01.07.2010 

The Post-Gender Scientist

Rezension: Heinz-Jürgen Voss. Making Sex Revisited

Julian Bierwirth

Die Wertkritik hat bereits viele gesellschaftliche Ideologiebildungen erfolgreich in Frage gestellt: Dass die Produktion von Ware und Wert eine Naturkonstante sei ebenso wie die Verklärung der Arbeit zur anthropologischen Konstante oder der ArbeiterInnenklasse zum vermeintlich revolutionären Subjekt. Schließlich wurde gar die Totalität kapitalistischer Verhältnisse als eine dechiffriert, die doch bloß eine gebrochene ist und die ohne ihr verdrängtes Gegenstück keine fünf Minuten über die Runden käme. Alles, was nicht in der Abstraktion der Warenform aufgehe, für diese aber trotz allem notwendig sei, so konnte Roswitha Scholz überzeugend darlegen, werde in ein dunkles Schattenreich verdrängt, gesellschaftlich abgewertet und zu allem Überfluss auch noch weiblich konnotiert.

So richtig und wichtig diese Interventionen waren, so sehr verwundert es doch, dass sie vor zumindest einer letzten liebgewonnenen Selbstverständlichkeit stehenbleiben: dass es Männlichkeit und Weiblichkeit tatsächlich gibt, dass sie sich auf biologisch-medizinische Fakten zurückführen lassen, steht inmitten aller Kritik wie ein Fels in der Brandung. Zumindest für die Reproduktion der Menschheit, so lesen wir etwa bei Roswitha Scholz, sei die Existenz (heteronormativer) Zweigeschlechtlichkeit schlichtweg unabdingbar.

Mit seiner fast 500-Seiten starken Abhandlung Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive hat Heinz-Jürgen Voss nun eine ebenso detailreiche wie umfassende Studie zur Brüchigkeit eben dieser Vorstellung vorgelegt. Im Anschluss an queer-feministische Theorieströmungen untersucht er die Behandlung von Geschlechtlichkeit innerhalb biologisch-medizinischer Diskurse und kann dabei zeigen, dass Biologie und Medizin genau das machen, was Claus-Peter Ortlieb ganz allgemein für die mathematischen Naturwissenschaften nachgewiesen hat: sie projizieren spezifische gesellschaftliche Vorannahmen in ihre Untersuchungsanordnungen und -auswertungen und bekommen am Ende – oh Wunder! – eben diese Vorannahmen bestätigt. Weniger aus einer objektiven Existenz zweier Geschlechter lässt sich, so Voss, der stete Versuch der Wissenschaft erklären, eine eindeutige Bestimmung dessen zu leisten, was Männlichkeit und Weiblichkeit ausmache. Vielmehr sei es das gesellschaftliche Selbstverständnis, dass es eben diese zwei Geschlechter gebe und zu geben habe, die das nach Eindeutigkeit strebende Bemühen der Wissenschaft erst hervorbringe.

Im Durchgang von den antiken über frühneuzeitliche hin zu modernen, noch heute diskutierten Theorien über die biologische „Essenz“ von Geschlechtlichkeit kann Voss in der Abhandlung zeigen, wie diese Theorien sich stets in Widersprüche verstrickten und es seit dem 17. Jh. zu verstärkten Debatten über die konkrete Geschlechtseinordnung einzelner Menschen kam, seit dem 18. Jh. schließlich auch zu vermehrten operativen Eingriffen zur Vereindeutigung ihrer geschlechtlichen Zuordnung. Noch heute zeigt sich, dass Biologie und Medizin nicht wirklich in der Lage sind, die Existenz zweier Geschlechter nachzuweisen und die derzeit gängigen Theorien zudem eher nahelegen, von der Möglichkeit multipler Geschlechter auszugehen. Das zeigt sich für Voss etwa daran, dass gerade Grenzfälle geschlechtlicher Einordnung für gewöhnlich den Ausgangspunkt der Debatten darüber lieferten, was als männlich und was als weiblich zu gelten habe.

Daran anknüpftend wirbt Voss im Fazit darum, prozessuale Vorstellungen von Geschlechtlichkeit in den Blickpunkt bio-medizinischer Forschung zu nehmen und so eine Pluralität von Geschlecht denkbar zu machen. Dieses Vorhaben zieht sich wie ein roter Faden durch seine Abhandlung und stellt gewissermaßen das grundsätzliche Problem der Untersuchung dar. Beseelt von dem Vorhaben, nicht nur dichotome Geschlechterzuschreibungen, sondern zudem auch den biologisch-medizinischen Diskurs über diese zu dekonstruieren, konstruiert er eine vermeintliche Traditionslinie von auf Geschlechtergleichheit statt -differenz beruhender Forschung, die in jeder wissenschaftlichen Epoche zu konstatieren sei und die die Vorstellung etwa von Laqueur revidiere, mit der Moderne habe ein Wandel von einem Ein-Geschlechter-Modell zu einem Zwei-Geschlechter-Modell stattgefunden. Zumindest bis ins 19. Jhd. hinein sei empirisch nicht nachzuweisen, dass in der Erklärung von Geschlechtlichkeit von einer prinzipiellen Differenz der Geschlechter ausgegangen worden sei. Vor lauter Dekonstruktion fragt sich die geneigte Leserin dann ein ums andere Mal, woher denn die (an einigen Stellen durchaus benannte) Dominanz dichotomer Geschlechtertheorien kommt, wenn doch die gesamte bisherige Menschheitsgeschichte ein buntes Nebeneinander unterschiedlichster und kaum mehr klassifizierbarer Erklärungsansätze ist.

Voss überzeugt, solange er auf der inhaltlichen Ebene verweilt und die faktische Unhaltbarkeit einer dichotom-geschlechtlichen Vorstellung nachzeichnet. Aber er wird unglaubwürdig, sobald er sich (wenn auch nur implizit) auf die Ebene gesellschaftlicher Formbestimmungen bezieht. Der Zusammenhang von auf Differenz und Gleichheit beruhender wissenschaftlicher Vorstellungen und eben diesen gesellschaftlichen Formbestimmungen ist für ihn kein Thema. Dadurch verspielt er die Möglichkeit, die Verstrickung moderner Wissenschaft und Gesellschaft auch auf diesem Gebiet systematisch als Herstellung und Ausübung von Herrschaftsbeziehungen darstellen zu können. Dies gilt etwa, wenn er die Verwobenheit von gesellschaftlichen Geschlechtervorstellungen und den Geschlechtervorstellungen in Biologie und Medizin erwähnt. Denn über die Erwähnung eines Zusammenhanges (der mal von der Wissenschaft zu Gesellschaft und dann wieder von der Gesellschaft zur Wissenschaft weist) kommen seine Ausführungen kaum hinaus.

Doch auch, wenn der PoststrukturalistIn vor lauter Dekonstruktion die herrschenden gesellschaftlichen Wirkmechanismen aus den Augen zu geraten scheinen, so bleibt Making Sex Revisited doch Pflichtlektüre für alle die, die sich bislang noch sicher waren, dass die Annahme biologischer Zweigeschlechtlichkeit objektives Naturgesetz sei. In diesem Sinne: lesen!

Heinz-Jürgen Voss: Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive. Bielefeld, transcript 2010. ISBN 978-3-8376-1329-2