Zur Grundlegung feministischer Staatskritik in Zeiten staatstheoretischer Hoffnungslosigkeit
Lea Frische und Julian Bierwirth
In den letzten Jahren hat die Debatte um kritische Staatstheorie sowohl innerhalb des Wissenschaftsbetriebes als auch innerhalb der politischen Linken erneuten Aufschwung bekommen. Ausgehend von den Konzepten des marxistischen Politologen und Philosophen Nicos Poulantzas (1936-1979) und des marxistischen Rechtsphilosophen Eugen Paschukanis (1891-1937) wird hier um ein adäquates Verständnis von Staatlichkeit gestritten. Parallel dazu entwickelte sich in der Geschlechterforschung eine Debatte um eine feministische Staatstheorie. Beide Debattenstränge bleiben jedoch hinter ihren Möglichkeiten zurück. Dies hat nicht zuletzt eine unzureichende Analyse des Zusammenhangs von Staat, Ökonomie und Geschlechterverhältnissen zur Folge. Daher soll in diesem Text versucht werden, die Grundlegung für eine kategoriale Bestimmung feministischer Staatskritik zu umreißen.
Staat als materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen
Die staatstheoretischen Überlegungen Nicos Poulantzas’ sind vor allem in Auseinandersetzung mit traditionellen, marxistisch-leninistischen Staatstheorie-Ansätzen entstanden. Während in diesen Theorien der Staat als Instrument der herrschenden Klasse beschrieben wird, betont Poulantzas die „relative Autonomie“ staatlichen Handelns gegenüber den Interessen der herrschenden Klassen und Klassenfraktionen. Staat meint laut Poulantzas eine „Arena“ sozialer Kämpfe, in der miteinander konkurrierende Klassenfraktionen ihre Interessen durchzusetzen versuchen. Deren Kräfteverhältnisse verdichten und materialisieren sich in staatlichem Handeln.
Bestimmte Individualinteressen können sich gesellschaftlich durchsetzen und manifestieren sich als gesellschaftlich-allgemeine Form. Bürgerliche Allgemeinheit existiert für Poulantzas im Kapitalismus nicht per se, sondern entsteht durch die Materialisierung sozialer Kämpfe.
An dieser Stelle knüpfen feministische Staatstheorie-Ansätze häufig an Poulantzas an, indem sie darauf hinweisen, dass sich auch patriarchale Geschlechterverhältnisse im Staat verdichten (Fischer 2008, 52; Sauer 2001, 76ff.). Dabei ist den Protagonist*Innen durchaus bewusst, dass die damit verbundenen Kämpfe nicht primär als Auseinandersetzungen biologisch männlicher oder weiblicher Individuen angesehen werden können. Vielmehr wird implizit von einer Form hegemonialer Männlichkeit ausgegangen, der sich die einzelnen Subjekte anzupassen haben (siehe Vortrag von Anita Fischer). Bereits diese Loslösung von einem dichotomen Herrschaftsverständnis und die Hinwendung zu überindividuellen gesellschaftlichen Formprinzipien deutet darauf hin, dass ein erweiterter formkritischer Ansatz neue und weiterführende Einsichten ermöglichen kann.
Staat in formkritischer Perspektive
Sowohl Poulantzas als auch viele feministische Staatskritiker*Innen beschränken sich zumeist darauf, die Veränderungen, die das Gefüge von Staat, Ökonomie und Familie in den letzten Jahrzehnten erfahren hat, zu beschreiben. Für sie bleibt jedoch die Frage, warum sich diese Sphären überhaupt als eigenständige Bereiche etablieren, in aller Regel unbeantwortet. Genau diese Frage ist es jedoch, die zumindest prinzipiell für den sowjetischen Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis als grundlegend für jede Beschäftigung mit staatlichem Handeln gilt. Er formulierte das für marxistisch inspirierte Staatskritik das grundlegende Problem, das mittlerweile als „Paschukanis-Frage“ (Ingo Elbe 2008) in die Theoriegeschichte eingegangen ist:
„Warum bleibt Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, d.h. die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwangs nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“ (Paschukanis 1991, S.119f.)
