16.03.2010 

krisis 33 – Editorial

Der Neoliberalismus sei am Ende. So jedenfalls pfiffen es die Spatzen nach dem Finanzmarktcrash von 2008 von den Dächern. Indes, die wirtschafts- und sozialpolitische Praxis sieht zunächst gar nicht danach aus. Zwar bekam der Guido Westerwelle gerade kräftig Prügel von fast allen Seiten für seine Tiraden, eine Armutsversorgung à la Hartz IV komme dem Versprechen auf „anstrengungslosen Wohlstand” gleich. Kritisiert wird aber vor allem der Ton seiner Äußerungen. In der Sache hingegen findet der Scharfmacher durchaus breite Resonanz. Westerwelles Zynismus wird jedenfalls noch von dem Zynismus der biederen Wochenzeitung ZEIT getoppt. Die treibt in ihrem Leitartikel vom 18.2. nur die Sorge um, angesichts der berechtigten „Kritik an der Form“ der FDP-Kampagne könnte die überfällig „unerschrockene Prüfung der sozialen Netze“ unterbleiben. Dementsprechend verwahrt sich das bildungsbürgerliche Zentralorgan dagegen, Westerwelles Äußerungen als das zu bezeichnen, was sie nun mal sind: Hetze der übelsten Sorte. Was da abläuft, ist leicht zu durchschauen und verfehlt dennoch nicht seine Wirkung. Westerwelle prescht vor, um, halb zurückgepfiffen, die allgemeine Marschrichtung vorzugeben. Auch der Blick über die deutschen Grenzen gerät in mancher Hinsicht zum Déjà-vu. Nicht nur wurde Griechenland gerade unter finanzpolitische Kuratel gestellt, auch alle anderen EU-Länder stehen vor einem weiteren rigorosen Kahlschlag des öffentlichen Sektors, der an die Rosskuren erinnert, die der IWF in den 1990er Jahren den krisengeschüttelten Ländern Lateinamerikas und Südostasiens zwangsverordnet hatte.

Geht das neoliberale Zeitalter also unverdrossen einfach weiter? Diese Vorstellung läuft auf eine Verharmlosung der Lage hinaus. Zwar ist es um Hegemonie der neoliberalen Ideologie in ihrer bisherigen Gestalt als marktradikalem Heilsversprechen tatsächlich geschehen, weil diese nicht mehr ins verschärfte Krisenszenario und zum neuen Notverstaatlichungskapitalismus passt. Doch jetzt sind andere, weit stärkere Geschütze angesagt: Offener Sozialdarwinismus und die Kulturalisierung der sozialen Widersprüche treten das ideologische Erbe des Neoliberalismus an.

Dass Ideologie und gesellschaftliche Praxis sich in unterschiedlichen Rhythmen verändern, ist kein neues Phänomen. Die Geschichte der Ideologien und die Realgeschichte des kapitalistischen Systems sind zwar eng miteinander verflochten, aber keineswegs deckungsgleich. Nicht nur, dass ideologisches Bewusstsein die kapitalistische Wirklichkeit und deren Entwicklung grundsätzlich nur auf dem Kopf stehend wahrnimmt; gemessen an der Ideologiegeschichte, die reich ist an Wechselfällen und teils unvermittelt anmutenden Umschwüngen, zeichnet sich die Realgeschichte durch einen weit höheren Grad an Kontinuität aus. Außerdem nehmen Ideologie- und Realgeschichte oft einen asynchronen Verlauf. Vor allem die großen Durchsetzungsideologien haben in der Regel ihre besten Zeiten bereits hinter sich, bevor die von ihnen mit auf den Weg gebrachten Veränderungsprozesse ihre gesamte Wucht entwickeln und die ganze Gesellschaft erfassen. Das gilt nicht zuletzt auch für die hegemoniale Ideologie der letzten Jahrzehnte, den Neoliberalismus. Der Siegeszug der marktradikalen Glücks- und Erlösungsreligion hat entscheidend dazu beigetragen, drei für die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte bestimmende Prozesse auf den Weg zu bringen: Die Durchökonomisierung aller sozialen Beziehungen, den damit einhergehenden Übergang zu einer nach markt-darwinistischen Regeln funktionierenden Ausschlussgesellschaft und die als Stärkung der Rechte des Individuums legitimierte totale Vereinzelung. Diese Prozesse laufen nach dem Konkurs des neoliberalen Erlösungsglaubens nicht nur weiter, Tempo und Durchschlagskraft dürften sogar noch zunehmen.

