12.04.2013 

Krisis in neuem Format

Als Mitte der 1980er Jahre das Krisis-Projekt aus der Taufe gehoben wurde – damals noch unter dem Namen Marxistische Kritik – war das digitale Zeitalter erst im Anbruch begriffen. Zwar spielte in der wertkritischen Theoriebildung die Frage nach den gesellschaftlichen Folgen der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien von Anfang an eine Schlüsselrolle, dennoch lag uns der Gedanke noch fern, diese ließen sich auch für unser Theorieprojekt praktisch nutzen. Die erste Ausgabe der neuen Zeitschrift, in der die These entwickelt wurde, die massenhafte Verdrängung lebendiger Arbeit aus dem unmittelbaren Produktionsprozess im Gefolge der Dritten Industriellen Revolution müsse das System der Wertverwertung in eine fundamentale Krise stürzen, entstand noch auf mechanischen Schreibmaschinen – auf Geräten, die die jüngeren Mitglieder der heutigen Krisis-Redakion nur noch aus dem Industriemuseum kennen. Damals, im Jahr 1986, gab es das World Wide Web noch gar nicht, und weltweit waren gerade einmal 2000 Rechner ans Internet angeschlossen. Schon aus Gründen der Verbreitung verstand es sich daher von selbst, die neu gegründete Zeitschrift als Printmedium zu konzipieren.

Natürlich hat die Krisis-Gruppe ihre Abstinenz gegenüber den neuen Medien im Laufe der Jahre aufgegeben. Schon seit 1996 dokumentiert unsere (mehrfach umgestaltete) Homepage die meisten Krisis-Beiträge sowie andere Texte von AutorInnen aus dem engeren und weiteren Umfeld der Krisis, stellt Podcasts zur Verfügung und kündigt Veranstaltungen an. Was die entscheidende publikationsstrategische Weichenstellung angeht, hat sich indes ein Vierteljahrhundert lang nichts geändert. Das Herzstück des Projekts, die Zeitschrift Krisis, die den eigentlichen Theoriebildungsprozess dokumentiert und der Öffentlichkeit zugänglich macht, ist ein Geschöpf des Gutenberg-Universums geblieben.

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Das Festhalten an der vertrauten Publikationsform ist jedoch zunehmend mit erheblichen Nachteilen verbunden. Zunächst einmal haben sich im Laufe der Jahre die Lesegewohnheiten entscheidend verändert. Vor allem das jüngere, mit den elektronischen Medien groß gewordene Publikum, liest in erster Linie Texte, die über das Internet zugänglich sind, und greift nur recht zögerlich zur klassischen Theoriezeitschrift, die den Charakter gedruckter Aufsatzsammlungen hat. Damit entgehen ihm aber ausgerechnet die theoretischen Schlüsseltexte der Krisis-Theoriebildung, die – aus Rücksicht auf die Verkaufszahlen der Printversion – erst zwei bis drei Jahre nach der Veröffentlichung auch online zu haben sind und daher nur mit großer Verzögerung in breiterem Maße rezipiert und diskutiert werden können.

Das ist besonders unbefriedigend,, da unsere Homepage kontinuierlich sehr gut besucht wird. Die täglichen Zugriffe zwischen 500 und 1500 BesucherInnen entsprechen im Durchschnitt ungefähr den seit Jahren wenig veränderten Verkaufszahlen einer Druckausgabe der Krisis. Schon dieser Zahlenvergleich verweist auf einen dringenden Änderungsbedarf in unserer Publikationspraxis. Hinzu kommt noch, dass gerade für unser zahlreiches Publikum außerhalb von Deutschland und Europa die Printausgaben nur schwer und zu deutlich höheren Preisen zu beschaffen sind.

Aber nicht nur der Wandel der Lesegewohnheiten und der Abbau unnötiger Rezeptionsbarrieren bieten Grund, über Alternativen zur bisherigen publizistischen Praxis nachzudenken. Auch der wertkritische Theoriebildungsprozess selbst hat längst ein Stadium erreicht, in dem sich die Frage stellt, ob die gedruckt erscheinende Aufsatzsammlung mit wechselnden Schwerpunktthemen als „Gravitationszentrum“ des Projekts noch adäquat ist oder ob es nicht weit geeignetere Präsentationsformen für unsere Inhalte gibt. Vor allem eine bestimmte Veränderung ist in diesem Zusammenhang maßgebend: Bis tief in die 1990er Jahre hinein war die Krisis-Gruppe noch damit beschäftigt, sich aus dem traditionellen Marxismus zu lösen und die Grundlagen des neuen gesellschaftskritischen Paradigmas zu legen. Die Tradition des „esoterischen Marx“ (Roman Rosdolsky) aufnehmend, haben wir herausgearbeitet, warum Gesellschaftskritik auf der Höhe der Zeit eine radikale Kritik der grundlegenden kapitalistischen Formprinzipien Wert, Arbeit und Recht zur Grundlage haben muss, statt diese – wie der klassische Marxismus – als positiven Bezugsrahmen des eigenen Denkens blind vorauszusetzen.

