01.08.2012 

Pauschalausfälle

Krankenhäuser werden auf Rentabilität getrimmt – mit lebensgefährlichen Folgen

von Peter Samol

Seit 1977 reißt in Deutschland die Kette der „Gesundheitsreformen“ nicht ab. Anlass ist jedes Mal die Senkung der so genannten Lohnnebenkosten. Der Löwenanteil des Gesundheitssystems wird nämlich durch Krankenversicherungsbeiträge finanziert, die auf der Grundlage gesetzlich festgelegter Prozentsätze auf die Einkünfte der Beschäftigten erhoben werden. Hinzu kommt der Arbeitgeberanteil, der früher einmal ebenso hoch war wie derjenige der Beschäftigten, im Jahr 2010 jedoch eingefroren wurde, so dass seitdem nur noch der Anteil der Beschäftigten steigen kann. Deren Einkünfte stagnieren allerdings seit über zehn Jahren. Zugleich sinkt die Anzahl der Normalverdiener stetig, weil immer mehr schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse um sich greifen. All das führt zum kontinuierlichen Schrumpfen der Krankenversicherungseinnahmen. Gleichzeitig kommt es im Gesundheitsbereich zu immer neuen Produktinnovationen, die zu einer Ausweitung des Gesundheitsangebotes führen. Während so das Angebot an Gesundheitsleistungen zunimmt, schrumpft zugleich die – über die Krankenversicherungen vermittelte – zahlungskräftige Nachfrage. In dieser Situation muss die Politik entweder die Beiträge erhöhen und immer mehr Lohnanteile in die Krankenversicherung umleiten oder aber die Kosten für Gesundheitsleistungen deckeln. In der Regel wird der zweite Weg beschritten.

Diagnosebezogene Fallpauschalen
Ein besonders markanter Einschnitt erfolgte im Jahr 2003. Seitdem beruhen die Einnahmen der deutschen Krankenhäuser auf der so genannten DRG-Systematik. DRG meint „Diagnosis Related Groups“, (dt. etwa: „Diagnosebezogene (Fall-)Gruppen“). Diese Systematik sieht vor, dass jeder Patient aufgrund einer oder mehrerer Diagnosen einer bestimmten Fallgruppe zugeordnet wird, für die das Krankenhaus dann einen festgelegten Geldbetrag erhält. Egal, welche Kosten tatsächlich anfallen! Die Höhe der pauschalen Sätze richtet sich nach dem Gesamtbudget der Krankenkassen, das aufgrund der oben beschriebenen Entwicklung der Einnahmen immer geringer ausfällt.

Seit der Einführung des Fallpauschalensystems musste bereits ein Fünftel aller Häuser aus Geldmangel schließen, ein Drittel der verbleibenden Kliniken steht auf der Kippe (Hontschik 2008, S. 13). Mittlerweile sind die Krankenhäuser „mehr mit dem Überleben am Markt als mit Überleben ihrer Patienten befasst“ (Schulte-Sasse 2009, S. 554). Medizinische Entscheidungen weichen also der Einhaltung betriebswirtschaftlicher Ziele. Eine der offenkundigsten Erscheinungsformen dieser Entwicklung ist die galoppierende Privatisierung von Krankenhäusern. In den letzten 20 Jahren ist in Deutschland die Anzahl der öffentlichen Krankenhäuser um 40 Prozent gesunken, während die Zahl der privaten Kliniken sich verdoppelt hat und mittlerweile fast genauso hoch ist wie die der öffentlichen. Aber in beiden findet eine wachsende ökonomiekonforme Zurichtung statt. Dabei muss vor allem a) die Verweildauer der Patienten möglichst kurz ausfallen. Im Jahr 2010 war diese im Durchschnitt nur noch halb so lang wie im Jahr 1995 (Bauer und Bittlingmayer 2010, S. 727). Immer öfter fragen Patienten entsetzt, warum sie schon entlassen werden. Etwa wenn sie schwer krebskrank, mit künstlichem Darmausgang und ohne Abschlussgespräch von einem Tag auf den anderen zurück nach Hause sollen (Rippegather 2008, S. 29). Eine weitere Reaktionsform der Kliniken besteht b) in der Schließung unrentabler Abteilungen. Das Fallpauschalensystem fördert somit eine Spezialisierung der Kliniken. Die Folge: Patienten mit bestimmten Diagnosen müssen oft hunderte von Kilometern zurücklegen, bevor sie ein Krankenhaus finden, das ihr Leiden behandeln kann. Die Spezialisierung geht auch zu Lasten der Notfallmedizin, weil sich auch die Zahl der Notarztstandorte verringert. Das wiederum verringert durch längere Anfahrtswege die Überlebenschancen von Unfallopfern und Akutfällen. Nicht zuletzt gibt es auch einen starken Anreiz, c) die Behandlung unrentabler Krankheitsbilder möglichst zu verweigern. Patienten, deren Erkrankungen mit profitablen Diagnosen einhergehen, sind schließlich viel attraktiver als Kranke, für die lediglich geringfügige Fallpauschalen zur Verfügung stehen.