Die ideologische Hegemonie des Neoliberalismus erreichte in den 1990er Jahren ihren Höhepunkt. Damals verkündeten ganze Heerscharen von Anhängern die frohe Botschaft von der Segen spendenden Wirkung des totalen Marktes, der die Menschheit als ganze in eine goldene Zukunft führen solle. Dagegen begann das 21. Jahrhundert mit einem Doppelschlag, von dem sich die neoliberale Marktreligion nie mehr erholte. Die Chimäre einer Welt, die unter der Ägide von Marktwirtschaft und Demokratie in das Reich ewigen Friedens marschiere, wurde unter den Trümmern des World Trade Center begraben. Schon zuvor hatte das Platzen der High-Tech-Blase die Glaubwürdigkeit des neoliberalen Basiscredos schwer beschädigt, demzufolge das entfesselte Spiel der Marktkräfte letztlich den Wohlstand aller mehre. Klingt dieses Versprechen seitdem hohl, so versetzte das Finanzmarktdesaster vom 2007/2008 der ideologischen Hegemonie des Neoliberalismus den endgültigen Todesstoß. Spätestens seit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, der größten Bankenpleite der Geschichte, und der Notverstaatlichung des maroden Finanzüberbaus ist Neoliberalismus zu einer Art Schimpfwort verkommen. Kaum jemand outet sich noch freiwillig als Vertreter dieser Denkweise, umso beliebter ist quer durch alle politischen Spektren das Neoliberalismus-Bashing geworden. Selbst die FAZ, der diese Wendung vor drei oder vier Jahren wohl noch niemand zugetraut hätte, beteiligt sich und befördert das einstige Lieblingskind kurzerhand auf den historischen Misthaufen: „Der Neoliberalismus war eine Abenteuergeschichte, und die ganze Gesellschaft fieberte mit. Heute kommt sie uns vor wie eine Käpt’n-Blaubär-Story. Wir brauchen eine neue Geschichte“ (FAZ vom 8.10.2008).

Aussagen dieser Art verdeutlichen nicht nur einen rasanten Hegemonieverlust; sie geben indirekt auch darüber Auskunft, welchen Charakter der Abschied vom Neoliberalismus hat. In der FAZ-Interpretation schrumpft der Neoliberalismus darauf zusammen das Blaue vom Himmel versprochen zu haben. Die grundlegenden realen Umbrüche, die unter neoliberaler Ägide vollzogen wurden, kommen hingegen gar nicht vor. Sie bleiben unthematisiert und unkritisiert, weil sie als selbstverständlich und unhintergehbar vorausgesetzt sind. Der Neoliberalismus gerät in die Schusslinie, aber nicht, weil er der Vermarktwirtschaftlichung aller Verhältnisse Tür und Tor geöffnet hat, sondern weil er seine historische Mission als allgemeines Weltbeglückungsprogramm verkauft hat. Die freundliche Verpackung muss weg, damit jenes Umwälzungswerk mit neuer ideologischer Legitimierung weiterlaufen kann. Der Neoliberalismus wird angesichts des Krisenschubs als kindische Käpt’n-Blaubär-Story abgetan und entsorgt, um Platz für Ideologien zu machen, die von vornherein einem knallharten Survival of the Fittest das Wort reden ohne dies noch zu verbrämen.