Paschukanis lenkt hier die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Gesellschaftsform im Unterschied zu den jeweiligen inhaltlichen Ausprägungen von Handlungen und Institutionen.
Der Begriff der Form meint hier, dass es zur Erklärung staatlichen Handelns notwendig ist, über die konkret-empirisch wahrnehmbaren Einzelhandlungen hinaus den Bezug dieser Handlungen zum gesellschaftlichen Ganzen in den Blick zu nehmen und dabei die historische Spezifik seiner Konstitution zu reflektieren. So ist beispielsweise die Regelung des Verkehrs an Kreuzungen durchaus sinnvoll. Die Rechtsform kreiert hierfür als Lösung allgemeine Vorfahrtsregeln, etwa durch Ampelschaltungen. An die hat sich mensch zu halten – auch noch um halb drei Uhr nachts bei menschenleerer Straße. Unabhängig von den Besonderheiten des je konkreten Einzelfalles gilt es hier, die Verfahrensregeln zu respektieren und der Rechtsform damit Genüge zu tun. Im Unterschied dazu rekurriert der Begriff der Form, wie er von Poulantzas verwendet wird, lediglich auf eine allgemeine Durchsetzung von Einzelinteressen und unterschlägt das Problem der Gesellschaftsform im engeren Sinne. Bei ihm ist die Frage darauf verengt, wer einen ökonomischen Vorteil aus der Einrichtung einer Ampelschaltung ziehen kann. Die potenzielle Unvereinbarkeit der abstrakt-allgemeinen Regel mit dem zu regelnden Inhalt entgeht der Betrachtung damit.
Paschukanis hingegen geht davon aus, dass gesellschaftliche Verhältnisse und menschliche Beziehungsformen erst unter den spezifisch historischen Bedingungen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft rechtlichen Charakter annehmen (vgl. zur historischen Entwicklung von Recht und Staat Gerstenberger 2006). Als eine warenproduzierende Gesellschaft konstituiert sie die Menschen als freie und gleiche Rechtssubjekte. Um den auf diese Weise zugleich hergestellten „Krieg aller gegen alle“ prozessierbar zu machen, braucht es bestimmte, auf einer abstrakt-allgemeinen Ebene angesiedelte Verfahren zur Erledigung gesamtgesellschaftlich notwendiger Aufgaben.
Nur weil die Menschen im Kapitalismus am gesellschaftlichen Reichtum teilhaben können, sofern sie sich als „gegeneinander Gleichgültige“ (Marx) durchsetzen, braucht es eine dritte, vermeintlich neutrale Instanz, die Freiheit und Gleichheit der Warensubjekte gewährleistet. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass die als Konkurrenzsubjekte gesetzten Menschen sich gegenseitig die Schädel einschlagen.
Das Recht nimmt also eine abstrakt-gesellschaftliche Form an, indem es unter Absehung von (konkreten) Menschen – und damit realen Unterschieden und Machtverhältnissen! – universelle Geltung und Anwendbarkeit beansprucht.
Die herrschaftsförmige Wirkung des Staates zeigt sich also nicht erst in der Parteinahme staatlicher Institutionen für privilegierte Gruppierungen, sondern bereits in der rechtsförmigen Absicherung von Vergesellschaftungsprinzipien, die sich dann den handelnden Menschen gegenüber verselbstständigen und menschliches Handeln einer sachlichen Herrschaft unterwerfen. Gerade weil die Menschen beispielsweise durch den Staat als Marktsubjekte gesetzt werden, können sie die berüchtigte „unsichtbare Hand“ des Marktes hervorbringen. Gleichzeitig erscheint ihnen ihre Rechtssubjektivität als ebenso „natürlich“ wie Markt und Tausch. Gegenüber den Individualinteressen der freien und gleichen Warensubjekte etabliert sich somit ein gesellschaftliches Allgemeininteresse, das der Staat als Hüter der Rechtsform verkörpert. Dies ist von allen Partikularinteressen unterscheidbar und kann nicht lediglich als Durchsetzung des Interesses einer Klassenfraktion interpretiert werden, wie dies noch bei Poulantzas der Fall ist.