Industrialisierung der Krankenhäuser
Unter der Ägide der Fallpauschalen werden die Patienten immer schneller von immer weniger Personal durch die Behandlungsprogramme geschleust. Der Aufenthalt im Krankenhaus verwandelt sich dabei zusehends in eine Kette fabrikmäßiger Fertigungsschritte: „Eigentlich sind Klinikbetten so zu betrachten wie der Fuhrpark einer Spedition“, äußert ein Klinikmitarbeiter; Betten sind in diesem Vergleich die Lastwagen und Patienten die Ladung (Wettig 2011, S. C188). Zugleich wird massiv beim Personal gespart. Seit die gesetzliche Pflegepersonalregelung Anfang der 1990er Jahre abgeschafft wurde, darf jedes Krankenhaus beliebig wenig Schwestern und Pfleger einsetzen, und tatsächlich wurde die Personaldecke weit über die Grenzen des Vertretbaren hinaus ausgedünnt. Das verbleibende Personal sieht sich zu permanenten Überstunden gezwungen – unbezahlt und häufig ohne Freizeitausgleich. Ferner ufert die Arbeitshetze aus, hinzu kommen unerwartete Dienstplanänderungen und relativ geringe Bezahlung. All das treibt viele engagierte Schwestern und Pfleger in die Verzweiflung. Viele werden selbst krank, andere entwickeln zunehmend eine „Jobmentalität“ (Bauer und Bittlingmayer 2010, S. 727) mitsamt einer „Lohnarbeitergleichgültigkeit“, wie man sie zuvor nur aus klassischen Industriebetrieben kannte. Auch die Fluktuation nimmt zu. Eine Pflegekraft arbeitet im Durchschnitt nur noch fünf Jahre im erlernten Beruf, dann wechselt sie den Job oder macht Familienpause (Tinnappel 2008, S. D2). Auch Ärzte leiden unter miserablen Arbeitsbedingungen. Häufig werden gesetzliche Ruhezeitenregelungen umgangen, um Ärzte möglichst rund um die Uhr einzusetzen. So gelten etwa Rufbereitschaften, bei denen die Ärzte nicht vor Ort, sondern lediglich erreichbar sein müssen, als Ruhezeit. Es kommt aber immer häufiger vor, dass Mediziner während dieser Zeit zu „Notfall-Operationen“ gerufen werden, die in Wirklichkeit schon lange vorher geplant waren. So sind Arbeitsschichten von bis zu 27, in Extremfällen sogar bis zu 72 Stunden möglich. Alles in allem arbeiten nur fünf Prozent der Krankenhausärzte weniger als 40 Stunden in der Woche. Trotzdem bleibt immer weniger Zeit für die Patienten. Das liegt nicht nur an den wachsenden Fallzahlen, sondern auch an wuchernden Dokumentationspflichten. Die Diagnoseschlüssel mit ihren Fallpauschalen müssen genau festgehalten werden, hinzu kommen noch akribische Dokumentationspflichten für die Behandlungen sowie für Effizienzkontrollen, Qualitätssicherung etc. Viele Ärzte benötigen bis zu 60 Prozent ihrer Arbeitszeit für die Dokumentation (siehe Wettig 2011, S. C187). Seit vielen Jahren führen unterschiedlichste Befragungen denn auch regelmäßig zu dem Ergebnis, dass jeder dritte Arzt seinen Beruf nicht noch einmal ergreifen würde.

Gesundheitsrisiko Krankenhaus
Wenn das ökonomische Überleben der Gesundheitseinrichtung von Produktionszahlen abhängt, wird die Sicherheit der Patienten zweitrangig. Und da Zeit im Grunde nur noch für Verrichtungen zugestanden wird, die abgerechnet werden können, sinkt die „Kontakthäufigkeit“ des Personals mit den Patienten rapide. Letztere bleiben viel zu lange sich selbst überlassen, obwohl jede nicht wahrgenommene Veränderung an ihrem Zustand lebensbedrohliche Konsequenzen haben kann. Bei den Ärzten häufen sich auch die „Kunstfehler“. Durch sie sind im Jahr 2010 ca. 2000 Menschen in Deutschland ums Leben gekommen (Sauer 2012, S. 4). Das ist aber weniger auf mangelnde „Kunstfertigkeit“ der Ärzte als vielmehr auf unsägliche Arbeitsbedingungen zurückzuführen. So befindet sich z.B. ein Chirurg nach einer 27-Stunden-Schicht im Operationssaal in einem Erschöpfungszustand, der mit einem Alkoholgehalt von etwa 1,0 Promille im Blut zu vergleichen ist (Mitsch 2002, S. C1723). Ferner werden Patienten aufgrund des Kostendrucks geradezu systematisch höchst gefährlichen Situationen ausgesetzt. Z.B. wenn die Klinikleitungen immer kürzere Wechselzeiten in den Operationssälen vorgeben, um deren Auslastung zu erhöhen: „Eingeschlossen in die zu verkürzende Wechselzeit ist die Zeit der Narkoseeinleitung (‚Starten’) und Narkoseausleitung (‚Landen’). Dabei kann es auch passieren, dass Patienten schwer gehirngeschädigt aus dem Narkosezimmer kommen“ (Schulte-Sasse 2009, S. 560). Solche „Behandlungsfehler sind das Ergebnis von Systemfehlern im Krankenhaus, die in ihren gefährlichen Auswirkungen zwar bekannt, aber aufgrund des ökonomischen Drucks beibehalten oder sogar neu eingeführt werden“ (ebd. 561).