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Die nach der Lehman-Pleite ergriffenen Maßnahmen zur Rettung des maroden Bankensystems waren zwar als kurzfristiges Krisenmanagement gedacht, leiteten aber irreversible Veränderungen im weltwirtschaftlichen Gefüge ein. Ob die Politik es will oder nicht, der Staat ist gekommen, um zu bleiben. Der Staatskredit ist zum Hauptträger der Schöpfung von fiktivem Kapital geworden. Zu massiven Staatseingriffen und einer fortgesetzten exorbitanten Ausdehnung des Staatskredits gibt es auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise derzeit nur eine Alternative: Den Kollaps der Weltwirtschaft. Es liegt auf der Hand, dass diese Entwicklung die neoliberale Doktrin bis auf die Knochen blamiert. Aber noch etwas anderes springt ins Auge: Die von den Linkskeynesianern freudig begrüßte „Rehabilitation der Staatsintervention“ (Butterwegge) hat einen gänzlich anderen Inhalt als der Etatismus des „sozialdemokratischen Zeitalters“. Die Stärkung des Staates war im 20. Jahrhundert zumeist mit einer vermehrten Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten am kapitalistischen Reichtum einhergegangen und hatte eine Relativierung des Primats der Ökonomie eingeschlossen. Der große Beitrag des alten Etatismus zur Durchsetzung und Stabilisierung des Kapitalismus bestand darin, große Teile der Bevölkerung in die Arbeitsgesellschaft zu integrieren. Der neue Staatsinterventionismus ist dagegen Ausdruck des absoluten Gehorsams gegenüber dem Anspruch der Ökonomie. Er ist darauf ausgerichtet, die geballte staatliche Geldschöpfungs- und Redistributionsmacht zur Rettung der „systemrelevanten“ Sektoren zu mobilisieren und so weit wie möglich auf diese Aufgabe zu konzentrieren. Der Schutz der Bevölkerung vor totaler Verarmung und andere wirtschaftsferne Ansinnen fallen nicht in diese Rubrik.
Selbstverständlich ist auch den Linkskeynesianern nicht entgangen, wie wenig die Notverstaatlichung des Bankensektors ein Gegenprogramm zur viel beklagten „Umverteilung von unten nach oben“ darstellte. Trotzdem witterten Organisationen wie Attac, deren Kapitalismuskritik sich im Wesentlichen auf eine reine Neoliberalismuskritik beschränkt hatte, kurzzeitig Morgenluft. Darauf konditioniert, den Interventionsstaat mit der Domestizierung des Kapitalismus gleichzusetzen, wollten sie im neuen Interventionismus einen Zwischenschritt auf dem Rückweg zum alten Etatismus sehen. Ein Staat, der plötzlich astronomische Geldmittel zur Stabilisierung der Finanzindustrie bereitstellt, so das Kalkül, könne schwerlich damit fortfahren, auch weiterhin das Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssystem kaputtzusparen, denn er habe ja selber eindrucksvoll demonstriert, wie gegenstandslos das viel beschworene „Finanzierbarkeitsproblem“ in Wirklichkeit sei. Dass die offizielle Politik sich unter dem unmittelbaren Eindruck des Finanzmarktdesasters in Banker-Bashing übte und plötzlich aus der linkskeynesianischen Diskussion stammende Stichworte (Regulierung des Finanzsektors etc.) aufgriff, stützte diese Erwartung noch.

Diese Hoffnung ging jedoch vollkommen an der Realität vorbei. Zum einen zeichnete sich sehr schnell ab, dass die gigantische Staatsverschuldung den Spar(dis)kurs noch verschärfen würde. Denn gerade weil sich die gewaltigen Schuldenberge niemals wieder werden abtragen lassen, verwenden die Regierungen umso mehr Energie darauf, ihre Kreditwürdigkeit und Zahlungsfähigkeit gegenüber jenen Finanzmärkten zu simulieren, die sie soeben gerettet haben. Das aber gelingt am besten durch die Demonstration eisernen Sparwillens, der wie immer zuerst am Sozialbereich exekutiert wird. Der neue Staatsinterventionismus folgt also nicht nur einer anderen Orientierung als der traditionelle, er steht dessen sozialstaatlichen Zielen diametral entgegen.

