Sarrazin, die „wutschäumende Mitte“ und die kulturalistische Lösung sozialer Exklusion
Karl-Heinz Lewed
Haben sich seit dem Absturz der New Economy die vielzitierten Chancen postmoderner Lebenswelt immer mehr verflüchtig und sind den immer aufdringlicher werdenden Risiken gewichen, so steht mit dem Einbruch der Weltwirtschaft eine neue Qualität krisenhafter Wirklichkeit vor der Tür. Der Ausschluss aus dem System regulärer und formeller Arbeitsverhältnisse betrifft nicht länger nur die sogenannten Unterschichten, vielmehr frisst sich die soziale Exklusion immer mehr in Richtung Wohlstandsbauch der Mittelschichten voran. Im Krisenprozess der abstrakten Arbeit macht die säkulare „Produktion menschlichen Abfalls“ (Zygmunt Baumann), d.h. für die Verwertung nutzloser Menschen, auch vor der „gesellschaftlichen Mitte“ nicht Halt, obwohl diese selbst sich etwas ganz anderes zusammenphantasiert. Kein Wunder also, dass sich ein irrationales Bedrohungsgefühl weiter Bahn bricht, das zunehmend den Zeitgeist der gesamten Gesellschaft flutet und regressive Antworten auf den sozialen Ausschluss präsentiert.
Sarrazins Intervention „Klasse statt Masse“, publiziert in der Literaturzeitschrift Lettre International, stellt in dieser Hinsicht einen ideologischen Dammbruch dar. Das Statement des ehemaligen Berliner Finanzsenators traf den rassistischen und kulturalistischen Nerv des Mittelschicht-Zeitgeistes und löste so eine Welle ressentimentgeladender Zustimmung aus.
So sehr, dass sich lächerlicherweise sogar die Autorenschaft der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ erschrocken gab über die sich Luft machende, „unterdrückte Wut“, obwohl sie diese doch seit Jahren in ihren Leitartikeln schürt. In einem hat der Zeit-Autor Jörg Lau freilich Recht: „Es ist … die wutschäumende Mitte, über die man sich Gedanken machen muss“. In dieser Mitte geht die Angst um, die Angst vor Verlust der Gratifikationenen der moderner Arbeits- und Konsumgesellschaft, die Angst vor dem eigenen Abstieg und der eigenen Ausgrenzung. Zugleich kippt dieses Bedrohungsgefühl in eine Konstruktion der Leistungsgemeinschaft um, die sich – und dies ist das Neue daran – mit einer Kulturalisierung und Ehtnisierung des sozialen Ausschlusses verknüpft. Der anschwellende Bocksgesang des rassistischen Mittelschichtsbewusstseins kann dabei auf eine Entwicklung aufsetzen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten in Form des Neoliberalismus schon das gesellschaftliche Klima transformiert hat.
Die neoliberale Ideologie ökonomischer Selbstverantwortung war nicht nur Teil der Selbstideologisierung der Mittelschichten als Leistungsgemeinschaft, sondern zielte vor allem auch auf die „Ausgegrenzten der Moderne“ (Z. Baumann). Die Berufs- und Konsumchancen der einen war das Verarmungs- und Existenzrisiko der anderen. Zusammengehalten wurde diese Polarität von Integration und Ausschluss einstweilen durch die Ideologie von Freiheit und Selbstverantwortung. Erfolg in der Konkurrenz verbunden mit den Versprechungen des Konsumuniversum galten ebenso als Ausdruck individueller Leistungsbereitschaft, wie das Scheitern die persönlichen Defizite offenbarte. An diesen sollten gefälligst diejenigen arbeiten, die sowieso schon abgeschrieben waren. Taten sie dies nur ungenügend, so half man ihnen gerne mit dem Instrumentarium sozialstaatlicher Zwangsmaßnahmen unter dem zynischen Leitslogan des „Fördern und Forderns“ nach. Das Überflüssigwerden eines immer größeren Teils der Bevölkerung als zentrales Kennzeichen des kapitalistischen Krisenprozesses konnte so hinter der Fassade persönlicher Selbstverantwortung verschwinden. Dass „es“ persönlich für die Einzelnen nicht mehr so gut lief, dass man sich nicht mehr über Wasser halten konnte, dass die Kosten einem über den Kopf wuchsen, dafür trugen allein die individualisierten Subjekte die Verantwortung. Mit der individualistischen Entsorgung der kapitalistischen Ausschlusslogik ging gleichzeitig eine Formierung der Gemeinschaft der Leistungswilligen einher. Die Desintegration aus dem System von Arbeit und Verwertung bedeutete auch den ideellen Auschluss aus dem Leistungskollektiv, wie die Integration die bedingungslose Selbstdisziplinierung und Unterwerfung unter die Konkurrenzimperative forderte.
