2. Teil: Formkriterien populistischer Anmache
Streifzüge 41/2007
Franz Schandl
Woran kann man nun den Populismus festmachen? – Konstant ist allen Populismen nur das Bekenntnis zur Konkurrenz, alles andere ist flexibel. Im Gegensatz zum marktradikalen Sozialdarwinismus, der über den Wert exkludiert und inkludiert, sind seine Kriterien des Ausschlusses oft außerökonomischer Natur, z.B. Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität, Rasse etc. Rassismus oder Antisemitismus, Sexismus oder Homophobie sind Anreicherungen des Populismus, letztlich keine inhaltlichen Bestimmungsstücke, so oft sie einzeln oder in Kombination auch auftreten. (Hier wären übrigens auch wichtige Unterschiede zwischen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus zu verorten. Das Repertoire der Exklusionen etwa eines Jörg Haider reicht von regionalistisch über nationalistisch, europäisch, okzidentalistisch bis hin zu antiimperialistisch. Es ist nicht immer alles gleichzeitig vorhanden oder ausgeprägt, aber er versteht es, mit allem zu hantieren. Einmal mehr gilt es, sich vor vorschnellen Analogien und Zuordnungen zu hüten.)
Die Dichte dieser Merkmale mag frappant sein, aber sie sagt wenig über die kulturindustrielle Grundlage. Es wird sich keine Definition des Populismus abseits eines Komparativs des Normalen finden lassen. Erklärt man spezifische Inhalte zu Charakteren, kann das Übergreifende und Zusammenfassende nicht mehr wahrgenommen werden. Der Populismus kann ohne jene auskommen bzw. sich ihrer nur exemplarisch bedienen. Zur Programmatik hat der Populismus ein taktisches Verhältnis. Permanent anzutreffen sind hingegen die Standards kulturindustrieller Formgesetze (Formatierung), wie sie in Wirtschaft und Werbung, in Politik und Medien, in Ideologie und Konsum vorherrschen.
Indes hat der Populismus gegenüber dem ordinären Liberalismus einen mentalen Wettbewerbsvorteil, und zwar weil seine Palette, was die konkurrenzistischen Codes betrifft, vielfältiger dimensioniert ist. Es ist also nicht einfach so, dass – wie gemeinhin angenommen – die Demokratie komplexer, der Populismus aber einfacher gestrickt sei. Das trifft zweifellos nur auf die propagierten Losungen und Lösungen zu. Puncto Angebote an Wählerschichten ist der Populismus hingegen durchaus vielfältig. Sein Bekenntnis zu Markt und Staat steht zwar außer Zweifel, aber gerade seine immanenten Alternativangebote erreichen ihr Zielpublikum, da sie vollmundig Schutz und Hilfe versprechen. Freilich nur zuungunsten anderer, denen Schuld zugesprochen wird und die Opfer werden sollen. Dass selektiert werden muss, ist gemeinsames Credo von Marktwirtschaft und Populismus.
Die Konstruktion, die Demokratie und Liberalismus auf der einen, Demagogie und Populismus auf der anderen Seite sieht, ist irreführend, aber zweckmäßig. Sie lenkt von substanziellen Identitäten ab, indem sie akzidentielle Unterschiede zu fundamentalen Differenzen aufbläst. Der offene Rassismus einiger Populisten lässt so den offiziellen Rassismus westlicher Demokratien verschwinden. Jenen zu benennen, heißt diesen freisprechen. Daher wird jener auch ständig benannt, daher werden zahlreiche Forschungsprogramme finanziert und Kommissionen gebildet, um die grassierende Ausländerfeindlichkeit auf genau ihn zu fokussieren. Das großmäulige Gerede erscheint verwerflicher als die effektive Tat. Der Populismus ist nichts anderes als die dunkle Seite des Liberalismus. Je bedenklicher jener, desto unbedenklicher dieser. So dient der Kontrast diesem vornehmlich als hervorragendes Alibi. Der Liberalismus will seine Vorgaben partout nicht erkennen. Man möchte nichts miteinander zu tun haben, auch da ist man sich einig.
Im Folgenden wollen wir einige typische Standards darstellen, wie sie sich nicht nur in Populismus und Politik zeigen, sondern wie sie für alle Bereiche kulturindustrieller Kommunikation kennzeichnend geworden sind.