Abspaltungspilz als Aussichtsplattform
Der bürgerliche Staat regelt freilich weitaus mehr als die Freiheit und Gleichheit von warenproduzierenden und -tauschenden Staatsbürger*Innen. Er konstitutiert durch seine Gesetzgebung zugleich einen zweiten, gesellschaftlich minderbewerteten und als „privat“ chiffrierten Bereich – den der Reproduktion, der Ehe und Familie. Und er legt auch die Grundlage für die innere Struktur dieser Sphäre fest, indem er eine zweigeschlechtliche Norm rechtlich etabliert. Ohne diese Norm wäre die geschlechtliche Besetzung des Reproduktionsbereichs schlichtweg nicht möglich. Die von Paschukanis in Augenschein genommene öffentliche Sphäre der Warenproduktion hat somit einen oft ausgeblendeten Bereich zur Voraussetzung, der sich als konstitutiv ebenso für Staatlichkeit als auch für den Markt erweist, ihnen aber untergeordnet wird – schließlich müssen die Leute, die sich später als Warenmonaden auf dem Markt tummeln, erst einmal geboren und aufgepeppelt werden.
Feministische Staatskritik sollte dementsprechend zunächst diejenigen Regelungen untersuchen, durch die der Staat bestimmte („private“) Arten des Zusammenlebens hervorbringt und andere sanktioniert. Sie muss analysieren, inwieweit sie nicht nur für den kapitalistischen Staat funktional sind, sondern konstitutiv als dessen Wesenszug zu begreifen sind.
Kaleidoskop patriarchaler Herrschaft
Mit der Industrialisierung und der Ausbreitung der kapitalistischen Warenwirtschaft wurde es gesellschaftlich notwendig, die Bevölkerungsentwicklung zu erfassen und zu kontrollieren – sie gerät ins staatliche Blickfeld und soll an ökonomische Gegebenheiten angepasst werden (siehe hierzu z.B. Foucault 1983). Der Staat braucht ständigen Nachschub an Arbeitskräften, um die kapitalistische Produktionsweise und damit seine materielle Existenzbedingung aufrechtzuerhalten.
Damit wird historisch notwendig, Sexualität und Fortpflanzung den sich herausbildenden medizinisch-biologischen Wissenschaften und Institutionen unterzuordnen. Das Gebären der angehenden kapitalistischen Funktionsträger*Innen ist eingebettet in ein staatliches System normierter Zweigeschlechtlichkeit, die sich aus der Fähigkeit bzw. Unfähigkeit zur Reproduktion legitimieren zu können meint. Diese Norm äußert sich empirisch in vielfältiger Form. Auf der juristischen Ebene sind etwa §21 des deutschen Personenstandsgesetzes bzw. die §§17 und 19 des österreichischen Personenstandsgesetzes zu nennen. Beide Regelungen schreiben vor, einem neugeborenen Kind binnen einer Woche ein Geschlecht zuzuweisen. Diese Zuweisung wird in einigen Fällen zum Problem, in denen Körper sich nicht umstandslos unter den Gesetzestext subsumieren lassen. Solche als intersexuell bezeichnete Personen müssen – häufig ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung – physisch und psychisch belastende medizinische Verfahren über sich ergehen lassen, um eine Vereindeutigung der gesellschaftlich geforderten Geschlechtsidentität zu erreichen. Nicht selten findet die Subsumption unter das Recht mittels eines Skalpells statt (Transsexuellengesetz; 9.5.2010).
