Streifzüge 45/2009
Julian Bierwirth
Im postmodernen Kapitalismus soll alles vergleichbar sein. Neue Konzernstrategien wie etwa bei VW zielen darauf ab, die konzerninterne Arbeitsteilung dahingehend zu revolutionieren, dass ein steter Vergleich der Rahmendaten zwischen unterschiedlichen Produktionsstandorten möglich ist. Warenhausketten lagern mehr und mehr Vertriebssegmente an Tochterunternehmen oder Fremdanbieterinnen aus, falls die firmeninterne Statistik entsprechende Werte ausspuckt. Kennzahlenvergleiche und Budgetierung wurden in den letzten Jahren auch in kommunalen Verwaltungen und staatlichen Behörden eingeführt. Hier soll sich ebenfalls alles vor der Messlatte des Durchschnitts bewähren. Auch vor den Universitäten macht dieser Trend nicht Halt. Rankings zwischen einzelnen Universitätsstandorten gehören mittlerweile ebenso zum Alltag wie solche zwischen einzelnen Fachbereichen oder den Studierenden. Alles soll vergleichbar werden, doch das heißt nicht, dass alles gleicher würde.
Ganz im Gegenteil nehmen als Ergebnis dieser Prozesse die quantitativen Unterschiede zwischen den bewerteten Einheiten für gewöhnlich zu. Die Einkommensungleichheit wächst, die profitträchtigeren Unternehmensbereiche werden mehr und mehr gegenüber den weniger rentablen gestärkt und durch staatliche Förderprogramme werden die im Ranking erfolgreicheren Universitäten gegenüber den weniger erfolgreichen ökonomisch bevorteilt. Das ist kein Wunder: Denn dass ein Maßstab zum Vergleich existiert, ist eben nicht identisch damit, dass die Verglichenen gleicher würden. Das Vergleichbarmachen geht vielmehr mit einer verschärften Konkurrenz einher und beschleunigt die Sortierung zwischen denen, die mit den Spielregeln besser und jenen, die mit ihnen schlechter klarkommen.
Wie ist nun aber die Tendenz zum steten Installieren von Vergleichen zu erklären? Eine erste Antwort könnte im Ergebnis gesucht werden: Durch das Initiieren von zunehmender Konkurrenz soll eine Umverteilung hin zu den gesellschaftlichen Institutionen organisiert werden, die für gewöhnlich als besonders leistungsstark gelten. Kurz, es handelt sich um eine Umverteilung von unten nach oben.
So sehr das im Ergebnis richtig ist, so wenig erklärt es den Verlauf dieser Umverteilung. Warum wird sie gerade über den Weg des Vergleichbarmachens organisiert? Der Grund scheint mir in einer fundamentalen Krise von Gleichheit und Vergleichbarkeit als solchen zu liegen, die mittels politischen Gegenfeuers nun gerettet werden sollen. Da mit der Krise der Wertverwertung die Formprinzipien des Kapitalismus wegbrechen, gerät auch die Gleichheit in die Krise. Denn die Gleichheit, das können wir bereits bei Marx nachlesen, reflektiert in letzter Instanz lediglich die Gleichheit im Tausch. Menschen tauschen Äquivalent gegen Äquivalent und schließen von ihrem Tun auf die Existenz einer scheinbar gesellschaftsübergreifenden Vorstellung von „Gleichheit“.
Unkalkulierbar
Nun wird dies Tun aber prekär, weil durch rasante Technisierung immer mehr Arbeit aus dem Produktionsprozess verdrängt wird und es daher zunehmend schwerer fällt, die Gleichheit von Arbeitszeiten auszudrücken, die im realen Produktionsprozess doch kaum noch eine Rolle spielen. Trotz allem müssen die Arbeitsleistungen sich aber weiterhin als Wert ausdrücken. Dieser bleibt trotz seiner zunehmenden Irrelevanz weiter die Grundlage des kapitalistischen Prozesses.