Noch gravierender ist das Problem abnehmender Hygiene. Je nach Schätzung liegt die Zahl der Toten, die auf eine Infektion durch gefährliche Klinikkeime zurückzuführen sind, zwischen 10.000 und 40.000 pro Jahr. Sie wären vermeidbar, wenn simple Maßnahmen wie fachkundige Raumpflege und gründliches Händewaschen eingehalten würden. Auch für diese Mängel sind die Einsparungen verantwortlich. Die Reinigung wird meist von Firmen wahrgenommen, deren Personal sich nicht mit den Hygienestandards von Krankenhäusern auskennt; auch Lerneffekte gibt es selten, weil die Putzkolonnen zu häufig wechseln. Das zusammengeschrumpfte Klinikpersonal selbst hat kaum noch die Zeit, zwischen zwei Patienten die Hände zu waschen. Und all das vor dem Hintergrund der Zunahme antibiotikaresistenter Keime. Besonders berüchtigt ist der „Methicillin-resistente Staphylococcus aureus“ (kurz: MRSA), der Lungenentzündungen und schwere Wundinfektionen erzeugen kann und gegen nahezu alle Antibiotika unempfindlich ist. Aus den beschriebenen Gründen hat er sich in den deutschen Krankenhäusern regelrecht breit gemacht (Karisch 2012, S. 2).

Keine Änderung in Sicht
An all dem wird sich in absehbarer Zeit nichts bessern. „Mitarbeiter abbauen plus Leistung steigern“ (Rippegather 2012, S. D2) bleibt die Devise der Klinikleitungen, und weitere „Anstrengungen zur Stabilisierung des Unternehmensergebnisses“ gelten als unverzichtbar (ebd.). Angesichts einer weiteren Schrumpfung der gesellschaftlichen Wertmasse, die sich – vermittelt über stagnierende Löhne, wachsendem Prekariat und daher sinkender Versicherungseinnahmen – letztlich auch in sinkenden Fallpauschalen ausdrückt, befinden sich die Krankenhäuser unter weiter steigendem Kostendruck, den sie nur an das Personal und die Patienten weitergeben können. Daran ändern auch die derzeitigen Überschüsse der Krankenkassen nichts. Denn abgesehen davon, dass sie nur Ausdruck eines vorübergehenden Konjunkturhochs in einigen wenigen bessergestellten EU-Ländern sind, sollen sie abgeschöpft und zur Verringerung des Staatsdefizits herangezogen werden.

Literatur
Bauer, Ullrich; Bittlingmayer, Uwe H.: „Ja, das kostet aber Geld“. In: Schultheis, Franz; Vogel, Berthold; Gemperle, Michael (Hg.): Ein halbes Leben. Konstanz 2010, S. 664-730
Hontschik, Bernd: Familienbande. In: Frankfurter Rundschau 15.03.2008, S. 13
Hontschik, Bernd: Kahlschlag. In: Frankfurter Rundschau 03.03.2012, S. 22
Karisch, Karl-Heinz: Fluch der Wunderkugeln. In: Frankfurter Rundschau 02.03.2012, S. 2
Mitsch, Herbert: Themen der Zeit. In: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 99, Heft 33, 16.07.2002, S. 1723c
Rippegather, Jutta: Schwerkranke ohne Arztbrief entlassen. In: Frankfurter Rundschau 13.10.2008, S. 29
Rippegather, Jutta: Sorge um die Patienten. In: Frankfurter Rundschau 29.02.2012, S. D2
Sauer, Stefan: Wenn Hygiene zu teuer ist. In: Frankfurter Rundschau 17.02.2012, S. 4
Schulte-Sasse, Uwe: Produktionsdruck im Operationssaal gefährdet Patienten. In: Anästhetische Intensivmedizin, Nr. 50 2009, S. 552-563
Tinnapel, Friederike: Bloß nicht selber krank werden. In: Frankfurter Rundschau 06.09.2008, S. D2
Wettig, Jürgen: Die Melancholie des Psychiaters. In: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 108, Heft 5, 04.02.2011, S. C187-C188

(erschienen in: Streifzüge 55/2012)