Aus der Fähigkeit zur Reproduktion werden zudem eine ganze Reihe von Fremdzuschreibungen abgeleitet. Diese beziehen sich etwa auf vermeintliche Charaktereigenschaften und werden für gewöhnlich zu so genannten weiblichen oder männlichen Geschlechtsidentitäten verallgemeinert. Männlichkeit als Verhaltensmuster der öffentlicher Sphäre ist mit Attributen wie Rationalität, Extrovertiertheit, Abstraktions- und Durchsetzungsvermögen und physische Stärke verbunden. Weiblichkeit hingegen wird mit reproduktiver Häuslichkeit und „Privatheit“ assoziiert sowie mit Attributen wie Emotionalität, Fürsorglichkeit, Introvertiertheit, Konkretion, Wankelmut und auch physischer Unterlegenheit (vgl. z.B. Karin Hausen 1977).
Darüber hinaus verschafft sich der bürgerliche Staat Zugriff auf bestimmte Körper. Ein Beispiel dafür ist die juristische Behandlung des Gebärverhaltens. So bedeuten etwa §218 StGB in Deutschland bzw. §97StGB in Österreich für Schwangerschaftsabbrüche eine schwere Hürde. Sie sind in beiden Staaten nach wie vor illegal und lediglich in bestimmten Fällen straffrei. Damit wird Frauen die Selbstbestimmung über ihren Körper systematisch abgesprochen.
Während der Staat also in bestimmten Fällen das Private reguliert, macht er davon nur sehr ungern Gebrauch, wenn es nicht zum bevölkerungspolitischen Rahmenprogramm passt. Das Modell der heterosexuellen Kleinfamilie hat sich als Institution zur Produktion und Aufzucht des Nachwuchses durchgesetzt und genießt bis heute ungeschmälertes gesellschaftliches Ansehen. Innerhalb dieser Familienidylle wurden auf vielfältige Weise patriarchale Herrschaftsmechanismen integriert, die selbst im juristischen Rahmen entwickelter bürgerlicher Gesellschaftlichkeit zum Teil erst in jüngster Zeit dem abstrakten Gleichheitsstandpunkt wichen. So galt „die Frau“ als Verfügungsobjekt des Ehemannes. Ihr wird eine eigenständige Sexualität häufig abgesprochen und sie musste in ihrer ehelichen Sexualität folglich nach des Gatten Pfeife tanzen.
So ist die Vergewaltigung in der Ehe in Deutschland wie in Österreich erst seit 1997/98 ein Straftatbestand. Darüber hinaus waren Ehefrauen auch im Leben außerhalb der Familie keineswegs autonom – „autonom“ hier verstanden als „Freiheit“, sich dem Zwang zur Lohnarbeit auszusetzen – und durften beispielsweise bis zum Jahr 1975 in Deutschland bzw. 1978 in Österreich nur mit der Unterschrift des Ehemannes einer Erwerbstätigkeit nachgehen.
Die Durchsetzung des abstrakt-allgemeinen Gleichtheitspostulats auf diesem Gebiet darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auf der Ebene kulturell-symbolischer Repräsentationen und monetärer Verfügungsgewalt oftmals weiterhin Männer sind, die im Konfliktfall die Entscheidungen treffen.
Sexualitäten, die nicht auf Reproduktion ausgerichtet ist, gelten gemäß dem bevölkerungspolitischen Paradigma, das sich parallel zur aufkommenden kapitalistischen Produktionsweise und der Entwicklung eines bürgerlichen „Sittenkodex“ etabliert, als unerwünschte Handlungen und werden sanktioniert. So wurden erst im Jahr 1994 die letzten Passagen des bundesdeutschen §175 StGB, der homosexuelle Handlungen unter Männern unter Strafe stellte, gestrichen. Der Paragraph, eingeführt im Deutschen Kaiserreich 1871, war übrigens in seiner verschärften NS-Fassung für die neu gegründete BRD übernommen worden; viele ehemalige KZ-Häftlinge wurden nach 1945 sogleich in bundesdeutsche Gefängnisse überführt. In Österreich gab es eine erste Liberalisierung des Straftatbestandes im Jahr 1971, endgültig straffrei ist homosexueller Sex seit 2002.