Zum anderen hatten die Linkskeynesianer aber auch falsch eingeschätzt, wie sich mit dem Niedergang des Neoliberalismus das gesellschaftliche Klima und die ideologische Landschaft verändern würden. In den USA weht dem Hoffnungsträger Barack Obama gerade bei seinem wichtigsten Wahlkampfprogrammpunkt, der Gesundheitsreform, der Wind schon wieder ins Gesicht. Das kommt genauso wenig von ungefähr, wie der klare Sieg von Schwarz-Gelb bei der letzten Bundestagswahl. Der Glaube an den reinen Markt ging zwar verloren, das linkskeynesianische Mantra, Geld sei genug da, es komme nur darauf an, es „gerechter“ zu verteilen, hat deswegen aber weder an Plausibilität noch an Attraktivität gewonnen. Der Neoliberalismus ist desavouiert, nicht aber sind es die Zwangsverhaltensweisen und -vorstellungen, an deren Einübung er beteiligt war. Gerade angesichts von Wirtschaftskrise und explodierender Staatsverschuldung herrscht mehr denn je stillschweigender Konsens darüber, dass „die Ökonomie unser Schicksal“ (Walther Rathenau) und jeder sich selbst der Nächste sei.

Unter dem unmittelbaren Eindruck des Finanzmarktcrashs herrschte allgemeine Verwirrung, und der Glaube an die Unhintergehbarkeit und Rationalität der kapitalistischen Produktionsweise zeigte einen kurzen Moment lang Risse. Davon ist nicht mehr viel übrig und das sozialdemokratische Lager befindet sich auf beiden Seiten des Atlantiks schon wieder heillos in der Defensive. Was aus der ohnehin schon verkürzten „Kritik“ an der Finanzindustrie geworden ist, spricht in dieser Hinsicht Bände. Zum einen ist sie noch einmal auf die Forderung nach einem Verbot von Banker-Boni reduziert worden. Zum anderen wird die Empörung, zumindest in Deutschland, durchgängig vom Gruselstandpunkt der Opfergemeinschaft aus formuliert. Die Wut richtet sich gegen die mangelnde Bereitschaft der Charaktermasken des fiktiven Kapitals die Lasten mitzuschultern, und sei es wenigstens symbolisch. Dass die Antwort auf die Krise nur in die Hände spucken und den Gürtel enger schnallen heißen kann, wird in keiner Weise in Frage gestellt, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt. Diese genuin antiemanzipative Grundorientierung stellt den sozialpsychologischen Boden dar, auf dem das offen sozialdarwinistische Denken gedeiht. Dieses geht nur noch einen Schritt weiter, übersetzt die allgemeine Forderung nach Opferbereitschaft in die Lust andere zu opfern und entsorgt auf diese Weise die schreienden Widersprüche des Krisenkapitalismus, indem es die Ausgegrenzten als das eigentliche gesellschaftliche Problem behandelt.

