Anmerkungen zum Unterschied zwischen Kapitalisten- und Kapitalismuskritik
EmanzipationUndFrieden
Seit 2008 will die Krise nicht enden. Die Vorstellung von einer ewig prosperierenden Marktwirtschaft ist zu Grabe getragen und es wimmelt nur so von „Kapitalismuskritik“. Doch leider kursiert unter dieser Überschrift vor allem eines: das Ressentiment. Das gilt auch für eine Linke, die zwar – so viel muss man ihr lassen – wenigstens noch gegen die dumpfen Parolen von „den faulen Griechen, die uns auf der Tasche liegen“ mobil macht, in anderer Hinsicht aber selber mit am Stammtisch sitzt. Geht es nämlich gegen „Gierige, Bankster, Heuschrecken und Spekulanten“ bewegt sich „linke Kritik“ durchaus auf dem Niveau von Fernseher, Finanzminister und Frau Maier: „Die sind schuld!“
„Ihr Gierige – Wir Ehrliche“
Eines haben die Gierigen und die Faulen in der Vorstellungswelt der Ressentimentgeplagten gemeinsam: „Sie sind Schmarotzer und betrügen uns, die ehrlich Arbeitenden.“ Protestbewegungen wie „Occupy“ oder gegen „Stuttgart 21“ leben großteils vom Bild, „die da oben“ würden „uns“ belügen und betrügen. Mal ist es einfach nur „der Ackermann“, dann wieder sind es „die Politiker“, „die Heuschrecken“ oder überhaupt „die gierigen Bankster und Spekulanten“, die an allem Schuld sind. Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge ist dieser Weltsicht fremd. Es ist der spontan-unreflektierte Aufschrei gegen die Verhältnisse, der nicht über die Nasenspitze hinaus denkt, für jedes Problem ein paar „Schuldige“ sucht, die er dafür haftbar macht und sich selber inbrünstig dem großen und guten Kollektiv der Ehrlichen und Betrogenen zurechnet. „Kapitalismuskritik“ als schlechte Karikatur.
„Gute Arbeit – Schlechtes Kapital“
Doch auch sofern sich regressiver Antikapitalismus überhaupt auf das Feld der Theorie begibt, bleibt er weit unterhalb dessen, was Kapitalismuskritik leisten muss. Gegenstand seiner Kritik ist allein die Ausbeutung, sprich die Mehrwertproduktion und deren Aneignung durch die Kapitalisten. Doch so notwendig diese Kritik auch ist, so bleibt sie doch außerstande, das Wesen des Kapitals zu erfassen, die Krise zu verstehen und eine emanzipatorische Perspektive zu entwickeln. Denn der Schlüssel dafür ist die Erkenntnis, dass wir in einer warenproduzierenden Gesellschaft leben, deren Antrieb nicht die Produktion stofflichen Reichtums, sondern die Verwertung des Werts ist. In einer Gesellschaft, in der der Wert regiert, wird alles, auch der Mensch, zur Ware. Der Wert ist letztendlich das gesellschaftliche Verhältnis der Menschen untereinander, die sich als vereinzelte Warenbesitzer gegenübertreten. Der Wert der Waren bemisst sich nach der zu ihrer Produktion bzw. Reproduktion erforderlichen gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. Das Kapital ist sich selbst verwertender Wert. Sprich: Kapital ist letztlich nichts als angehäufte Arbeit. Doch regressiver Antikapitalismus affirmiert die warenproduzierende und wertschaffende Arbeit und setzt sie als positiven Gegenpol gegen das Kapital. So konstruiert er die Arbeiterklasse als vermeintliche Trägerin gesellschaftlicher Emanzipation.
Obwohl Karl Marx die Grundlagen einer reflektierten Kapitalismuskritik geschaffen hat (die von den meisten Marxisten gerne übersehen werden), war er nicht immer frei von problematischen Verkürzungen. Leider nutzten Massenmörder wie Stalin, Mao u.a. sein unglückliches Diktum von einer „Diktatur des Proletariats“, um sich auf ihn zu berufen. Noch heute verachten vermeintlich besonders rrrrrrrevolutionäre KämpferInnen „für die Sache der Arbeiterklasse“ die Errungenschaften der bürgerlich-demokratischen Revolution und streben eine Parteidiktatur an.