Mittlerweile sind sexuelle Handlungen zwischen Männern zwar nicht mehr verboten, ihr Zusammenleben ist aber noch immer nicht der klassischen heterosexuellen Kleinfamilie gleichgestellt. Letztere genießt gemäß Artikel 6 des deutschen Grundgesetzes, dort schlichtweg „Familie“ genannt, besonderen Schutz durch den Staat. In Österreich ist der Schutz von „Familie“ und „Ehe“ mit Artikel 37 der Verfassung ebenso festgeschrieben. Die 2001 in Deutschland und 2010 in Österreich eingeführte und gemeinhin als „Homo-Ehe“ verbrämte Lebenspartnerschaft muss im Vergleich zur heterosexuell-monogamen Ehe als Verpartnerung 2. Klasse gelten.
Das volle Adoptionsrecht für lesbische und schwule Paare ist in der BRD nach wie vor nicht etabliert, möglich ist lediglich die Stiefkindadoption leiblicher Kinder (aus früheren, heterosexuellen Beziehungen) – in Österreich gibt es laut Gesetzestext nicht einmal diese Variante der Adoption. In Deutschland sind gleichgeschlechtliche Paare mit Kind von Steuervergünstigungen ebenso wie vom gemeinsamen Sorgerecht ausgeschlossen, lesbischen Paaren ist das Recht, per anonymer Samenspende ein Kind zu bekommen, verwehrt (Gesundheitsnews; 8.5.2010). Offizielles Adoptionsrecht wird homosexuellen Paaren nur in Dänemark, Island, Schweden, Südafrika, Großbritannien und in den Niederlanden gewährt.
„Risiken“ für so genannte Behinderungen – von staatlicher Seite aufgrund möglicher Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit als Problem betrachtet – stehen dem Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung gegenüber, wenn es um das Inzestverbot geht: Seit einigen Jahren flammt erneut eine Debatte dazu auf (Spiegel; 8.5.2010), in der als aushandlungsbedürftig betrachtet wird, ob es Ziel des Staates sei, potenziell „erbkranken Nachwuchs“ zu verhindern. Mit dem §173 stellt der deutsche Staat u.a. den „Beischlaf“ zwischen Verwandten in gerader Linie (also zwischen Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, und deren Kindern, Enkeln, Urenkeln) sowie zwischen Voll- und Halbgeschwistern unter Strafe (StGB ; 9.5.2010). Das in Österreich mit dem §211 StGB als „Blutschande“ bezeichnete Tatbild wird mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe geahndet.