Der absehbare Erfolg des neuen Sozialdarwinismus als dominante Form der Krisenverarbeitung verdankt sich nicht zuletzt seiner Fähigkeit zwei vermeintlich gleichermaßen unumstößliche Lehren aus der jüngsten Geschichte miteinander zur Deckung zu bringen. Seit dem Untergang des Realsozialismus erschien es als evident, dass der Kapitalismus die einzig realistische Alternative zum Kapitalismus darstellt. Mit dem Abschmieren des Neoliberalismus und seiner Glücksversprechen aber hat sich untergründig die Überzeugung durchgesetzt, dass es keine allgemeine Perspektive auf Wohlstand und gesellschaftlicher Teilhabe mehr gibt, sondern nur noch die Aussicht auf eine allgemeine Vernichtungskonkurrenz. Dieses Dilemma, dass der Kapitalismus keine Alternative ist, aber auch keine zu haben scheint, löst der neue Sozialdarwinismus auf, indem er aus Vernichtungskonkurrenz und Ausschluss positive Werte und gesellschaftliche Ziele macht. Der neue Sozialdarwinismus lieferte im Gegensatz zum Neoliberalismus keine konsistente Welterklärung und er hat noch viel weniger als sein Vorgänger den Charakter einer geschlossenen Bewegung. Er verbreitet sich eher wie ein allgemeines ideologisches Fluidum, das mal in hoher, mal in niedriger Konzentration die Debatten färbt und das soziale Klima vergiftet. Zwei Spielarten dominieren hauptsächlich die Szene.

Die erste Spielart knüpft unmittelbar an den Mittelstandsklientelismus des verblichenen Neoliberalismus an und entwickelt diesen zu einer Form offenen gesellschaftlichen Marodierens weiter. Schon mit der Krise der Arbeit und dem Siegeszug des Neoliberalismus hatte der Interessensgegensatz zwischen den Funktionären des Kapitals auf der einen Seite und den Verkäufern der Ware Arbeitskraft auf der anderen Seite gegenüber dem sozialdemokratischen Zeitalter seine Qualität verändert. Aus dem weitgehend symmetrischen Konflikt verschiedener Warenbesitzerkategorien ist sukzessive ein asymmetrischer geworden. Angesichts der drohenden Verknappung kapitalistischen Reichtums werfen nicht nur die mit einer starken Wettbewerbsposition ausgestatteten Gruppen alle Hemmungen über Bord, diese auch auf Kosten des Restes der Gesellschaft zu nutzen. Im Zeichen des neuen Sozialdarwinismus erhält diese Skrupellosigkeit den Rang einer höheren sozialen Tugend, wird als eine Art Notwehr legitimiert und sogar pseudo-philosophisch aufgetakelt. Es war mal wieder der unvermeidliche Zeitgeist-Surfer Peter Sloterdijk, der die Stichworte lieferte, als er in der FAZ von einer „umgekehrten Ausbeutung“ schwadronierte, worunter er Folgendes versteht: „Lebten im ökonomischen Altertum die Reichen unmissverständlich und unmittelbar auf Kosten der Armen, so kann es in der ökonomischen Moderne dazu kommen, dass die Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven leben“. Originell ist der von Sloterdijk verwandte Produktivitätsbegriff. Die Höhe des Einkommens ist das Kriterium, das zwischen Produktiven und Unproduktiven unterscheidet. Die unterbezahlte Krankenschwester ist demnach unproduktiv, der gut verdienende Immobilienmakler dagegen produktiv. Und weil die erstere den letzteren gnadenlos ausbeute, könne die Lösung nur darin bestehen, alle Steuern abzuschaffen und durch freiwilliges Mäzenatentum zu ersetzen. So lachhaft diese Idee selbst noch vom Standpunkt der kapitalistischen Verwertungslogik ist, die ohne staatlichen Rahmen gar nicht funktionieren kann (von der eben erst erfolgten Rettung des Finanzsystems durch den Staat ganz zu schweigen), so sehr stimmt Slotderdijk damit doch die Begleitmusik zur sukzessiven Auflösung des kapitalistischen Gesamtzusammenhangs an, in dem die Noch-Gewinner alle Rücksichten für all jene fahren lassen, die unter die Räder der Vernichtungskonkurrenz geraten und diese dafür auch noch verhöhnen.