1. Person statt Inhalt
Der Personenkult ist nicht nur nicht überwunden, er ist so stark wie nie zuvor. Gerade auch in der Politik ist es notwendig, herzeigbare und vermittelbare Personen (Spitzenkandidaten, Quereinsteiger) ins Zentrum der Kampagnen zu rücken. Jede Bescheidenheit ist da fehl am Platz, jede Verschämtheit ein Minus. Aufdringlichkeit der Präsentation ist unabdingbar. Der neue Starkult ist logische Konsequenz der Personalisierung. Wahlkämpfe sind meist auf Spitzenkandidaten zugeschnitten. Liberalismus wie Populismus sind fixiert auf die Darstellung so genannter Persönlichkeiten. Die Differenz der Inhalte ist kleiner als die der Gesichter. Was die Erkennbarkeit der Unterschiede betrifft, ist das auch wirklich so.
Die unterstellte Machbarkeit der Verhältnisse legt starke Macher und unbegrenzte Möglichkeiten nahe. Wenn etwas nicht gelingt, ist stets jemand schuld. Das Vertrauen der Menschen in ihre eigenen Potenzen wird durch Vorgabe von Persönlichkeit immer wieder desavouiert. Personalisierung benennt Schuldige oben (Bonzen, Eliten, Abkassierer, Spekulanten, Funktionäre), aber auch unten (Sozialschmarotzer, Tachinierer), vor allem aber außen (Ausländer, Drogendealer). Bestaunt werden Vorbilder (Filmstars, Moderatoren, Demagogen, Autorennfahrer, Wirtschaftsführer), als auch Ebenbilder (der kleine Mann, Familien, Mütter, Trümmerfrauen), teilweise sogar brave und tüchtige Ausländer, die unsere Rente sichern. Hier wird jedenfalls in Typologien gedacht, nicht in Klassen. Nicht nur, dass sich alle zu identifizieren haben, nein, es müssen auch alle identifiziert werden.
2. Promis statt Profis
Wenig ist so verpönt wie Parteifunktionär und Parteiapparat. Auch da hat ein bestimmter Personentypus Abhilfe zu schaffen. Quereinsteiger sollen das Vertrauen in die Politik wieder heben. Je politikferner, desto besser. Gefragt sind: Skirennläufer und Popstars, Schauspieler und Papierfabrikanten, Blaublütler, Bergsteiger, Bestseller, Baumeister. Sie müssen nur eine Voraussetzung mitbringen: regelmäßig in Televison und Rundfunk, Zeitung und Magazin aufgeführt zu werden. Darin besteht ihre Zertifikation. Eignung bemisst sich in Einheiten medialer Präsenz. Es geht um die Mobilisierung von Surplusstimmen durch Etikettierung eines Markenprodukts. Promis statt Profis sind angesagt.
Mit dem Amtsantritt sinkt der politische Marktwert des Quereinsteigers allerdings sukzessive. Was Vorteil ist, ist im Augenblick der Realisierung auch schon Vorteil gewesen. Quereinsteiger haben somit eine äußerst begrenzte Haltbarkeit: Sie beginnt mit der Ausrufung der Kandidatur und endet mit der Mandatsübernahme. Sie sind Einwegwaren; ihre Umlaufszeit ist bloß auf eine Legislaturperiode samt Vorlauf beschränkt.
3. Ansage statt Aussage
Politik wird zum televisionären Realkabarett. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Schauspiel. Auseinandersetzung wird in hohem Ausmaß irrationalisiert. Begeisterung ist identisch mit Entgeistigung. Wer gibt’s wem? Welcher Schlag ist ein Treffer? Kein Tiefschlag ist verboten, vorausgesetzt, er sitzt. Keine Peinlichkeit wird ausgelassen. Alles ist erlaubt, der Gegner muss abmontiert, nein: richtiggehend demontiert werden. Die Brutalität der Worte erschlägt die Ähnlichkeit der Vorhaben und Anliegen. Sie simuliert Differenz durch Grobheit. “Gib’s ihm”, schreien die Fans. Es geht um die Zuspitzung und Zur-Schau-Stellung konkurrenzistischer Unwesen.