Kontinuität im Wandel: Ausgangspunkte feministischer Emanzipation
Diese und viele andere Beispiele zeigen, dass die postulierte Freiheit und Gleichheit aller nicht viel mehr als eine Farce ist. Integraler Bestandteil der aufklärerischen Ideen ist tatsächlich vielmehr der Ausschluss bestimmter Personengruppen und dessen Legitimation über biologistisch-naturalistische Ideologien. Das moderne, bipolar und patriarchal organisierte Geschlechterverhältnis ist mithin ein Kernbestandteil liberaler Staatskonzeptionen. Bereits der Staats- und Demokratietheoretiker Jean-Jaques Rousseau (1712-1778) äußerte sich in seinem Erziehungsroman „Emile“ in diesem Sinne, wenn er darauf zu sprechen kommt, wer überhaupt moderner, vernunftgeleiteter und autonomer Staatsbürger sein kann: lediglich Söhne, Gatten, Väter, kurzum: Männer werden in den Status moderner Subjekte erhoben:
„Die ganze Erziehung der Frauen muss daher auf die Männer Bezug nehmen. Ihnen gefallen und nützlich sein, ihnen liebens- und achtenswert sein, sie in der Jugend erziehen und im Alter umsorgen, sie beraten, trösten und ihnen das Leben angenehm machen und versüßen, das sind zu allen Zeiten die Pflichten der Frau, das müssen sie von ihrer Kindheit an lernen (…).“ (Rousseau 1995, S.394)
Wer meint, derartige Vorstellungen seien Ideologie aus dem 18. Jahrhundert und heute sehe die Welt doch ganz anders aus, der musste sich unlängst beispielsweise von Eva Hermann eines Besseren belehren lassen. Sie macht sich nicht nur Gedanken über angebliche Vorzüge der NS-Familienpolitik, sondern sinniert auch über den Zusammenhang zwischen dem ökonomischen Erfolg der Nation und einem erhofften Comeback deutscher Mütterlichkeit:
„Die Frauen, die vor knapp einem halben Jahrhundert entschlossen und hoffnungsvoll dem Ruf der Emanzen und Feministinnen auf dem Weg nach weiblichem Erfolg folgten, sind im beruflichen Kampf gegen die Männer am Ende ihrer Kräfte und Ressourcen angelangt. Sie sind ausgelaugt, müde und haben wegen ihrer permanenten Überforderung nicht selten suizidale Fantasien. So zieht eine hochzivilisierte Kultur wie die unsere sich selbst den Boden unter den Füßen weg, die Basis, die uns Halt im täglichen Überlebenskampf geben könnte: die intakte Familie.“ (Eva Hermann: Die Emanzipation – ein Irrtum? In: Cicero. Magazin für politische Kultur, Mai 2006; 8.5.2010)
Nach wie vor sind patriarchale Vorstellungen von gesellschaftlicher Arbeitsteilung also auf der Tagesordnung. Der Ausschluss weiter Teile der reellen Staatsbevölkerung aus der ohnehin stets prekären Teilhabe am krisenhaften Verwertungsregime mag heute in Teilen zurückgedrängt sein, er besteht jedoch strukturell weiter. Und – damit nicht genug – in nicht wenigen Fällen verschärfen sich die Entwicklungen noch. Schon immer haben Nationalstaaten Menschen nach ihrer Nützlichkeit sortiert. Doch angesichts der faktischen Nutzlosigkeit großer Teile der Weltbevölkerung für das globale kapitalistische Krisenregime zeigt sich bereits eine deutlich gegenteilige Entwicklung. Die „Festung Europa“ oder die Border-Fence zwischen den USA und Mexiko sprechen hier eine ebenso deutliche Sprache wie das Erstarken der patriarchalen „Männerbewegung“ und die Bestsellerplatzierung von Eva Hermanns „Eva-Prinzip“. Eine Kritik an staatlichem Handeln wäre in diesem Sinne stets in einem umfassenderen Sinne als Kritik eines krisenhaften Vergesellschaftungskomplexes zu denken. Weder lassen sich einzelne Themenbereiche willkürlich herausgreifen (heute Rassismus, morgen Antisemitismus, übermorgen Geschlechterverhältnisse) noch lässt sich der Gesamtkomplex des warenproduzierenden Patriarchats als beschränkt auf eine gesellschaftliche Sphäre begreifen.
Allen, die dies als Plädoyer für eine bedingungslose Absage an die Totalität der warenproduzierenden Gesellschaft und ihre Ideologien lesen, sei versichert: so ist dies in der Tat zu verstehen.
Jede Kritik an der Wertform, an bedürfnisignoranter Warenproduktion und dem Verwertungsimperativ des Kapitals greift zu kurz und reproduziert Herrschaftsmechanismen, nimmt sie nicht auch die gesellschaftlich abgewerteten, aber gleichsam für die Funktionalität der globalen Verwertungsmaschine notwendigen Bereiche und die damit verbundenen sozialen Strukturkategorien, zugerichteten Körper, normierten Sexualitäten, Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensformen und deren nationalstaatliche Absicherung als zweite Seite derselben Medaille in den Blick und in die Zange.