Spätestens der gewaltige Krisenschub, den das kapitalistische System derzeit erlebt, macht indes deutlich, dass die Exklusion auch nicht vor eiserner Disziplin und der Unterwerfungsbereitschaft unter das Leistungsprinzip Halt macht. Umso aggressiver muss dieses denn auch verteidigt werden. In diese Richtung zielt Sarrazins Intervention von „Klasse statt Masse“. Für die Krise Berlins, die nicht nur eine ökonomische und soziale, sondern v.a. eine mentalitätsgeschichtliche oder noch besser kulturelle Krise sei, macht er zwei miteinander verkoppelte Faktoren verantwortlich: die durch Subventionswirtschaft unterdrückte Privatinitiative und Leistungsbereitschaft sowie den Hedonismus und Schlendrian der 68er Generation. Für das Nachkriegs-Berlin konstatiert Sarrazin zusammenfassend: „Die wirtschaftliche Leistungselite … (hat) Berlin verlassen … Es kamen die Achtundsechziger und alle, die Berlin eher als Lebensplattform suchten. Menschen, die gerne beruflich aktiv waren, wurden ersetzt durch solche, die gern lebten … In Berlin saß ein verfetteter Subventionsempfänger, der durch Entzugsschmerzen erst wieder an die Wirklichkeit gewöhnt werden musste. So etwas kann sich nur durch einen Bevölkerungsaustausch vollziehen, man ändert ja niemanden. Wenn sich in Berlin etwas ändert, dann dadurch, dass Generationen auswachsen.“ Es gibt also einen wichtigen Teil der Bevölkerung, der aus Gründen subventionierten Schlendrians, dem „Westberliner Schlampfaktor“ bzw. eigener Dekadenz den ökonomischen Fortschritt hintertrieb und stattdessen auf Staatskosten das Leben genoss. Dies charakterisiere den Zustand Berlins, aber darüber hinausgehend selbstverständlich den Gesamtdeutschlands.
Nun stellt sich aber zudem das Problem, dass die „verfetteten Subventionsempfänger“ ökonomisch schlicht nicht verwertbar sind: „In Berlin gibt es stärker als anderswo das Problem einer am normalen Wirtschaftskreislauf nicht teilnehmenden Unterschicht.“ Berlin habe einen nicht unbeträchtlichen Teil „von Menschen, etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden, zwanzig Prozent leben von Hartz IV und Transfereinkommen … Dieser Teil muss sich auswachsen. Eine große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt, deren Anzahl durch falsche Politik zugenommen hat, hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich vermutlich auch keine Perspektive entwickeln. Das gilt auch für einen Teil der deutschen Unterschicht … Berlin hat wirtschaftlich ein Problem mit der Größe der vorhandenen Bevölkerung.“ In die Ideologie der Leistungsträgergemeinschaft mischt sich ein aggressiver kulturalistischer Rassismus, der in erster Linie auf „Araber und Türken“ zielt und der in den letzten Jahren unter der Überschrift vom „Kampf der Kulturen“ bereits tief in den gesellschaftlichen Diskurs eingesickert ist. Der Widerspruch zwischen dem noch integrierten Leistungskollektiv und den vom ökonomischen Ausschluss Betroffenen wird in den Mustern des Kulturkampfes zwischen den Deutschen bzw. der westlichen Kultur und den Muslimen ausgetragen. Das kulturalistische Ressentiment blendet systematisch gesellschaftliche Widersprüche und Zwänge als Ursachen für die soziale Exklusion aus und verortet diese stattdessen in der kulturellen Differenz. Die „muslimische Herkunft“ der