In dem Maße jedoch, wie diese Grundlagen gelegt wurden, entstand eine in der Anfangsphase des Projekts noch unbekannte Darstellungsschwierigkeit. Während des Abnabelungsprozesses vom klassischen Marxismus sorgte schon die permanente Auseinandersetzung mit diesem dafür, dass für unsere damalige, überwiegend selber dem marxistischen Spektrum entstammende Leserschaft der Kontext der theoretischen Überlegungen jedes einzelnen Beitrags nachvollziehbar blieb. Hingegen beziehen sich die jüngeren Beiträge, die bereits auf dem Boden des wertkritischen Ansatzes argumentieren, auf Voraussetzungen und Begrifflichkeiten, die vielen neu hinzukommenden Leserinnen und Lesern noch nicht oder nur partiell vertraut sind und die ihnen daher auf irgendeine Weise zugänglich gemacht werden müssen. Diese Zusatzaufgabe zum eigentlichen Theoriebildungsprozess stellt sich immer wieder neu und führt dazu, dass viele Krisis-Artikel erst einmal ihr eigenes kategoriales Werkzeug darstellen, um dann einen weiten Bogen von der grundsätzlichen Kritik der gesellschaftlichen Formprinzipien bis zu dem spezifischen Gegenstand der Kritik (wie z.B. Nationalismus) oder den aktuellen Entwicklungen zu schlagen.

Diese etwas mühsame Darstellungsform lässt sich nicht ganz vermeiden, solange der wertkritische Ansatz noch eine theoretische Minderheitenposition darstellt und daher der Kontext der präsentierten Überlegungen immer wieder aufs Neue offengelegt werden muss, wenn die Rezeption und Diskussion sich nicht auf eine kleine „eingeweihte“ Minderheit beschränken soll. Doch die bisherige publizistische Form der alle ein bis zwei Jahre erscheinenden Druckausgabe verstärkt diese Tendenz noch, weil sie geradezu danach drängt, in einem Artikel das „ganze Thema“ zu behandeln, also den großen Bogen zu schlagen. Darüber hinaus erhält die Theorieproduktion eine gewisse Schwerfälligkeit, weil das Konzept der Schwerpunktnummern eine kontinuierliche Verfolgung eines Themas ebenso behindert wie eine fortlaufende Diskussion. Wenn Erwiderungen zu kontroversen Artikeln erst ein bis zwei Jahre nach deren Erscheinen publiziert werden können, kann das wohl kaum als lebhafte Auseinandersetzung bezeichnet werden. Die Diskusionen finden zwar statt, aber häufig nur in den internen Foren und dringen daher nur partiell an die Öffentlichkeit, die oft nur die fertig erscheinenden Resultate zu Gesicht bekommt, nicht aber ihren Entstehungsprozess verfolgen und sich an diesem beteiligen kann.

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Aus diesen Gründen haben wir uns dazu entschlossen, ab sofort die Krisis in einem neuen Online-Format zu veröffentlichen. Damit wollen wir nicht nur alle Beiträge direkt nach ihrem Erscheinen allgemein und umsonst zugänglich machen, sondern vor allem auch die mit einer Internet-Publikation verbundenen Möglichkeiten nutzen, um den Theoriebildungsprozess offener und flüssiger zu gestalten. Insofern stellt das neue Format nicht einfach nur eine elektronische Reproduktion der bisherigen Druckversion dar, sondern ist mit einer grundlegenden Neustrukturierung der Publikationsweise verbunden.

Der erste Unterschied zur Printversion besteht darin, dass die Krisis nicht mehr als eine geschlossene Ausgabe mit einer bestimmten Anzahl von Artikeln erscheint, sondern jeder Artikel für sich als eigene Publikation innerhalb der Reihe Krisis-Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft veröffentlicht wird. Jeder dieser Beiträge wird genauso gründlich lektoriert und redaktionell bearbeitet wie die bisherigen Artikel der Krisis und erscheint in einem einheitlichen, klar definierten Drucklayout im PDF-Format. Dadurch ist nicht nur gewährleistet, dass die Texte in einer gut lesbaren Form ausgedruckt und bei Bedarf auch gebunden werden können, sondern vor allem auch, dass die übliche Zitierfähigkeit mit AutorIn, Herausgeber, Erscheinungsdatum und Seitenzahlen erhalten bleibt. Auf Wunsch erhalten unsere Mitglieder übrigens jeden Beitrag auch von der Redaktion in einer gedruckten und gebundenen Ausgabe zugeschickt. Außerdem wollen wir in nächster Zukunft die Texte auch im eBook-Format anbieten.