Das mediale Spektakel übertönt die grenzenlose Langeweile, die zunehmende Impotenz und Inkompetenz des Politischen. In der Praxis kapituliert die Politik, aber in keiner Theorie will sie das wahrhaben. Stets geht es darum, dies zu überspielen. Politics werden immer mehr identisch mit Polity. Und Policy meint weniger das Angebot programmatischer Positionen (die sind weitgehend austauschbar, ja verwechselbar), es geht vielmehr darum, dass Werbestrategen Werbeträger richtig postieren, und mit entsprechenden Symbolen und Sagern ausstatten. Präsenz und Präsentation sind daher zum politischen Imperativ geworden. Die Daseinsberechtigung der Politiker resultiert vornehmlich aus ihrer inszenierten, notwendigen wie unerträglichen Allgegenwart. Von dieser hängen ihre in Hitparaden-Form publizierten Öffentlichkeitswerte ab.
Wer überall und über alles etwas zu reden weiß, hat selten etwas zu sagen. An die Stelle von Aussagen treten Ansagen. Das Darüber-Reden-Können führt durch seinen übersteigerten universellen Pflichtanspruch unweigerlich zum bloßen Drüber-Reden. Hüten sollte man sich vor denen, die immer alles auf den Punkt bringen und gerade deswegen nicht als Phrasendrescher wirken, weil sie Originalität zu simulieren verstehen. Der Sager hat Konjunktur, und mit ihm die Sager. Auftritte gleichen Spektakeln, neudeutsch Events genannt. Die von der Politik inflationierten Events wollen eines vermitteln: eine gute Stimmung. Es geht darum, Stimmungen zu erzeugen oder zu verstärken, die in Stimmen übersetzbar sind. Stimmt die Stimmung, stimmen die Stimmen.
4. Aufmachung statt Auffassung
Es geht nicht um Was ist?, sondern permanent um Was kommt an? Was kann ich verkaufen? Politik ist ein ordinäres Geschäft wie jedes andere auch. Keine Anmache ohne Aufmache. Politik drängt zur Modeschau, zur Hungerkur, zur Debatte über Frisuren, Schuhwerk, Unterwäsche. Kostümierung nimmt zu. Politik folgt den Gesetzen der Public Relations. Ästhetisierung ist Kennzeichen der flächendeckenden Umsetzung kulturindustrieller Gebote. Die neuesten Vorgaben erscheinen in Fernsehen und Film, in Werbung und Mode. Politiker werden dementsprechend präpariert. Erfolgreiche Politik misst sich an den Simulationspotenzen ihrer Simulationsinstanzen. Wichtig ist, was zieht. Und wahrlich, oft ist der neue Anzug des Kanzlers oder seine bevorzugte Weinsorte das Interessanteste an ihm.
Politiker sind Rollenträger einer permanenten Selbstvorstellung. Was Verstellung ist und was nicht, ist gar nicht so leicht zu sagen. Auf jeden Fall ist deren Darstellung kein inhaltliches Problem, sondern eine formale Angelegenheit. Da wird es wichtiger, welche Pastete und welcher Wein kredenzt als welche Sozialleistung gekappt wird. Das Virtuelle obsiegt auch hier. Politiker demonstrieren ganz offen ihr ordinäres Zur-Ware-Werden. Am politischen Markt müssen sie sich als Markenprodukte inaugurieren und inszenieren. Sie haben sich zu repräsentieren. Dies nicht zu können, wird mit Nichtachtung bestraft, wobei diese Strafe sich objektiv vollzieht, nicht irgendwelchen Urteils bedarf. Die Repräsentationsdichte nimmt zu. Politiker sind daher ruhelose Wesen, stets unterwegs. Was ankommt, ist, wie sie ankommen, nicht, was sie sagen. Keine Auffassung, die für sich trägt.
5. Fernsehprogramm statt Parteiprogramm
Das Fernsehprogramm sagt mehr als hundert Parteiprogramme. Wer wissen will, wie diese Gesellschaft tickt oder ticken soll, der nehme ersteres zur Hand. Prophetisch schreiben Horkheimer und Adorno bereits 1944, also zu einem Zeitpunkt, wo der Tonfilm noch gar nicht in die Wohnzimmer eingedrungen war: “Das Leben soll der Tendenz nach nicht mehr vom Tonfilm sich unterscheiden lassen. Indem er, das Illusionstheater weit überbietend, der Phantasie und dem Gedanken der Zuschauer keine Dimension mehr übrig lässt, in der sie im Rahmen des Filmwerks und doch unkontrolliert von dessen exakten Gegebenheiten sich ergehen und abschweifen könnten, ohne den Faden zu verlieren, schult er den ihm Ausgelieferten, ihn unmittelbar mit der Wirklichkeit zu identifizieren. Die Verkümmerung der Vorstellungskraft und Spontaneität des Kulturkonsumenten heute braucht nicht auf psychologische Mechanismen erst reduziert zu werden. Die Produkte selber, allen voran das charakteristischste, der Tonfilm, lähmen ihrer objektiven Beschaffenheit nach jene Fähigkeiten. Sie sind so angelegt, dass ihre adäquate Auffassung zwar Promptheit, Beobachtungsgabe, Versiertheit erheischt, dass sie aber die denkende Aktivität des Betrachters geradezu verbieten, wenn er nicht die vorbeihuschenden Fakten versäumen will. Die Anspannung freilich ist so eingeschliffen, dass sie im Einzelfall gar nicht erst aktualisiert zu werden braucht und doch die Einbildungskraft verdrängt.” (Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (1944/47), Frankfurt am Main 1971, S. 113-114.)