Die Vorstellung aber, Ware, Wert und Arbeit seien so natürlich wie die Luft zum Atmen, ist keine Erfindung der Traditionslinken. Sie entspringt dem auch von ihr nie durchschauten Warenfetisch, der die bürgerliche Gesellschaft beherrscht (siehe MEW 23, 85ff.).
„Das Finanzkapital“ – Obsession statt Analyse
Solange es ihm als Mittel zum Austausch von Waren, also als etwas vermeintlich Konkretes erscheint, ist auch das Geld für den unreflektierten Insassen der warenproduzierenden Gesellschaft „vollkommen natürlich“. Ein gewisses Unbehagen regt sich in ihm aber schon angesichts des Kredits – obwohl ohne den die Warenproduktion gar nicht aufrechterhalten werden könnte. Beim Zins gar – ebenfalls notwendig, denn schließlich hat auch die Ware Geld ihren Preis – macht sich bereits deutliche Aversion gegen das Abstrakte bemerkbar, das die Gesellschaft beherrscht. Vollends in Hass schlägt dieses Gefühl um, sobald es sich am Feindbild des Spekulanten abarbeitet. Dabei ist Spekulation in der Warenproduktion, deren Zweck bekanntlich nicht das stoffliche Bedürfnis, sondern der anonyme Markt ist, schon rein logisch unumgänglich. Das Warensubjekt aber fantasiert von einem guten, weil vermeintlich „produktiven“ und einem schlechten, weil vermeintlich „unproduktiven“ Kapital.
Aus dem unverstandenen Charakter der Warenproduktion resultiert deswegen auch die Konstruktion eines besonders schlechten „Finanzkapitals“, das sich angeblich vom weniger schlechten „Kapital“ unterscheidet. Auf diesem Konstrukt beruht z.B. Lenins Imperialismustheorie, die diesem „Finanzkapital“ allerlei „Machenschaften“, „Schwindel“, „Bestechung“, „Parasitismus“ usw. vorwirft (siehe u.a. LW 22, 187ff.) und damit die Grundlage für die unter antiimperialistischen Linken verbreiteten Verschwörungsphantasien gelegt hat. Doch auch „reformistische“ Linke unterscheiden sich in dieser Hinsicht kaum von Leninisten – nicht zufällig hat Lenin viel von dem sozialdemokratischen Theoretiker Hilferding abgeschrieben. Viele, die sich gar nicht als „links“ verstehen, verzichten gar auf die geringste Kritik am Kapital und richten ihre ganzen Aversionen alleine gegen das „Finanzkapital“ und seine Repräsentanten. Auch die Nationalsozialisten richteten und richten ihren Hass gegen das „vaterlandslose Finanzkapital“. So entsteht immer wieder ein breiter gesellschaftlicher Konsens von „ganz links“ bis „ganz rechts“ gegen vermeintlich „unproduktive Schmarotzer“, der seine Ursache im fehlenden Verständnis für die grundlegenden Zusammenhänge der warenproduzierenden Gesellschaft hat.
Gefährliche Nähe
Es hilft nicht, die Augen davor zu verschließen: diese Art von „Kapitalismuskritik“ ist nicht weit weg vom antisemitischen Ressentiment. Der Film „Jud Süß“ (1940) stellt den ehrlich arbeitenden und betrogenen „Menschen wie du und ich“ einen gierigen Finanzmanipulateur gegenüber, der an ihrem Unglück schuld ist und schlussendlich unter breiter Zustimmung des Volkes erhängt wird. Über 20 Millionen, so viele wie niemals zuvor, strömten in die Kinos und sahen mit tiefer Befriedigung das, was sie dachten, fühlten und wünschten. Kaum eineinhalb Jahre später beschloss die Wannseekonferenz die organisierte Vernichtung der Gierigen, die uns aussaugen… „Natürlich“ war der Gierige im NS-Film „der Jude“. Aber das Schema funktioniert auch heute: Wo geglaubt wird, dass die Gierigen an unserem Unglück schuld sind, ist der Vernichtungswunsch nicht weit.
