Interview mit Ernst Lohoff und Norbert Trenkle über die Wirtschafts- und Finanzkrise – Teil 1
Fragen von Reinhard Jellen
ursprünglich erschienen: Telepolis, Heise Zeitschriften Verlag (1.8.2012)
Schwarze Wolken am Horizont: Während in Europa die Ökonomien wie Domino-Steinchen umzufallen drohen und das Ende des Euro in Sicht ist, scheinen die politischen Maßnahmen[1] trotz ihrer absurden Dimensionen (Deutschland hat sich zum Beispiel momentan zu einer Gesamthaftung[2] von 644 Milliarden Euro verpflichtet) dagegen von immer kürzerer Wirksamkeit zu sein.
Jede Lösung des Problems scheint sich unter der Hand in ein noch größeres Problem zu verwandeln und die Wirtschafts-, Schulden- und Finanzkrise weiter zu verschärfen und zu vertiefen. Diese Krise[3], mit der Aussicht auf das Platzen der letzten verbliebenen Finanzblase, nämlich die der Staatskredite mitsamt der drohenden Inflation könnte möglicherweise die Zeit nach dem Schwarzen Freitag im Jahr 1929 wie einen gemütlichen Spaziergang am einem sonnigen Ostersonntag aussehen lassen. Ein Gespräch mit Ernst Lohoff und Norbert Trenkle[4], die mit ihren Buch Die große Entwertung[5] in unserer Zeit die historische Schranke der bürgerlichen Ökonomie verorten.
Was begreift man mit Marx an der gegenwärtigen Krise[6] besser als mit anderen Theoretikern?
Ernst Lohoff:
Dazu muss man sich zunächst einmal die gegenwärtige Krisendebatte vor Augen führen, die sich durch eine merkwürdige Diskrepanz auszeichnet. Einerseits wird konstatiert, es handle sich um eine Krise von “historischer Dimension” und alle paar Wochen findet ein neues Gipfeltreffen statt, an dessen Ende die wichtigsten Regierungschefs verkünden, sie hätten die Weltökonomie gerade vor dem Untergang gerettet. Andererseits jedoch sind die Erklärungen, die für diese dramatische Entwicklung angeboten werden äußerst dürftig. Die offizielle Krisendebatte bewegt sich auf dem Niveau des Hobbyklempners, der hier und dort ein paar Rohre flickt, während gerade der Keller voll Wasser läuft. Es werden allerlei finanztechnologische Maßnahmen diskutiert, aber eigentlich weiß niemand so recht, was dabei herauskommt, weil theoretisch fundierte Analysen des laufenden Krisenprozesses fehlen.
Die reflektierten Vertreter der Volkswirtschaftslehre räumen den Bankrott ihrer Disziplin inzwischen offen ein. Beispielsweise meinte der Harvard-Professor und ehemalige Chefvolkswirt des IWF, Kenneth Rogoff, gegenüber dem Handelsblatt[7] kürzlich, die sehr eleganten ökonomischen Modelle, die die akademische Welt seit Jahrzehnten dominierten, seien in der Praxis “sehr, sehr erfolglos gewesen. Als der große Schock kam, erwiesen sie sich als wertlos.”
Worauf ist dieses Totalversagen zurückzuführen?
Ernst Lohoff:
Wir denken, dass es schon an der erkenntnisleitenden Fragestellung liegt. Die Grundfrage unserer Krisenepoche liegt eigentlich auf der Hand. Warum muss eine Gesellschaft, deren stoffliche Produktivität geradezu explodiert, die also Güterreichtum ohne Ende herstellen kann, feststellen, dass sie angeblich “über ihre Verhältnisse gelebt hat”? Die Antwort auf diese Frage finden wir bei Marx – vorausgesetzt wir lesen ihn kritisch und gegen die Interpretationsraster des traditionellen Marxismus und der sogenannten “Marx-Renaissance”, der wir gerade beiwohnen.
Stofflicher Reichtum versus abstraktem Reichtum
Das Marxsche “Kapital” beginnt nicht mit dem Gegensatz von Kapital und Arbeit, sondern mit der “Elementarform” der kapitalistischen Gesellschaft: der Ware. Marx zeigt, dass in der Ware bereits der Grundwiderspruch angelegt ist, aus dem sich die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus im Allgemeinen und die aktuelle Krisenentwicklung im Besonderen erklären lässt. Es ist der Widerspruch zwischen zwei unterschiedlichen Reichtumsformen: dem stofflichen Reichtum, wie er sich in der Güterproduktion ausdrückt, und dem abstrakten Reichtum, wie er sich in der Kategorie des Werts darstellt und im Geld handhabbar wird.