Das Aufgefasste mag kapiert, aber es kann nicht mehr begriffen werden. Das Vorbeihuschen zeugt vom Diktat der Beschleunigung. Man vergleiche nur das Tempo älterer Filme und Sendungen mit dem aktuellen. Alles wirkt hektischer und nervöser. Der Omnipräsenz tonbildlicher Sequenzen, der Beschlagnahme der beiden Hauptsinne (Sehen, Hören) durch die Kulturindustrie ist wenig entgegenzusetzen. So verliert sich das Subjekt zappend und zuckend in den Programmen eines totalen Illusionstheaters. Wir vermögen uns nur noch vorzustellen, was uns vorgestellt wird. Unsere Phantasie verarmt durch die Fülle unendlicher Beeindruckungen. Es gibt keine Freiheit, diese nicht zu registrieren. Nicht ist nicht.
Wir sind Befohlene, einem autoritären Regime unterstellt, das wir als solches gar nicht wahrnehmen. Wir können absolut nicht darüber entscheiden, was uns auffällt. Nichts ist so enteignet wie unsere Aufmerksamkeit. Wir mögen das kritisieren, aber ein “Nein!” umzusetzen, das schaffen wir unmittelbar nicht. Als Belieferte sind wir ausgeliefert, Kapitulanten, ob wir wollen oder nicht. Unsere Einschaltung suggeriert Zustimmung, oftmals müssen wir nicht einmal mehr einen Knopf betätigen. Die Programme laufen rund um die Uhr und rund um den Globus.
6. Populismus als Pop
Pop ist heute aus der Politik nicht mehr wegzudenken. Ob bei der Inszenierung von Parteitagen, bei der Ausstrahlung von Werbespots, oder indem man sich ganz einfach mit Popstars fotografieren lässt. Haider hat es in Österreich vorgemacht, die anderen Parteien haben es nachgemacht. Wichtiger als die Regie des Parteitags oder Konvents ist die gesamte Inszenierung eines Events: Gerade auch die Stimmung (und nicht bloß die Abstimmung) darf nicht dem Zufall überlassen sein. Alles hat akkordiert zu werden. Und die Musik tut das ihre, vor allem auch deswegen, weil unser Instrumentarium, sie zu analysieren, geschweige denn zu kritisieren, völlig unausgebildet geblieben ist.
Als internationale Volksmusik ist Popmusik der globalisierte Akkord der Verwertung. Sie drängt zur rezeptionslosen Aufnahme. Es muss nichts hinzugedacht werden (wie etwa beim Lesen), es muss nicht einmal aufgepasst werden. Zuhören reicht, bewusstes oder gar konzentriertes Hören ist nicht erforderlich. Nicht selten summt und stampft man mit. Weghören ist noch unmöglicher als Wegschauen, das Ohr kann weder gesteuert noch geschlossen werden. Der Hit und seine Paraden sind eine Art Grundritual, dem wir auch sonst, vom Kaufhaus über die U-Bahn bis zum Arztbesuch ausgeliefert sind. Überall werden wir beschallt, wir sollen ja nicht aus dem Rhythmus fallen.
7. Skandalisieren statt Reflektieren
Sensationierung, Skandalisierung, Kriminalisierung gehören zum Inventar von Politik alias Populismus. Das Spiel der Aufdeckung dient dazu, die gute Norm gegen die schlechte Realität zu rehabilitieren. Im Skandal realisiert sich die Norm durch die Immunisierung der Normalität. Er erzielt ein gebanntes Starren, kein reflektiertes Erkennen. Seine Welt ist keine strukturierte, sondern eine der personalisierten Punzierung. Skandalisieren unterstellt, dass jemand etwas hintertreibt. Es gilt die dunklen Mächte und ihre Machenschaften zu benennen. Man hat sie stets ins Visier zu nehmen.