Billigrezepte aus dem Schnellkochtopf
Pseudo-Alternativen, die Zwillingsschwestern solcher „Analyse“, werden an jeder Straßenecke feilgeboten. Innerhalb einer Stunde präsentieren Sozialquacksalber einem Publikum, das nach einfachen Antworten lechzt, Bedienungsanleitungen für eine bessere Welt. „Gemeinwohlökonomie“ heißt so etwas dann z.B. und geht so: Da wir eh alle das Gute wollen, schreiben wir das jetzt auch ins Grundgesetz. Dann gründen wir ein Unding namens „demokratische Bank“ und schon wird alles gut. Als ob sich die Kapitalverwertung nach Mehrheitsbeschlüssen richten würde… Karriere macht auch die läppische Vorstellung, man müsse einfach die Zinsen abschaffen. Als ob in einer Gesellschaft, in der alles Ware ist, ausgerechnet die Königsware Geld keinen Preis haben könnte. Das Heil wird von „Negativzinsen“ erwartet. Ganz so als ob es die, krisenbedingt, nicht schon längst gäbe. So legen Investoren beim deutschen Staat Geld an, für das sie weniger zurückbekommen werden als sie eingezahlt haben (Stern). Antrieb ist die Hoffnung der Anleger, wenigstens etwas von ihrem Geld wieder zu sehen. Folgte man nun aber den „Zinskritikern“, müsste die Krise jetzt ganz schnell verschwinden… Gute Chancen auf Verwirklichung hat auch ein anderes Zaubermittelchen, das insbesondere attac seit Jahren wie Sauerbier anpreist. Selbst Regierungschefs begeistern sich mittlerweile für eine Finanztransaktionssteuer auf grenzüberschreitende Geldtransfers. Doch deren Wirkung wäre – selbst wenn man mithilfe einer enormen Überwachungsbürokratie weltweit alle „Schlupflöcher“ schließen könnte – bestenfalls marginal. Erfahrungen in Schweden u.a. Ländern (Dokumentations- und Informationssystem Bundestag) zeigen: Weder würde mehr in die so genannte „Realökonomie“ investiert, in der sich Kapital eh immer schlechter verwerten kann (siehe unten), noch würden die Staatseinnahmen wesentlich erhöht: Ist die Steuer „hoch genug“, verhindert also effektiv Finanztransaktionen, wird man sie eben deswegen auch nicht einnehmen können. Ist sie „zu niedrig“, wird sie bestenfalls zu geringfügig steigenden Staatseinnahmen führen, aber am Problem der sich weiter auftürmenden globalen Finanzkartenhäuser nicht das geringste ändern.
Falsche Hoffnungen in den Staat
Regressiver Antikapitalismus ist staatsgläubig. Wer jedoch seine Hoffnungen auf einen Herrschaftsapparat setzt, von dem ist schon deshalb niemals eine freie Assoziation emanzipierter Individuen zu erwarten. Der so genannte „real existierende Sozialismus“ war die schlimmste Ausgeburt der Staatsvergötterung – ein fürchterlicher Irrweg auf dem Rücken von Millionen Toten, Unterdrückten und Ausgebeuteten. Geringschätzung individueller Freiheit und demokratischer Rechte, Kollektivismus und Parteidiktatur waren Voraussetzung wie Ergebnis einer Wirtschaftsordnung, die – entgegen aller Propaganda – den Kapitalismus nicht überwand, sondern der Gesellschaft lediglich einen ineffektiven und bürokratisierten Staatskapitalismus überstülpte. Blind für diese bittere Erfahrung träumt eine Zombie-Linke auch heute noch von einem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ und sucht – immer noch oder schon wieder – im blamabel gescheiterten Leninismus nach Antworten.
Doch auch „sanftere“ Formen der Staatsgläubigkeit orientieren sich an längst Gescheitertem. Zwar waren Keynes‘sche Rezepte, die auf Staatsintervention und Nachfrageorientierung setzten, von Roosevelts „New Deal“ bis in die 60er Jahre erfolgreich, doch bereits in den 70ern büßten sie ihre Kraft ein. Nur noch der Neoliberalismus mit seinen brutalen sozialen Folgen konnte Inflationsgespenst und „Nullwachstum“ abwenden. Blind dafür wähnen oberflächliche Kapitalismuskritiker „die Neoliberalen“ für die Ursache allen Übels und glauben allen Ernstes an einen Trip zurück in die „soziale Marktwirtschaft“ der 60er Jahre.