Dieses Phänomen spiegelt sich auch in den Wahrnehmungen der MarktteilnehmerInnen wieder. Immer weniger und immer offensichtlicher haben die geleistete Arbeit und der individuelle Lebensstandard miteinander zu tun. Dieser hängt heute mehr an Erbschaften, Börsengewinnen, staatlichen Transferleistungen und dergleichen mehr. Ebenso fallen auch der Marktpreis einer Ware und die zu ihrer Produktion verausgabte Arbeitszeit immer mehr auseinander. Die zunehmende Bedeutung von Werbung und Kulturindustrie trägt ihr Scherflein dazu bei, dass die am Markt erzielbaren Preise geradezu beliebig zu werden scheinen. Das gilt in gewisser Weise auch für die Unternehmensgewinne. Nachdem bis in die 70er Jahre ein schier endlos aufnahmefähiger Markt zur Verfügung stand, der langfristig planbare und relativ gleichmäßige Wachstumsmargen ermöglichte, werden die Kalkulationen in den Vorstandsetagen seitdem immer vorsichtiger. Auf einen Rekordgewinn im einen kann ein desaströser Absturz im anderen Jahr folgen. Es gibt keine solide Basis mehr, auf der sich irgendwie aufbauen ließe.
Die Vergleichbarmachung durch überall anzulegende Maßstäbe der Rentabilität und Effektivität jedenfalls kann als Versuch dechiffriert werden, die gesellschaftliche Form trotz ihrer zunehmenden Dysfunktionalität (selbst nach kapitalistischen Kriterien) zu erhalten. Das zunehmende Bemühen um Vergleichbarkeit ist also nicht Ursache der zunehmenden Konkurrenz, sondern nur ihre Verlaufsform: Je weniger die hinter dem Rücken der Menschen vor sich gehende Vergesellschaftung in der Lage ist, soziale Synthese herzustellen, umso stärker organisiert sie sich entlang „rationaler“ Maßstäbe.
Prekär
Die Krise der Gleichheit ist in vielen gesellschaftlichen Bereichen zu beobachten. Sie lässt sich etwa an der schwindenden Kampfkraft der Gewerkschaften ablesen, die mehr und mehr in Ständevertretungen zerfallen und den solidarischen Kampf der Lohnabhängigen längst einem Gegeneinander unterschiedlicher Statusgruppen geopfert haben. Überhaupt lässt sich vor diesem Hintergrund von einer Krise der Solidarität sprechen. Eigenverantwortung und Unabhängigkeit gelten laut der letzten Shell-Studie der jungen Generation als besonders wichtig. Politische Aktivität im unmittelbaren gesellschaftlichen Umfeld gilt als en vogue, solidarisches Engagement über den privaten Horizont hinaus, etwa im Rahmen von sozialen Bewegungen, wird zunehmend unbeliebt. Diese Schwerpunktsetzungen gehen einher mit einer breiten politischen Offensive, die in den letzten Jahren für ein verstärktes Wahrnehmen von Eigenverantwortung und für Selbstmanagement in einem ganz umfassenden Sinn eingetreten ist. Das Ich rückt mehr und mehr in den Mittelpunkt, seine Beziehungen zu anderen erscheinen zunehmend prekär.
Die Krise etabliert so ein umkämpftes politisches Terrain, aber nicht nur das. Sie wirkt sich auch nachhaltig auf die Subjektivierung der postmodernen Sozialcharaktere aus. Das Ich ist nämlich im Rahmen der Krisenverwaltung mit sich stets ändernden Regeln konfrontiert. Egal ob Arbeitsabläufe, Anspruchsregelungen für die Sozialleistungen oder Prüfungsanforderungen im Studium – alle diese Dinge unterliegen einem steten Wandel und machen mit dieser Wandelbarkeit auch unmissverständlich auf ihre Beliebigkeit aufmerksam. Bei den prototypischen postmodernen Individuen handelt es sich also um „Menschen, die einem Fluss stets austauschbarer Möglichkeiten ausgesetzt sind, sich dem Großteil dieser Möglichkeiten gegenüber verfügbar halten und die nächstbeste, die sich ihnen bietet, auch ergreifen, um diese dann ohne Zögern zugunsten der einen oder anderen weiteren Gelegenheit fallen zu lassen“, schreibt Paolo Virno in seiner „Grammatik der Multitude“. Was für das Verhältnis des Individuums zu den gesellschaftlichen Verhältnissen gilt, ist auch für sein Verhältnis zu anderen Individuen gültig. Die abgefederte Konkurrenz des prosperierenden Kapitalismus wird abgelöst von einer „umso brutaleren und arroganteren, kurz gesagt zynischen Selbstbehauptung, je mehr man sich illusionslos (…) derjenigen Regeln bedient, deren konventionellen und veränderbaren Charakter man zuvor festgestellt hat“.