Die zweite Spielart des neuen Sozialdarwinismus unterscheidet sich von dieser zynischen Affirmation der individuellen Vernichtungskonkurrenz insofern, als sie den sozialen Ausschlussdiskurs zusätzlich neo-rassistisch unterfüttert. Pate steht dabei das bereits vor zwanzig Jahren ausgebrütete Konstrukt vom „Kampf der Kulturen“, wonach „der Westen“ sich in einem erbitterten Existenzkampf mit „dem Islam“ befinde. Schien diese Wahnvorstellung auf dem Höhepunkt der Finanzmarktkrise für einen kurzen Moment in den Hintergrund zu treten und gänzlich einer strukturell antisemitischen Hetze gegen „die Spekulanten“ zu weichen, so hat sich mittlerweile gezeigt, dass sie sehr wohl auch weiterhin als Form der Krisenverarbeitung wirksam wird (vgl. dazu den thematischen Schwerpunkt von krisis 32). Paradigmatisch waren in dieser Hinsicht die rassistischen Ausfälle des SPD-Mitglieds Thilo Sarrazin, der in seinen Ausschluss- und Vernichtungsphantasien gegenüber den „ökonomisch Unbrauchbaren“ ganz unzweideutig auf „die Araber“ und „die Türken“ zielte, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur „islamischen Kultur“ wesensmäßig leistungs- und integrationswillig seien und „unseren westlichen Werten“ feindlich gegenüber ständen. Da sprach einer offen aus, was die liberalen Mittelschichten ohnehin schon lange dachten und verschaffte ihnen so die Legitimation, ihre Angst vor dem sozialen und ökonomischen Absturz mit gutem Gewissen (schließlich verteidigt man ja die Werte der Aufklärung!) rassistisch zu kanalisieren. Es ist dieser identitäre „Mehrwert“, der befürchten lässt, dass diese Spielart der ideologischen Krisenverarbeitung, die deutliche Züge einer Verschwörungstheorie mit gewissen Parallelen zum antisemitischen Wahn aufweist, in nächster Zukunft immer stärkere Verbreitung finden wird.

Natürlich gibt es auch gut gemeinte liberale und links-demokratische Kritik am neuen Sozialdarwinismus. Doch die bleibt schon deshalb hilflos, weil sie den Kapitalismus selber als den unhintergehbaren Rahmen jeder emanzipativen Anstrengung akzeptiert und mit Jürgen Habermas der Meinung ist: „Seit 1989/90 gibt es kein Ausbrechen mehr aus dem Universum des Kapitalismus; es kann nur um eine Zivilisierung und Zähmung der kapitalistischen Dynamik von innen gehen. (Die Zeit, 6.11.2008). Eine Linke, die diese Präventivkapitulation als ihre eigene Denk- und Handlungsvoraussetzung festschreibt, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Sie muss eine prinzipielle Versöhnbarkeit von kapitalistischer Logik und emanzipativer Perspektive in die herrschenden Verhältnisse hineinsehen, die dort nicht zu finden ist. Schon mit der Verkürzung von Kapitalismuskritik auf Neoliberalismuskritik, hatten die Linkskeynesianer die Unaufhebbarkeit des Kapitalismus anerkannt und sich von dem Gedankien gesellschaftlicher Emanzipation verabschiedet. Angesichts des manifesten Krisenschubs mit diesem gesellschaftlichen Grundkonsens nicht zu brechen, heißt aber, dem neuen Sozialdarwinismus de facto das Feld zu überlassen. Denn indem dieser den massenhaften Ausschluss und die soziale Brutalisierung legitimiert, trägt er der Krisenwirklichkeit auf seine Weise durchaus Rechnung und weiß sich daher in Übereinstimmung mit einem Alltagsbewusstsein, dass die Gesetze der kapitalistischen Konkurrenz längst verinnerlicht hat. Der Linkskeynesianismus kann dem nur leere Versprechen über die Reformierbarkeit des Kapitalismus entgegensetzen, an die nicht einmal mehr er selbst noch wirklich glauben mag. Demgegenüber kommt es darauf an, den Widerspruch, dass der Kapitalismus weder eine Alternative ist noch eine hat, nicht etwa zu leugnen, sondern vielmehr schonungslos offenzulegen. Das ist die Voraussetzung dafür, den neuen Sozialdarwinismus in allen seinen Spielarten als Ausdruck eben dieses Widerspruchs zu kritisieren und ihm als solchen entschlossen entgegenzutreten.