Der Staat ist auch ökonomisch betrachtet nicht die Lösung, sondern Teil des Problems. Er muss alles für die Aufrechterhaltung der Kapitalverwertung tun. Je weniger diese funktioniert, umso mehr gerät auch seine Basis ins Wanken: Steuern fließen nur bei „florierender Wirtschaft“. Dass doch der Staat bitteschön all das schöne Geld, das er in die Bankenrettung steckt, für Bildung, Umwelt, Soziales und Gesundheit ausgeben möge – das ist ein nur allzu verständlicher Wunsch. Doch das wäre der Todesstoß für gelingende Kapitalverwertung. Denn die funktioniert heute nur noch mit Billionen Fiktiven Kapitals. Der Staat sitzt in der Falle: legt er Konjunkturprogramme auf, um die Krise abzufedern, gefährdet er seine Kreditwürdigkeit. Stärkt er diese und zieht Sparprogramme durch, macht er die Konjunktur kaputt. Nur wenige Länder, darunter Deutschland, konnten bisher die Folgen dieses Dilemmas auf andere Länder wie Griechenland und Portugal abwälzen. Doch die exportierte Arbeitslosigkeit kehrt in Form der Eurokrise zurück. Auch in China (sinkende Wachstumsraten, steigende Inflation) und USA (ständiges Lavieren am Rande des Staatsbankrotts) steht der Staat mit dem Rücken zur Wand.
Andeutungen zu einer reflektierten Kapitalismuskritik
Nichts verhindert wirkliche Veränderung mehr als vorschnelle Antworten. Dass sich noch nirgends eine überzeugende Alternative zur Marktwirtschaft etabliert hat, ist kein Argument dafür, diese zu akzeptieren. Radikale, d.h. an die Wurzeln (lat. radices) der Dinge gehende Kritik stellt z.B. die Frage: Warum sollen wir eigentlich immer mehr und länger arbeiten, obwohl wir heute dank Mikroelektronik mit extrem wenig Arbeit so viel materiellen Reichtum wie noch nie produzieren können? Rente mit 67, weil nicht immer weniger Junge immer mehr Ältere finanzieren können? Was ein Schmarren! Dank explodierender Arbeitsproduktivität könnten wir schon lange nur noch fünf Stunden pro Woche arbeiten und mit 40 Jahren ganz damit aufhören. Doch die einen sollen sich totarbeiten und die andern werden „nicht gebraucht“. Aus endlich überflüssig werdender Arbeit werden überflüssige Menschen.
Warum folgt aus so viel Gutem so viel Schlechtes? Weil in der warenproduzierenden Gesellschaft der ganze ungeheure stoffliche Reichtum durch den Flaschenhals von Ware, Wert und Geld gepresst wird. Und weil der sich selbst verwertende Wert (vulgo: das Kapital) zwanghaft am Ast sägt, auf dem er sitzt: einerseits kann er nur von der Vernutzung von Arbeit leben, andrerseits muss er Arbeit fortwährend überflüssig machen (Marx über „das Kapital … als prozessierender Widerspruch“, MEW 42, 601f.) Deswegen kann sich Kapital zunehmend nur noch als Fiktives Kapital verwerten – ein Marx‘scher Begriff, der wesentlich mehr erklärt als Hilferdings und Lenins „Finanzkapital“. Und nicht zufällig explodieren zeitgleich mit der mikroelektronischen Produktivkraftrevolution seit Mitte der 70er Jahre auch die Finanzmärkte. Die erdrücken aber kein so genanntes „Realkapital“, sondern sind ganz im Gegenteil die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass Kapitalverwertung heute überhaupt noch stattfindet. Wer also die Zumutungen der kapitalistischen Krise beseitigen will, sollte aufhören, von „regulierten Finanzmärkten“, verhafteten „Bankstern“ oder gelynchten „Gierigen“ zu träumen. Das Kapitalverhältnis selbst ist zu überwinden.