Unter den Bedingungen der modernen Warenproduktion, also in der kapitalistischen Gesellschaft, wird stofflicher Reichtum immer nur produziert, soweit sich dieser auch als Wert darstellen lässt, soweit er also zur Kapitalverwertung beiträgt. Die Güterproduktion ist hier also immer nur Mittel zu einem ihr äußerlichen Zweck, dem Selbstzweck, aus Geld mehr Geld zu machen. Wo dieser Zweck nicht erfüllt werden kann, weil die Kapitalverwertung ins Stocken gerät, stockt auch die Produktion stofflichen Reichtums; es werden sogar Güter vernichtet, weil sie nicht verkäuflich sind, obwohl massenhaft Bedürfnisse unbefriedigt bleiben. Zum Beispiel müssen dann Menschen in Zelten wohnen, während ihre Häuser leer stehen, bloß weil sie ihre Kredite nicht mehr abbezahlen können.
Was kennzeichnet die Wirtschaftskrisen in der bürgerlichen Gesellschaft im Vergleich zu anderen Epochen?
Norbert Trenkle:
Prinzipiell lässt sich sagen, dass Krisen im Kapitalismus nicht aus Mangel, sondern aus Überfluss und inmitten des Überflusses entstehen. Das ist eine Grundverrücktheit, die die VWL nicht erklären kann, weil sie die abstrakte Reichtumsproduktion naturalisiert. Die Warenproduktion erscheint ihr als quasi-natürliche Form des menschlichen Wirtschaftens. Daher hat sie kein Auge für den inneren Widerspruch zwischen stofflicher und abstrakter Reichtumsproduktion und ist blind für die tieferen Ursachen[8] des laufenden Krisenprozesses.
“Strukturelle Krise der realen Wertproduktion”
Um welche Art Wirtschaftskrise handelt es sich bei der gegenwärtigen eigentlich?
Ernst Lohoff:
Marx unterscheidet zwischen allgemeinen und besonderen Krisen und konstatiert: “Alle Widersprüche der bürgerlichen Produktion kommen in den allgemeinen Weltmarktkrisen kollektiv zum Eklat, in den besonderen Krisen nur zerstreut, isoliert einseitig.” 1. Keine Krise in der Geschichte des Kapitalismus hat sich den Begriff der allgemeinen Krise dermaßen redlich verdient, wie die gegenwärtige, die seit dem Herbst 2008 manifest geworden ist. Es handelt sich dabei um ganzes System von Teilkrisen, die sich gegenseitig bedingen, überlagern und aufeinander aufbauen.
Vor allem zwei Hauptschichten muss man analytisch auseinander halten. Zunächst einmal gibt es eine strukturelle Krise der realen Wertproduktion. Die wirkt untergründig schon seit den 1970er Jahren, wurde nie überwunden und lässt sich auch gar nicht überwinden, denn sie resultiert daraus, dass die Produktivität mittlerweile zu hoch ist, um den Prozess der Kapitalverwertung in Gang zu halten. Kapital muss sich vermehren, denn sonst hört es auf Kapital zu sein, und dazu muss eine beständig wachsende Zahl von Arbeitskräften in der Produktion von Waren vernutzt werden. Gleichzeitig wird aber durch die Konkurrenz ein unaufhaltsamer Produktivitätswettlauf angestachelt, der im Kern darauf hinausläuft, permanent Arbeitskraft durch Sachkapital zu ersetzen. Das ist der innere Grundwiderspruch der kapitalistischen Produktionsweise, der sich letztlich gegen diese selbst richten muss. Wenn nämlich die Produktivität so hoch ist, dass massenhaft Arbeitskraft überflüssig gemacht wird, werden die Grundlagen der Kapitalverwertung in Frage gestellt. Genau das macht den Kern der grundlegenden Strukturkrise aus, in die das kapitalistische Weltsystem seit dem Ende des Nachkriegsbooms hineingeraten ist.
Und was ist die andere wesentliche Komponente der Krise?
