Stephan Grigat
Stephan Grigat über ein neues Buch, das die der aktuellen Krisendiskussion zugrunde liegenden Basisannahmen und -kategorien in Frage stellt.
Kapital und Staat bestehen fort, die Kritik an ihnen scheint hingegen zum Erliegen gekommen zu sein. Kritisiert wird heute sowohl in akademischen als auch in politischen Diskussionen in der Regel nicht, wie noch bei Karl Marx, die Vergesellschaftung über den Wert, sondern es werden nur mehr sogenannte ‚Auswüchse’ einer Gesellschaft kritisiert, die nach den Verwertungsimperativen des Kapitals und den Herrschaftsimperativen des Staates eingerichtet ist. Nach einem Jahrzehnt der weitgehenden Abwesenheit von kapitalismuskritischen Tönen in den von größeren Bevölkerungskreisen wahrgenommenen Debatten in Folge des Niedergangs des autoritären Staatssozialismus kam es Ende der 1990er Jahre zu einer Renaissance kapitalismuskritischer Diskussionen und in Form der globalisierungskritischen Bewegung auch zu antikapitalistischen Protesten. Eine zweite Welle solch eines modischen Antikapitalismus ist seit einigen Jahren angesichts der aktuellen Krisenerscheinungen zu beobachten. Diese Renaissance kapitalismuskritischer Töne ging erstens mit einer Wiederkehr von Politikkonzepten einher, die den Staat gegen den Markt in Anschlag bringen, anstatt Kritik der politischen Ökonomie, also Kritik von Kapital und Staat zu betreiben. Zweitens war für diese Renaissance antikapitalistischer Artikulation eine Substituierung von Kritik durch Ressentiment charakteristisch, bei der die Kritik des Kapitalverhältnisses durch die Markierung einzelner Kapitalisten ersetzt wurde.
Doch einige Strömungen sozialwissenschaftlicher Kritik standen derartigen Entwicklungen stets ablehnend gegenüber und haben versucht, unter expliziter Bezugnahme auf Marx die gängigen Spielarten des Marxismus und ausgehend von der Kritik der politischen Ökonomie aktuelle Bewegungen wie die Globalisierungsgegner oder das Occupy-Movement zu kritisieren. Eine dieser Strömungen konnte in den letzten 20 Jahren unter dem Titel »fundamentale Wertkritik« einige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Zwei zentrale Autoren dieser Strömung haben nun eine Intervention in die aktuelle Debatte über die Krise und ihre Ursachen vorgelegt. Ernst Lohoff und Norbert Trenkle, deren ausführliche Studien bisher vor allem in der Theoriezeitschrift Krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft erschienen sind, wollen in Die große Entwertung, die der aktuellen Krisendiskussion zugrunde liegenden Basisannahmen und -kategorien in Frage stellen und in die Kritik einbeziehen. Sie wenden sich gegen »plumpe Finanzmarktschelte« und »wild-wuchernde, teils antisemitische Verschwörungstheorien«. Das Buch ist ein Einspruch gegen die Vorstellung, die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise sei das Resultat von übersteigerter Spekulation oder einfach eine Folge der Verschuldung, die nun durch eisernes Sparen, also ein massives Verarmungsprogramm für die abhängig Beschäftigten, in den Griff zu bekommen sei: »Genau umgekehrt ist die gigantische Aufblähung der Finanzmärkte selber Ausdruck davon, das seit dem Einsetzen der dritten industriellen Revolution […] die Wertproduktion absolut rückläufig ist. Die dadurch ausgelöste Strukturkrise […] konnte nur durch die ungeheure Auftürmung von ‚fiktivem Kapital’ an den Finanzmärkten überspielt und verschoben werden.«
Grundlage ihrer Krisentheorie ist die Annahme eines Grundwiderspruchs des Kapitalverhältnisses: Der kapitalistische Selbstwiderspruch, abstrakte Arbeit als Wertsubstanz zu benötigen, sie aber permanent zu minimieren, sei unlösbar. (In der Kritik der politischen Ökonomie wird zwischen konkreter Arbeit, wie beispielsweise Schneidern, Tischlern oder Programmieren, die einen konkreten Gebrauchswert mit einer bestimmten Nützlichkeit für den Menschen schafft, und – vereinfacht gesagt – der abstrakten, zeitlich messbaren Verausgabung von Muskelkraft und Hirntätigkeit unterschieden, auf die es in der kapitalistischen Produktionsweise in erster Linie ankommt.) Die Produkte würden, insbesondere auf Grund der ungeheuren Entfaltung der Produktivkräfte in der mikroelektronischen Revolution, das heißt, in erster Linie durch die fortschreitende Computerisierung, kaum mehr Arbeit enthalten. Der »bornierte Selbstzweck der Kapitalverwertung«, also die Tatsache, dass in der bestehenden Gesellschaft nicht auf Grund von menschlichen Bedürfnissen, sondern zum Zwecke der Anhäufung von Kapital Dinge hergestellt werden, sei »auf Dauer nicht kompatibel mit den ungeheuren Potentialen der stofflichen Reichtumsproduktion«, also der Tatsache, dass die Welt schon lange genügend Kapazitäten bereit hält, um allen Menschen ein selbstbestimmtes Leben jenseits materiellen Elends zu ermöglichen.