Ausgeschlossenen und Marginalisierten stelle den wahren Hintergrund für deren Versagen am Leistungsprinzip dar. Es ist also das kulturelle Anderssein, das der sozialen Desintegration zugrunde liegt. Über diese weiß Sarrazin: „Absolut abfallend sind die türkische Gruppe und die Araber … Große Teile sind weder integrationswillig noch integrationsfähig … Viele von ihnen wollen keine Integration, sondern ihren Stiefel leben. Zudem pflegen sie eine Mentalität, die als gesamtstaatliche Mentalität aggressiv und atavistisch ist.“
Dabei kann sich die kulturalistische Zuordnung auch nicht bei der Frage aufhalten, weshalb die unterstellte Nutzlosigkeit im Sinne der Verwertungslogik, also das Fehlen jeder „produktiven Funktion“ der „Araber und Türken“, mit deren angeblicher mangelnder Integrationswilligkeit zufällig in eins fällt. Denn dieses In-Eins-Setzen entspringt dem irrationalen Drang, eine entlastende Projektionsfläche für die anonyme Bedrohung durch die immer weiter um sich greifende ökonomischen Unverwertbarkeit zu generieren. Wenn „wir Deutschen immer mehr eine türkische Mentalität annehmen, bekommen wir ein größeres Problem“, so Sarrazin. In der Personalisierung der verselbständigten Systemzwänge tobt sich das „notwendig falsche Bewusstsein“ in der Haftbarmachung einer bestimmten Gruppe aus.
Wenn aber der Ausschluss kulturell bedingt ist, dann muss man eben Teil der „richtigen Kultur“ sein. Das „verworfene Leben“ (Z. Baumann) dient als negative Abgrenzung zur kulturalistischen Selbstdefinition der Leistungswilligen. Dazu gehört, „den Nichtleistungsträgern zu vermitteln, dass sie ebenso gerne woanders nichts leisten sollten. Ich würde einen völlig anderen Ton anschlagen und sagen: Jeder, der bei uns etwas kann und anstrebt, ist willkommen; der Rest soll woanders hingehen … Dann würde klar, dass man eine Stadt der Elite möchte und nicht eine ‘Hauptstadt der Transferleistungen’ … Türkische Wärmestuben können die Stadt nicht vorantreiben.“
Zugleich wird damit ein Mythos der eigenen Zukunft und des eigenen Fortschritts entworfen, deren Verwirklichung durch die Nutzlosen gefährdet sei. Sie sind es, die für die Nichtausschöpfung der produktiven Potenzen oder gar dem Niedergang der Leistungsgemeinschaft Verantwortung tragen.
Um dieses Niedergangs- bzw. Untergangsszenario plastisch zu machen, beruft sich Sarrazin auf das mittlerweile zum Allgemeingut gewordene, rassistische Stereotyp vom biologischen Eroberungsfeldzug der Muslime: „Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate.“
Wurde der Prozess der sozialen Exklusion bisher v.a. als persönliches Versagen und Fehlverhalten interpretiert, so drehen mit der Verschärfung der Krise die ideologischen Wahnvorstellungen zunehmend in kulturalistische Gefilde ab. Soziale Marginalisierung wird damit nicht nur ausgeblendet, sondern sie wird umgedeutet zum Mittel muslimischen Expansionsstrebens, das auf die Auflösung und den Niedergang des westlichen Leistungskollektivs zielt. Die „Entsorgung menschlichen Abfalls“ (Z. Baumann) im Krisenprozess erscheint im kulturalistischen Konstrukt als Akt der Notwehr und gleichzeitig als notwendiger Befreiungsschlag der durchdrehenden Leistungsträgergemeinschaft. „Das wird man wohl noch sagen dürfen“, war denn auch ihre einhellige Meinung.