Norbert Trenkle:
Diese eben beschriebene Krise ist jahrzehntelang durch die Aufblähung der Finanzmärkte überspielt worden. Die gesamtgesellschaftliche Kapitalakkumulation kam nach den Krisen der 1970er Jahre wieder auf Touren und die Weltwirtschaft fand zurück auf die Wachstumsspur. Dieses Wachstum wurde aber nicht mehr von tatsächlicher Wertproduktion durch Arbeitskraftvernutzung getragen, sondern durch die explosionsartige finanzindustrielle Vermehrung von Kapital. Indem die Finanzindustrie immer mehr Eigentumstitel (Schulden, Aktien, Derivate) in Umlauf brachte, gelang ihr das Kunststück zukünftigen Wert, also Wert, der noch gar nicht produziert ist und vielleicht nie produziert werden wird, in abstrakten Reichtum zu verwandeln.
Diese Kapitalvermehrung durch Wertantizipation, die längst astronomische Ausmaße angenommen hat, ist aber selber in die Krise geraten. Die permanente Vermehrung von Eigentumstiteln, ohne die der Kapitalismus nicht mehr lebensfähig ist, läuft zwar nach wie vor, ja sogar beschleunigt weiter, aber nur weil dieses Geschäft jetzt von den Staaten und vor allem den Zentralbanken betrieben wird. Die Staaten treiben ihre Verschuldung in die Höhe und die Zentralbanken gewähren den Privatbanken exzessiv Kredit zu faktischen Nullzinsen, während sie gleichzeitig Staatspapiere aufkaufen, die sonst keiner mehr kauft. Doch auch hier werden langsam die Grenzen erreicht, wie etwa die Eurokrise[9] zeigt.
“Zentralbanken übernehmen die Risiken”
Wie hat sich im Zuge der Finanzkrise die Rolle der Zentralbanken verändert?
Ernst Lohoff:
Beim Stichwort “fiktives Kapital” denkt jeder zunächst einmal vor allem an das in den Händen privatwirtschaftlicher Akteure sich bildende fiktive Kapital, an die Ansprüche von Geschäftsbanken gegenüber ihren Kreditnehmern, an Aktien und Staatspapiere, die sich in der Hand von Versicherungen, Rentenfonds oder Privatanlegern befinden. In dem Maß wie die Währungen vom Gold entkoppelt wurden, ist aber noch einen weiterer Akteur für die finanzindustrielle Geldkapitalbildung wichtig geworden nämlich die Zentralbank. Geldpolitik bedeutet nichts anderes, als dass die Währungshüter darauf Einfluss nehmen, in welchen Umfang fiktives Geldkapital entsteht. Das kann indirekt geschehen, etwa durch die Festlegung von Mindestreserven, die die Geschäftsbanken nicht verleihen dürfen.
Viel wichtiger ist aber etwas anderes: Die Zentralbanken treten selber als Marktteilnehmer auf den Geld- und Kapitalmärkten auf und häufen fiktives Kapital an. Die sogenannte “Geldschöpfung” besteht darin, dass die Zentralbanken den Geschäftsbanken Kredite gewähren, also Zahlungsversprechen ankaufen. Senken die Notbanken die Zinsen für diese Kredite, dann befeuert das die Bildung von fiktivem Kapital. Die Erhöhung der Leitzinsen wirkt dagegen drosselnd. Diese Zinspolitik hat bei der der Überwindung der bisherigen Kriseneinbrüche in der Ära des fiktiven Kapitals eine zentrale Rolle gespielt. Auch in der schweren Krise der “New Economy” zu Anfang des Jahrtausends gelang es, die privatwirtschaftliche Akkumulation von fiktivem Kapital durch drastische Leitzinssenkungen wieder auf Touren zu bringen.
Gefüttert durch billige Kredite entstand die Immobilienblase, die auch die schwächelnde Realwirtschaft wieder anfeuerte. In der jetzigen Krise sieht das jedoch anders aus. Um den Kollaps des Finanzsystems zu verhindern müssen die Notenbanken zusätzlich zu einer Nullzinspolitik, die den Rohstoff für neue Blasen liefern soll, auch sukzessive immer mehr Altlasten übernehmen und im großen Stil Kredite gewähren, wo sonst niemand mehr Kredite gewährt. Beim akuten Krisenschub im Herbst 2008 beschränkte sich das noch darauf, den zusammengebrochenen Interbankenmarkt zu ersetzen. Normalerweise leihen sich die internationalen Banken gegenseitig ganz kurzfristig Geld, für das sie gerade aktuell selber keine Verwendung haben. Nach der Pleite von Lehmann Brothers aber war das gegenseitige Misstrauen dermaßen groß, dass diese Form des Geldflusses versiegte und die Privatbanken nur noch bei den Zentralbanken Kredit bekamen.