Um zu zeigen, woraus die heutige Strukturkrise resultiert und was sie von nur konjunkturellen Krisenerscheinungen unterscheidet, zeichnen die Autoren in drei breit angelegten Abschnitten sowohl historisch als auch systematisch die Entstehung und Entwicklung von Finanz- und fiktivem Kapital nach. Sie kritisieren dabei gängige volkswirtschaftliche Vorstellungen vom Gesamtzusam-menhang der kapitalistischen Produktionsweise, seien sie nun neoliberalem und auf den Markt setzenden oder keynesianischem und den Staat als Allheilmittel preisenden Zuschnitts.
Lohoff und Trenkle kritisieren sowohl den Sozialchauvinismus, wie er sich in der Hetze gegen ‚Leistungsverweigerer’ und ‚Sozialschmarotzer’ ausdrückt, als auch den Krisennationalismus, wie er sich aktuell vor allem in Deutschland gegenüber Griechenland und anderen südeuropäischen Ländern in einer Tonart artikuliert, die man hierzulande aus der Hetze der FPÖ kennt. Gegen die gängigen Sparprogramme wendet das Autorenduo ein: »Nicht ‚die Gesellschaft’ hat ‚über ihre Verhältnisse gelebt’, sondern der Kapitalismus hat sich über die von ihm selbst konstituierten gesellschaftlichen Verhältnisse hinaus entwickelt und Reichtumspotentiale geschaffen, die nicht mehr mit seiner bornierten Selbstzwecklogik kompatibel sind.« Sie erteilen alternativen Tauschwirtschaftsvorstellungen, Zinsverboten und ähnlich regressiven Krisenantworten ebenso eine klare Absage wie dem autoritären Staatssozialismus vergangener Tage und empfehlen stattdessen die praktische Aufhebung von Warenproduktion und Geldwirtschaft hin zu einer an unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung orientierten gesellschaftlichen Produktionsweise. An den aktuellen Protestbewegungen und der globalisierungskritischen Bewegung kritisieren sie zu Recht »die Personifizierung der Krisenursachen« und einen unkritischen Volksbegriff, der sich insbesondere in der Parole von den 99% artikuliere, die sich gegen das eine Prozent der vermeintlichen ‚Volksfeinde’ wehren müssten.
Was dem Buch dennoch fehlt, ist ein ausführliches Kapitel über regressive Antworten auf die Krise. Das steht ganz in der Tradition von früheren Publikationen aus der Richtung der »fundamentalen Wertkritik«, in denen die volle Bedeutung des Nachlebens des Nationalsozialismus nie wirklich begriffen wurde, weshalb Autoren wie Lohoff und Trenkle erst gar nicht auf die Idee kommen, die sich in den Ressentiments gegenüber Israel artikulierenden aktuellen Ausprägungen des Antisemitismus, also die geopolitische Reproduktion des traditionellen Judenhasses im Hass auf den Staat der Shoahüberlebenden und ihrer Nachkommen, überhaupt zu erwähnen. Damit blenden sie eine der zentralen antiaufklärerischen ideologischen Formierungen, die sich in Reaktion auf globale Krisenerscheinungen artikuliert, bewusst aus. Die Gefahren eines ressentimenthaften Antikapitalismus werden trotz der Thematisierung von »projektiven Schuldzuschreibungen« in ihrem Bedrohungspotenzial deutlich unterschätzt, doch im Gegensatz zu vielen anderen gegenwärtigen Publikationen zumindest in den Blick genommen. So finden sich immerhin hellsichtige Warnungen vor dem »latent antisemitischen Bild von den gierigen Bankern und Spekulanten, die rücksichtslos ihrem Profit nachgejagt und damit ‚die Wirtschaft’ ausgesaugt und versklavt hätten.«
Es ließen sich eine ganze Reihe von Einwänden gegen Lohoffs und Trenkles Vorstellung von einer systemsprengenden Kraft der gegenwärtigen Strukturkrise formulieren (beispielsweise wird nicht einsichtig, warum bisherige massive Formen der Kapitalvernichtung wie flächendeckende Kriege mit ihrer ungeheuren Ressourcenzerstörung nicht auch unter den gegebenen Bedingungen der Produktivkraftentfaltung eine Krisenlösungsstrategie im Sinne des Systems der Kapitalverwertung darstellen sollten), und selbstverständlich werden die über die bestehende Gesellschaftsordnung hinausweisenden Rezepte der Autoren mit dem Vorwurf konfrontiert werden, sie seien unrealistisch. In der gegenwärtigen Situation kann man allerdings schon über jede Publikation froh sein, die in der Diskussion über die Ursachen der aktuellen Krisenerscheinungen nicht nur andere Akzente setzt als die mal markt-, mal staatsfetischistischen Wirtschaftsgurus und Krisenbeschwörer, sondern, so wie Lohoff und Trenkle, eine fundamental andere Erklärung präsentieren, sich zumindest bemühen, die Gefahren einer falschen Krisen- und Kapitalkritik zu verdeutlichen und im durchaus sympathischen Sinne radikale Lösungen präsentieren.
Ernst Lohoff/Norbert Trenkle: Die große Entwertung. Warum Spekulation und Staatsverschuldung nicht die Ursache der Krise sind. Münster: Unrast 2012, 305 Seiten, 18,- Euro
(Eine leicht gekürzte Fassung der Rezension ist in der Zeitschrift “SWS-Rundschau”, 52. Jg., Heft 4, 2012 erschienen.)