Investigieren! ist der Imperativ von Journaille wie Populismus. Medienleute und Politiker, die das gut beherrschen, gelten als Zampanos ihrer Branche, gelten als Aufdecker der Nation. Schreiben- und Denkenkönnen hingegen ist da gar nicht erst nötig. Überführen und Strafen reicht. Man suhlt sich in Affären. Der Skandal schreit immer nach dem Opfer, konkret danach, aus dem (oft auch vermeintlichen) Täter ein (reelles) Opfer zu machen. Das Ritual verläuft nach einer vorhersehbaren Dramaturgie.
8. Wechselwähler statt Stammwähler
Niemand kann sich mehr seiner Wähler sicher sein. Diese sind inzwischen zu einer leicht verschiebbaren Masse geworden, die jedes Mal aufs Neue gewonnen werden muss. Das quantitative Verhältnis von Stammwählern, Wechselwählern und Nichtwählern hat sich in den letzten Jahrzehnten drastisch verändert. Wie jede Kaufentscheidung ist die Wahlentscheidung eine flexible, ja manchmal gar eine rein momentane, denken wir nur an die Zunahme der Last-minute-Wähler, d.h. von Leuten, die sich erst direkt in der Wahlzelle entscheiden. Wähler sind Konsumenten, nicht Akteure. Ihre Stimmen sind zum Abgeben da.
Wähler treffen ihre Wahl, so sie eine solche überhaupt treffen, immer weniger aus Interessensanliegen ihrer sozialen Charaktere, sondern nach ihrer Stimmung als zufälliges Glied im Spektakel. Abhängig von ihren Beeindruckungen, geben sie mal diesem, mal jenem, mal keinem den Vorzug. Dieses Verhalten hat seinen Prototypen im Käufer, der einen Supermarkt aufsucht. Was er gewählt hat, realisiert er erst, wenn er zahlen muss. Ins Wahlverhalten übersetzt, heißt das, dass die traditionelle Verbundenheit mit einem Lager, zumindest als Massenphänomen, endgültig passé ist. Die Flexibilisierten müssen anderweitig abgeholt werden. Gegenanzeigen scheinen nur noch ein schwächer werdender Reflex zu sein, der die Grundrichtung nicht mehr umkehren kann. In doppeltem Sinn: Kein Wähler ist mehr sicher.
9. Medienmeute statt Bewegungsmasse
Der grassierende Populismus ist kaum noch ein Versammlungspopulismus, sondern ein Medienpopulismus. Selbst das Event ist mehr eine Ansammlung denn eine Versammlung. Nicht Reden wird dort gelauscht, sondern ein geschwätziger Small-talk veranstaltet. Im Prinzip sitzen die Atomisierten vor ihren Empfangsgeräten und bestätigen durch Anwesenheit Zustimmung. Daher werden auch stets die Quoten überprüft. Sie sind nicht zu Unrecht als Affirmation des Vorgestellten zu interpretieren. Wer konsumiert, stimmt zu.
Keine religiösen Fanatiker haben jemals soviel Zeit in Kirchen und Moscheen verbracht wie die Kinder unserer Zeit vor den Fernsehapparaten. Sie müssen dort gar nicht hingetrieben werden, sie hocken bereitwillig davor. Beim Beten, einer Andacht, geht man zumindest in sich, auch wenn man sich an eine Fiktion in irgendein Jenseits verliert. Beim Fernsehen ist man nicht einmal mehr bei sich. Es befreit einen davon, sich die Halluzination selbst einzubilden. Dieses scheinbar anstrengungslose Konsumieren ist Basistraining für Auge und Ohr, also der Sinne und Sinnlichkeiten. Wir sind ein kulturindustrielles Serienprodukt, als Subjekte sind wir medial formatiert. Folge davon ist eine Art von Weggetretenheit, in der das Virtuelle das Reelle zumindest im Mentalen beherrscht. Man denke nur an eine globale Fehlemotionalisierung, wie sie etwa der Tod Diana Spencers ausgelöst hat. Wir leben in Zeiten der großen Verzauberung.
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3. Teil: Skizzen einer Antipolitik.