 1987), aber leider nicht oder nur unzulänglich umgesetzt. Dies mag der bewussten außeruniversitären Orientierung der frühen Wertkritik geschuldet sein, könnte sich langfristig aber gegen sie wenden.
Nicht zu Unrecht ist der Wertkritik ebenso wie der (von ihr letztlich nicht zu trennenden) Wertabspaltungskritik immer wieder vorgeworfen worden, sie beziehe ihr empirisches Material für weitreichende Behauptungen über die Entwicklung der Gesellschaft aus den Massenmedien und lese sozialwissenschaftliche Studien überaus selektiv (z.B. Bönold 2008). Dem Vorwurf wäre jedoch durchaus abzuhelfen.
Literatur
Adorno, Theodor W. (1969): Gesellschaftstheorie und empirische Forschung. In: ders.: Soziologische Schriften 1. Frankfurt am Main 2003.
Bönold, Fritjof (2008): Zur immanenten Kritik am Wert-Abspaltungstheorem. Streifzüge 42/2008. Internet: http://www.streifzuege.org/texte_str/str_08-42_boenold_abspaltung1.html (letzter Abruf: 10.10.2008).
Creydt, Meinhardt (1997): Regeln (nicht nur) der soziologischen Methode. In: Das Argument H. 222, 1997, S. 675-684. Internet: http://www.meinhard-creydt.de/archives/53 (letzter Abruf: 20.05.2008).
Eberle, Friedrich (1974): Zur Auseinandersetzung der Marxschen Theorie mit bürgerlichen Ansätzen. In: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 1. Frankfurt am Main, S. 138ff.
Postone, Moishe (2003): Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Freiburg.
Shell Deutschland Holding (Hrsg.) (2006): Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck. Frankfurt am Main.
Demirovic, Alex/ Paul, Gerd (1996): Demokratisches Selbstverständnis und die Herausforderung von rechts: Student und Politik in den neunziger Jahren. Frankfurt am Main.
Winkel, Udo (1986): Krise des Marxismus. In: Marxistische Kritik 2. Internet: http://www.krisis.org/1986/krise-des-marxismus.
Winkel, Udo (1987): Von der “Rekonstruktion” zur “Krise des Marxismus”. In: Marxistische Kritik 3. Internet: http://www.krisis.org/1987/von-der-rekonstruktion-zur-krise-des-marxismus.