Kämpfe gegen den Staat können dementsprechend nur in einer Art und Weise erfolgreich geführt werden, indem sie auch die heteronormativ-patriarchale Realität, wie sie für den Staat konstitutiv ist, praktisch wie theoretisch kritisieren.
Fußnote:
Begriffe, bei denen in der deutschen Sprache die maskuline zugleich eine universelle Form ist, verwenden wir in „gegenderter“ Schreibweise. Damit soll deutlich gemacht werden, dass sich hier in der Sprache die gesellschaftliche Gültigkeit des Männlichen als ein Dominantes und Universales reproduziert und damit meist „mit gemeinte“ Frauen*Inter*Trans unsichtbar gemacht bzw. dem Männlichen subsumiert werden. Dabei wird nicht nur das große „I“, sondern das Sternchen (*) verwendet, das eine Leerstelle offen lässt für Geschlechtsidentitäten, die sich nicht in die Zweigeschlechtermatrix pressen lassen oder diese bewusst ablehnen.
Literatur:
Alex Demirovic: Nicos Poulantzas. Aktualität und Probleme materialistischer Staatstheorie. 2. überarbeitete und erweiterte Neuauflage, Westfälisches Dampfboot: Münster 2007.
Ingo Elbe: Warenform, Rechtsform, Staatsform. Paschukanis’ Explikation rechts- und staatstheoretischer Gehalte der Marxschen Ökonomiekritik, In: Grundrisse 9, Wien 2004.
Ingo Elbe: Rechtsform und Produktionsverhältnisse. Anmerkungen zu einem blinden Fleck in der Gesellschaftstheorie von Nicos Poulantzas. In: U. Lindner/ J. Nowak/ P. Paust-Lassen (Hg.): Philosophieren unter anderen. Beiträge zum Palaver der Menschheit. Verlag Westfälisches Dampfboot: Münster 2008.
Anita Fischer: Von gesellschaftlicher Arbeitsteilung über Geschlecht zum Staat. Eine geschlechtertheoretische Auseinandersetzung mit dem Staat bei Nicos Poulantzas. In: Wissen, Jens/Wöhl, Stefannie (Hg.): Staatstheorie vor neuen Herausforderungen. Analyse und Kritik. Münster 2008.
Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit I: Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M. 1983. (frz Ausgabe: Paris 1976).
Heide Gerstenberger: Die subjektlose Gewalt. Theorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt. Westfälisches Dampfboot: Münster 2006.
Andreas Harms: Warenform und Rechtsform: Zur Rechtstheorie von Eugen Paschukanis. Nomos: Baden-Baden 2000.
Karin Hausen: Die Polarisierung der “Geschlechtscharaktere”. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen: Stuttgart 1976, S. 363-393.
Robert Kurz: Negative Ontologie. In: KRISIS, Heft 26, 2003.
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Eugen Paschukanis: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe (1923). Nachdruck der ersten deutschen Ausgabe von 1929, herausgegeben u. mit einem Anhang versehen von H. Klenner und L. Mamut, Berlin/Freiburg 1991.
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Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Dt Fassung: Schmidts, L.: 12. unveränderte Auflage, Paderborn u.a. 1995.
Birgit Sauer: Die Asche des Souveräns. Staat und Demokratie in der Geschlechterdebatte. Frankfurt am Main/New York 2001.
Roswitha Scholz: Der Wert ist der Mann. Thesen zu Wertvergesellschaftung und Geschlechterverhältnis. In: KRISIS Heft 12: Bad Honnef 1992.
Roswitha Scholz: Wert und Geschlechterverhältnis. In: Streifzüge. Magazinierte Transformationslust. Heft 2/1999.
erschienen in: Trend Infopartisan, 09/2010