17.12.2012 

Ein Job, zwei Chefs



Ernst Lohoff

Aus zwei Gründen ist Deutschland bislang wesentlich besser durch die große Krise gekommen als die meisten anderen Verwertungsstandorte. Zum einen profitiert die hiesige Wirtschaft ihrer traditionellen Exportorientierung wegen in hohem Maß von den gigantischen Konjunkturprogrammen, die seit 2010 in China, den USA und vielen anderen Ländern aufgelegt wurden. Zum anderen fördern der Zustrom von Fluchtkapital und die exzessive Geldpolitik der EZB, die den hiesigen Standort mit billigem Geld fluten, das Wachstum. Gemessen an dem Wirtschaftsabsturz, den das unter exorbitanten Zinssätzen ächzende Südeuropa in den vergangenen drei Jahren durchgemacht hat, erscheint Deutschland fast schon wie eine Insel der Glückseligen.

Auch wenn sich die deutsche Sonderkonjunktur inzwischen unübersehbar ihrem Ende zuneigt, nehmen Politiker und sogenannte Wirtschaftsweise das zum Anlass, Deutschland als leuchtendes Vorbild anzupreisen. Obwohl eigentlich andere Faktoren für die relative günstige Situation der deutschen Wirtschaft verantwortlich sind, ist das Loblied auf den deutschen Weg vor allem ein Loblied auf die hiesige rigide Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Spanien, Italien und vor allem Frankreich, so das Ammenmärchen, stünden nur deshalb so schlecht da, weil sie es versäumt hätten, rechtzeitig prekären Arbeitsverhältnissen Tür und Tor zu öffnen und den Sozialstaat zurückzufahren. Hohe Zeit, das Versäumte nachzuholen, oder wie die gutbürgerliche Zeit dieser Tage fordernd titelte: »Hartz IV für Paris«. Die bisherigen Streichungs- und Entsicherungsorgien dürften nur ein Anfang gewesen sein.

Die Vorstellung, der Standort Europa ließe sich durch Billiglohn und Sozialdumping retten, ist absurd. Aber auch offensichtlicher ideologischer Unfug kann bei der Durchsetzung gesellschaftlicher Veränderung hilfreich sein. Der neoliberale Marktradikalismus hat zwar mit dem großen Krisenschub seine ideologische Vorherrschaft eingebüßt, die im neoliberalen Zeitalter begonnenen Prozesse der Umgestaltung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse laufen aber beschleunigt weiter. Gerade die Krisenverwaltungspolitik sorgt dafür, dass sie auch bisher halbwegs verschont gebliebene Regionen und Schichten mit voller Wucht treffen. In den neunziger Jahren waren »Selbstverantwortung« und »Flexibilität« noch das besondere Markenzeichen der Gewinnerregionen und -schichten gewesen. Inzwischen verlangen Kapital und Politik diese den Arbeitskraftverkäufern umso gnadenloser ab, je miserabler deren jeweilige Wettbewerbsposition ist. Vor allem die Schwächsten werden aus den kollektiven Abhängigkeitsverhältnissen herausgelöst, um als isolierte Einzelne dem Arbeitsmarkt ausgeliefert zu werden.

Ein zentrales Moment dieser Entwicklung stellt der Siegeszug der Leiharbeit dar. Deren Vormarsch fügt sich bruchlos in den allgemeinen trend zum »Outsourcing« ein. Seit den achtziger Jahren sind Unternehmen immer mehr dazu übergegangen, vor allem arbeitsintensive Fertigungsschritte und bestimmte Dienstleistungen (Kantinenwesen, Reinigung, Forschung) auszulagern. Die Einschaltung von »Personaldienstleistern« erlaubt die Ausweitung dieses Prinzips auf die im Unternehmen selbst angewandte Arbeitskraft. Betriebswirtschaftlich betrachtet hat alles Outsourcing den Zweck, Lohngefälle und Unterschiede im Standard der sozialen Absicherung zur Kostenminimierung zu nutzen. Der Ersatz eigener Arbeitskräfte durch geleastes Humankapital ist vom Standpunkt betriebswirtschaftlichen Kalküls in erster Linie insofern attraktiv, als er Unternehmen in den Stand setzt, nicht mehr benötigte Arbeitskräfte jederzeit reibungslos und billig zu entsorgen.

In der neoliberalen Phase ist eine ganze Reihe neuer Instrumente entstanden, mit deren Hilfe sich das Lohnniveau drücken und soziale Sicherungssysteme unterlaufen lassen. Die Leiharbeit wälzt das traditionelle Gefüge von Kapital und Arbeit indes tiefgreifender um als Minijob und Co. Was die Verwandlung in einen Leiharbeiter für den einzelne Lohnarbeiter bedeutet, liegt auf der Hand. Von den Anfängen des Kapitalismus bis zum Ende der fordistischen Phase blieb das Kapital, an das ein abhängig Beschäftigter seine Arbeitskraft verkaufte, stets zugleich das Kapital, das diese Arbeitskraft anwendete. Die Arbeitskraftverkäufer standen damit immer nur einem Kapital gegenüber. Beim Leiharbeiter treten die Kapitalfunktionen Ankauf und Nutzung der Ware Arbeitskraft auseinander, und damit tritt der Leih­arbeiter gleichzeitig mit zwei verschiedenen Kapitalien in Beziehung.

Aber nicht nur der einzelne Leiharbeiter findet sich in einer bis dato in der Geschichte der doppelt freien Lohnarbeit unbekannten Situation wieder; auch die Belegschaft, die Gesamtheit aller von einem Kapital angewandten Arbeitskräfte, erhält eine neuartige Struktur. Die Einführung von Zeitarbeit führt dazu, dass ihr plötzlich bei verschiedenen Kapitalisten unter Vertrag stehende Arbeitskraftverkäufer angehören – mit weitreichenden Folgen für die Verhandlungsmacht der Lohnabhängigen.

Die relative starke Stellung der Arbeitskraftverkäufer in früheren Phasen kapitalistischer Entwicklung beruhte nämlich auf einer unerwünschten Nebenwirkung des kapitalistischen Kommandos. Kein Kapital kann die angekauften Arbeitskräfte verwerten, ohne diese miteinander kooperieren zu lassen, ohne sie zu einer kollektiven Arbeitskraft zusammenzufügen. Diese vom Kapital erzwungene Kooperation führt aber Warenverkäufer zusammen, die diesem gegenüber verwandte Einzelinteressen haben (hoher Lohn, gute Arbeitsbedingungen). In dem Maß, wie die Nutzung der Arbeitskraft von ihrem Ankauf entkoppelt wird und das kapitalistische Arbeitskommando bei unterschiedlichen Kapitalisten angestellte Arbeitskräfte zusammenfügt, löst sich diese Interessenkonvergenz auf. Damit wird das traditionelle Fundament aller betrieblichen und gewerkschaftlichen Organisation untergraben.

(zuerst erschienen in Jungle World 50/2012)