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In diesem Sinne hatten wir schon die vorherige Ausgabe der krisis dem Schwerpunkt „Kreuzzug und Jihad “ gewidmet. Die vorliegende Nummer setzt diese Thematik fort, und ergänzt sie durch weitere Aspekte zur Analyse des Krisenkapitalismus.

Den Auftakt macht Karl-Heinz Lewed, der in seinem Aufsatz Erweckungserlebnis als letzter Schrei seine in krisis 32 formulierte Kritik am Islamismus subjekttheoretisch erweitert. Er zeigt, dass der Islamismus nicht nur auf der Ebene der abstrakten Allgemeinheit und der staatlichen Souveränität als Erbe der Modernisierungsbewegung verstanden werden kann, sondern zugleich auch die irrationale Rückseite der Aufklärungsvernunft repräsentiert. Das gilt für die mit antisemitischen Wahnvorstellungen verknüpfte Konstruktion von Kollektividentitäten ebenso wie für die geschlechtliche Abspaltung, die für die moderne Subjektform konstitutiv ist. Lewed analysiert die verschiedenen Dimensionen dieser Irrationalität mit Hilfe psychoanalytischer Begriffe aus der Freudschen Narzissmustheorie und versucht diese dabei zugleich wertkritisch zu reformulieren. Der Islamismus kann so vor dem Hintergrund der psycho-sozialen Konstitution moderner Subjektivität als immanentes Moment im globalen Krisenprozess der kapitalistischen Waren- und Subjektform begriffen werden. In den globalisierten Dschihadbewegungen, die Ausdruck des fortgeschrittenen Zerfalls nationaler Bezugsräume sind, äußert sich ein in seinen eigenen Widersprüchen gefangenes Bewusstsein einer verwilderten, postmodern männlichen Subjektivität. Im Einzelnen zeigt der Autor dies anhand der Schriften der ideologischen Stammväter des Islamismus, Qutb und Maududi, sowie an der Charta der Hamas.

Ergänzend dazu analysieren Ernst Lohoff und Attila Steinberger die Hintergründe der Massenproteste im Iran und stellen dabei vor allem die Frage, wieso die Opposition trotz der eklatanten Krise des islamistischen Regimes nicht in der Lage war dieses zu stürzen. Als zentralen Grund dafür sieht Lohoff, dass die Protestbewegung keine tragfähige gesellschaftspolitische und soziale Perspektive formulieren konnte, die aus dem Dilemma der gescheiterten kapitalistischen Modernisierung hinausweist. Auf der einen Seite haben die sogenannten Reformer im Grunde nichts anderes zu bieten als einen neoliberalen Kahlschlag. Auf der anderen Seite hat das postdemokratische Regime die soziale Frage auf autoritäre und klientelistische Weise besetzt. Ein Ausweg könnte nur darin bestehen, den Kampf gegen das Regime zugleich auch als Kampf gegen die krisenkapitalistische Notstandsverwaltung zu verstehen und damit in eine weitergehende Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation einzubinden. Steinberger richtet den Blick stärker auf die institutionellen Strukturen und Widersprüche des iranischen Regimes. Er zeigt, wie es den konservativen Kräfte um Ahmadinedschad in den letzten zehn Jahren gelungen ist, die Machtbalance zu ihren Gunsten zu verschieben und die Opposition in Schach zu halten und welche sozialen, ökonomischen und politischen Widersprüche damit verbunden sind.