Der Vorteil dieser flexibleren Publikationsweise besteht darin, dass jeder Text erscheinen kann, ohne auf die Komplettierung einer ganzen Nummer zu warten. Dadurch wird es möglich, die verschiedenen theoretischen Schwerpunkte fortlaufend auszuarbeiten und diesen Prozess im Sinne eines Work-in-progress nachvollziehbar zu machen. Es entfällt dann auch der Zwang, jedes Mal theoretisch den „ganzen Bogen” zu schlagen, weil der Kontext durch den direkten Bezug der Texte aufeinander hergestellt wird. Des Weiteren können und sollen auch Kritiken und Diskussionsbeiträge zu den Artikeln direkt und zeitnah veröffentlicht und entsprechend verlinkt werden. Dabei denken wir natürlich nicht an Kommentare, wie sie in den üblichen Internetforen erscheinen, wo meist schneller geschrieben als gedacht wird; gemeint sind vielmehr qualifizierte Beiträge, die vor ihrer Veröffentlichung den üblichen redaktionellen Prozess durchlaufen müssen.

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Verbunden mit diesem neuen Online-Format der Krisis ist konsequenterweise auch eine komplette Umgestaltung unserer Homepage, die eine übersichtlichere und lesefreundlichere Struktur erhält. Für die Texte wird es zwei „Abteilungen” geben, die graphisch in zwei gesonderten Kästen dargestellt werden. In Theorie und Diskussion finden sich zukünftig alle Texte, die wir als theoretisch grundlegend bzw. weiterführend im Sinne der Wertkritik einstufen. Das betrifft zum einen bereits existierende Grundlagentexte, vor allem (aber nicht nur) aus früheren Krisis-Ausgaben, die wir leichter zugänglich machen wollen als auf der jetzigen Homepage, welche durch ihre Blogstruktur das gezielte Auffinden von Texten schwer macht. Zum anderen werden hier natürlich auch die Beiträge aus der neuen Krisis-Publikationsreihe und alle darauf bezogenen Diskussionsbeiträge veröffentlicht werden. Die inhaltliche Gliederung innerhalb dieser „Abteilung” orientiert sich an fünf Schwerpunkten, die fortlaufend ausgearbeitet und intensiv redaktionell betreut werden.

In der zweiten „Abteilung” der Homepage, dem Journal, erscheinen alle anderen publizistischen Beiträge von AutorInnen der Krisis oder des Krisis-Umfelds, wie Thesenpapiere, Essays, empirische Artikel und journalistische Arbeiten, sowie Texte, die interessant für unsere Diskussionen sind, auch wenn sie aus einem anderen theoretischen Kontext stammen. Das Journal gliedert sich derzeit nach zwölf Themen, die sich an die Kategorien der jetzigen Homepage anlehnen.

Die Freischaltung der neuen Homepage verbinden wir mit der gleichzeitigen Publikation von drei Beiträgen aus der neuen Krisis-Reihe, darunter zwei Beiträge zur Krisentheorie (von Peter Samol und Ernst Lohoff) und einer zum Verhältnis von gesellschaftlicher Form und abstrakter Individualität (von Julian Bierwirth). Weitere zwei  Beiträge werden im Laufe des Jahres erscheinen.

Wer als Mitglied die Beiträge der neuen Krisis-Reihe gerne auch weiterhin gedruckt und gebunden beziehen möchte, schreibe uns bitte kurz an krisisweb@yahoo.de oder an die bekannte Postfachadresse (Postfach 810 269, 90247 Nürnberg). Zu sagen bleibt noch, dass wir auch weiterhin auf eure finanzielle Unterstützung angewiesen sind. Denn auch wenn wir jetzt alle Texte umsonst anbieten, ist ihre Erstellung für uns doch leider nicht kostenlos. Vielmehr wird die neue Publikationsform redaktionell und publizistisch einen eher höheren Aufwand als bisher bedeuten. Ohne eure Beiträge und Spenden können wir den nicht leisten.

Die Krisis-Redaktion