Berechnend
Diese Verhaltensweisen werden nicht nur durch die Beziehungen der Menschen zueinander nahegelegt, sie haben bereits Eingang in die Ausbildung zukünftiger LohnarbeiterInnen gefunden. Nehmen wir die Einführung von Kopfnoten an den Schulen. Hier lernen die Youngster bereits frühzeitig, soziale Interaktion als Bedingung für gute Noten – und damit für beruflichen Erfolg – zu begreifen. Nett sind wir gemäß dieser Doktrin nicht länger, weil uns das Gegenüber sympathisch wäre, sondern ausschließlich, um es zu instrumentalisieren. Etwa wegen der guten Note oder weil es die Vorbedingung ist, um Hausaufgaben abschreiben zu können. Kommunikation wird vollends zur berechenbaren und berechnenden Ressource im alltäglichen Daseinskampf. Alle Sozialität, die über das tägliche Gegeneinander hinausginge, verdampft.
Eine ähnliche Wirkung hat die mit einer mittlerweile fast flächendeckenden Erhebung von Studiengebühren verbundene Einführung von Bachelor-Master-Studiengängen an den deutschen Universitäten. Da Lernstress und Arbeitsdruck der Studierenden in erheblichem Maße angestiegen sind, ihnen also keine Zeit mehr bleibt, im interaktiven Austausch mit ihren KommilitonInnen soziale Kompetenzen zu erlernen, werden diese nun als Soft-Skills standardisierten Fähigkeiten in gesonderten Seminaren vermittelt. Hier lernen die angehenden HochschulabsolventInnen, sich in hohem Maße opportunistisch zueinander zu verhalten. Welche Handbewegung und welche Mimik wann angebracht sind und wann nicht, wird mühsam einstudiert.
Mehr und mehr nimmt so die Neigung der Individuen zu, sich als voneinander unabhängige Monaden zu imaginieren. Jede Form einer emanzipativen Aufhebung des Kapitalismus hat jedoch einen kollektiven und selbstbewussten Akt zur Voraussetzung. Die mit der Krise der Gleichheit einhergehende Barbarisierung untergräbt so Tag für Tag eine der Bedingungen von Emanzipation, rückt damit aber zugleich auch die Beliebigkeit gesellschaftlicher Regeln ins Bewusstsein. Es ist daher durchaus nicht auszuschließen, dass damit auch die Naturalisierung sozialer Prozesse einen ernst zu nehmenden Knacks erhält und damit die neue gesellschaftliche Situation mit neuen Widersprüchen auch neue Angriffspunkte für das emanzipatorische Bemühen hervorbringt.
Literatur
Shell Deutschland Holding (Hrsg.): Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck. Frankfurt am Main 2006.
Paolo Virno: Grammatik der Multitude. Mit einem Anhang: Die Engel und der General Intellect. Verlag Turia und Kant, Wien 2005.
Detlef Hartmann/Gerald Geppert: Cluster. Die neue Etappe des Kapitalismus. Berlin/Hamburg 2008.
Marco Revelli: Die gesellschaftliche Linke. Jenseits der Zivilisation der Arbeit. Münster 1999.
Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Arbeit. Zur Neuinterpreation der kritischen Theorie von Marx. Freiburg 2003.