Gravierender noch als diese kurzfristige Rettungsaktion ist, dass die Zentralbanken mittlerweile im großen Stil Staatsanleihen aufkaufen müssen, um zu verhindern, dass der Markt für diese Papiere zusammenbricht und die Staaten reihenweise bankrottieren. Aber auch die Bankenkrise schwelt weiter. Auch hier übernehmen die Zentralbanken die Risiken, indem sie die notleidenden Geschäftsbanken mit langfristigen Krediten versorgen, die im Falle einer Pleite selbstverständlich abgeschrieben werden müssen.
Ob die US-amerikanische Fed oder die EZB, alle Zentralbanken sind dabei sich in Bad Banks zu verwandeln. Sie pumpen wie wild Geldkapital ins Bankensystem, während sich gleichzeitig die Qualität ihrer Währungsreserven rapide verschlechtert, denn diese bestehen zu einem immer größeren Teil aus unverkäuflichen Schrott-Papieren. Zwar haben diese Notaufkäufe von Zahlungsversprechen in den letzten vier Jahren den Kollaps des Finanzsystems verhindert, doch ist damit der Entwertungsbedarf nur in die Zukunft verschoben und dabei zugleich vergesellschaftet worden.
“Die Frage ist nicht, ob es zu inflationären Prozessen kommt, sondern wann”
Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit einer Inflation ein?
Norbert Trenkle:
Die Geldwertstabilität wird von zwei Seiten gefährdet: Auf der einen Seite speisen die Zentralbanken immer mehr Geldkapital in das Bankensystem ein. Solange dieses Geldkapital bei den Banken und deren Kunden wieder als Kapital Verwendung findet, also dem Ankauf von Eigentumstiteln dient oder produktiv investiert wird, bleibt das ohne große Folgen für die Geldwertstabilität. Das ändert sich indes, wenn es in die Gütermärkte fließt und dort als bloßes zusätzliches Geld den gehandelten Waren gegenübersteht. Sobald das in größeren Umfang geschieht, weil profitable Kapitalanlagen fehlen, muss sich die Aufblähung des Finanzüberbaus in eine Entwertung des Geldmediums, also in Inflation, übersetzen. Gleichzeitig wird es, wie schon angedeutet, früher oder später zu einer offenen Entwertung der Währungsreserven kommen. Einer aufgeblähten Geldmenge stehen dann abgeschriebene Forderungen gegenüber.
Die Frage ist vor diesen Hintergrund also nicht, ob es zu inflationären Prozessen kommt, sondern wann diese einsetzen und wie die genaue Verlaufsform aussieht. Bis dato beschränkt sich die Teuerung, zumindest hierzulande, auf Edelmetalle und Immobilien, die als Ausweich-Geldanlage in der Welt der Sachgüter dienen. Im alltäglichen Verkehr macht sich das jetzt schon in Gestalt steigender Mieten bemerkbar. Dabei wird es aber kaum bleiben.
In gewisser Weise bedeutet das übrigens eine Rückkehr zu dem Zustand, in dem sich die Weltwirtschaft vor dem großen Take-off des fiktiven Kapitals befand. Die 1970er Jahre waren in den kapitalistischen Kernländern von einem Phänomen gekennzeichnet, das die Ökonomen Stagflation tauften. Schwachen Wachstumsziffern standen jährliche Inflationsraten von um die 10 Prozent gegenüber. Allerdings haben sich gegenüber den damaligen Verhältnissen die Dimensionen gehörig verschoben. Aus der Wachstumsschwäche dürfte eine manifeste Depression und aus der Inflation eine Hyperinflation werden. Die Krisenverschiebung hat ihren Preis.
In Teil 2 des Gesprächs äußern sich Ernst Lohoff und Norbert Trenkle zum “fiktiven Kapital” und die Folgen der “Sparpolitik”
Fußnoten
1) MEW 26.2. S.535