Auf einen anderen Aspekt der Krisenanalyse konzentriert sich der Aufsatz Streifzüge im Postfordismus von Julian Bierwirth. Er setzt sich mit den postoperaistischen Konzepten der immateriellen Arbeit und des General Intellect auseinander und zeigt, dass diese die Krise der Arbeit zwar indirekt reflektieren, aber nicht dechiffrieren können. Ausgehend von der Vorstellung, „Wert“ sei eine für alle menschlichen Gesellschaften gültige Kategorie, die durch die ideellen Projektionsleistungen der Warensubjekte mit einem jeweils unterschiedlichen Inhalt gefüllt werden kann, erscheint vielmehr die Krise des Kapitalismus als neue Wachstumspotenz. Dabei zeigen sich diese Konzepte nicht nur als untauglich, die Veränderung vielfältiger Unterdrückungsmechanismen wie etwa der patriarchalen Arbeitsteilung systematisch zu erfassen und zu kritisieren, sie spielen darüber hinaus auch systematisch den bürgerlichen Vorstellungen neoklassischer Weltbetrachtung in die Hände.

Neil Larsen würdigt in seinem Aufsatz Idiom der Krise Adornos Methode der immanenten Kritik, verweist aber auch auf deren historische Grenzen. Zwar gelingt es Adorno nicht, systematisch die negative Totalität des Werts und seine Krise zu erfassen und in sein Denken einzubinden, weil er sich nicht ganz von den transhistorischen Kategorien des traditionellen Marxismus lösen kann. Dennoch antizipiert er in gewisser Weise diese Krise in ihren Auswirkungen immer dann, wenn er sich mit den kulturellen, ästhetischen oder ethischen Besonderheiten seiner Zeit auseinandersetzt. Könnte es nicht sein, fragt der Autor, dass, wenn Adorno auf das „falsche“ Ganze durch seine Teile blickt, seine Neigung zu transhistorischen Abstraktionen durchbrochen wird? Jedenfalls dort, wo er das Einzelne als direkten kulturellen, ethischen oder ästhetischen Ausdruck dieses Ganzen begreift, mit dem es sich vermittelt?

Tomasz Konicz schließlich analysiert in seinem Beitrag Osteuropa in der Krise den Krisenverlauf in verschiedenen osteuropäischen Ländern sowie die sozialen, politischen und ideologischen Konsequenzen. Durch den EU-Beitritt wurde in den osteuropäischen Ländern eine wirtschaftliche Scheinblüte und Konsumorgie ausgelöst, die im Wesentlichen auf massenhafter privater Verschuldung und Immobilienspekulation beruhte. Im Zuge der Weltwirtschaftkrise brach diese Defizitkonjunktur jedoch zusammen, mit verheerenden Auswirkungen für privaten Konsum, Staatsfinanzen und Sozialsysteme. In Folge der damit einhergehenden Verelendung kam es einerseits zu einer Renaissance der Subsistenz- und Datschenwirtschaft wie in der Krise der 1990er Jahre. Andererseits beförderte die Entwicklung auch ein Erstarken von Antisemitismus und Antiziganismus sowie den Aufstieg rechtsextremer und faschistischer Gruppierung insbesondere in Rumänien, Bulgarien, Tschechien und der Slowakei.

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Wie immer setzen wir die Auseinandersetzung mit den Themen dieser krisis-Ausgabe über Beiträge fort, die auf unserer Homepage krisis.org publiziert werden. Diese hatte übrigens im ersten Jahr seit ihrer Neugestaltung einen Andrang von über einer halben Million Besucherinnern und Besuchern zu verzeichnen, was selbst unsere optimistischsten Erwartungen übertraf. Auch in dieser Hinsicht gilt: krisis ist mehr als eine Zeitschrift.

Ernst Lohoff und Norbert Trenkle für die Redaktion
Februar 2010

Das Editorial wurde gegenüber der Druckfassung leicht aktualisiert.