09.10.2016 

Wirtschaft als Schulfach?

Wie die ökonomische Heilslehre die Bildung verändert

von Daniel Nübold

In Baden-Württemberg steht seit diesem Schuljahr Wirtschaft als neues Unterrichtsfach auf dem Lehrplan. Auch weitere Bundesländer denken über entsprechende bildungspolitische Pläne nach. Dabei finden Wirtschaftsthemen bereits über andere Fächer Eingang in den Unterricht, insbesondere etwa in interdisziplinär angelegten Fächern wie Sozialwissenschaften oder Geschichte. Nicht nur aus diesem Grund sollte Wirtschaft, als eigenes Fach, Fiktion bleiben.

Ein Beispiel für einen Themenbereich, der aus dem bisherigen Fächerkanon ausgegliedert und als eigenes Fach etabliert wurde, ist das Fach Ethik. Über das Fach Religion hinaus beleuchtet es Perspektiven jenseits der christlichen Lehre, indem es diese spezifische Religion als eine unter vielen betrachtet und darüber hinaus philosophische Theorien miteinbezieht. Ein anderes Beispiel ist das – bislang nur angedachte – Fach Medien, das ein mediales Verständnis und medienanalytische Fähigkeiten stärker behandeln soll, als es zurzeit in Deutsch, Englisch oder Kunst nur nebensächlich der Fall ist, wo medientheoretische Aspekte eher stiefmütterlich behandelt werden.

Wirtschaftswissenschaften als geistige Monokultur

Beide Fächer vertiefen und erweitern ihren jeweiligen Themenschwerpunkt. Das ist der grundlegende Unterschied zum Konzept des Schulfaches Wirtschaft. Indem wirtschaftliche Themen aus anderen Fächern ausgekoppelt werden, wird der Reichtum an Bezügen nicht größer, sondern kleiner. Die Wirtschaft stellt sich dadurch als von anderen gesellschaftlichen Teilbereichen gleichermaßen entkoppeltes System von Lehrsätzen dar. Gerade das ist sie aber nicht. Wirtschaft findet stets in sozialen Zusammenhängen statt – mehr noch: Sie ist selbst ein Resultat sozialer Zusammenhänge. Insofern ist eine Auseinandersetzung im Kontext von Soziologie, Kultur oder Politik essentiell. Diese Erkenntnis lassen allerdings bereits die akademischen Wirtschaftswissenschaften vermissen, dem geistigen Fundament eines Faches Wirtschaft. Deren neoklassisch dominierte Theorie versteht sich selbst als Naturwissenschaft, womit sie ihren Gegenstandsbereich gerade eben fernab sozialer Kontexte verortet. Mit einem in sich geschlossenen System von reduktionistischen Lehrsätzen nimmt sie nichtwirtschaftliche Elemente, wenn überhaupt, nur als störende Einflüsse wahr, so etwa Politik in Form von Zöllen, Steuern oder handelshemmenden Auflagen.

Als Schulfach wäre Wirtschaft eine Art Wirtschaftswissenschaften light. Man darf befürchten, dass Schüler die Basics aus VWL und BWL als Konstanten menschlicher Natur kennenlernen – und nicht als Ergebnis einer gesellschaftlichen und historischen Entwicklung. Dies ist wahrscheinlich, wenn das Lehrpersonal seinerseits eine wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung im Rahmen der akademischen Wirtschaftslehre absolvieren soll. Lehrmaterialien werden bereits jetzt vermehrt von neoliberal ausgerichteten Institutionen zur Verfügung gestellt, die das Fehlen entsprechender Lehrbücher auf diese Weise für sich nutzen.

Bei vielen Schülern dürfte das neue Fächerangebot auf großen Zuspruch stoßen. Starken Anklang nahm beispielsweise der folgende Tweet von Anfang 2015, der die Diskussion um ein Schulfach Wirtschaft abermals befeuerte:
„Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ‘ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.“

Die Ökonomisierung des Bildungsbegriffs

Es ist eine Momentaufnahme, die deutlich macht: Bereits Schüler verstehen sich als eben jenes Marktsubjekt („homo oeconomicus“), das die Wirtschaftswissenschaft imaginiert. Diese Haltung dürfte das neue Fach Wirtschaft weiter verstärken. Schon in jungem Alter werden Schüler für ein Verhalten sensibilisiert, das die Ökonomie zunächst bloß unterstellt, es im zweiten Schritt aber von den Menschen erwartet. Indem (nicht nur) Schüler dieser Erwartungshaltung nachkommen, werden die handlungstheoretischen Unterstellungen der Wirtschaftstheorie Wirklichkeit.

An Studenten der universitären Wirtschaftswissenschaft wurde festgestellt, dass diese nach Abschluss ihres Studiums zu wirtschaftsliberaleren Positionen neigen als noch zu Studienbeginn. Dieser Einstellungswandel sei weitaus stärker und eindeutiger als bei Studenten anderer Fachrichtungen (ifo Institut für Wirtschaftsforschung: Does the field of study influence students’ political attitudes?) Bei einem vergleichbaren Schulfach Wirtschaft dürften wirtschaftsliberale Ideen auf noch größeren Zuspruch stoßen, schließlich hinterfragen die jüngeren Menschen Lehrinhalte in dieser Hinsicht noch weniger. Entsprechende Auswirkungen hätten eine solche ideologische Grundlegung auf die weitere Sozialisation der Heranwachsenden.

Die Einrichtung des neuen Faches hat – wie bereits die Einführung des Turbo-Abiturs und die Umstellung der Studiengänge auf Bachelor- und Masterabschlüsse im Zuge der Bolognareform – Folgen für das grundsätzliche Verständnis von Bildung. Mit der Etablierung eines ökonomistischen Begriffsapparats wird ein weiterer Baustein gesetzt, um Menschen nun in ihrer Funktion als Wirtschaftssubjekte auszubilden und nicht als Individuen, die im humboldtschen Sinn sich selbst formen. Die Forderungen der twitternden Schülerin nach Kompetenzen in Sachen „Steuern, Miete oder Versicherungen“ sind nur nachvollziehbar für eine Welt, in der Wirtschaftlichkeit die bevorzugte Denkkategorie ist. Konkretes, instrumentelles Handlungswissen gewinnt in ihr zunehmend an Bedeutung. Der Schule soll die Rolle als Kompetenzvermittlerin zufallen. Und das in einem Umfeld, in dem Lehrer beklagen, dass sie mehr und mehr erzieherische Aufgaben übernehmen müssen, die bislang bei der Familie und dem unmittelbaren Lebensumfeld der Schüler lagen. In der Folge des Angriffs der allgemeinen Ökonomisierung auf das Feld der Bildung wird die klassische Bildung à la Humboldt aus dem Lehrplan verdrängt. Dass aber mit der Fähigkeit, eine Gedichtanalyse zu schreiben (gern auch in vier Sprachen), die Fähigkeit verbunden ist, einen komplexen Gedanken zu entwickeln und sprachlich auszudrücken – das offenbart keinen direkten ökonomischen Wert und droht daher aus einem ökonomisch dominierten Bildungskanon auszuscheiden.

Interdisziplinarität als oberstes Gebot

An der Diskussion um Wirtschaft als eigenständiges Schulfach hängt weit mehr als eine bloße schulpolitische Fragestellung. Es ist erstens eine Frage nach dem Zustand der wirtschaftswissenschaftlichen Theoriebildung und der gesellschaftlichen Einordnung von Ökonomie und zweitens eine nach dem Verständnis von Bildung.

Der momentane Stand, bei dem wirtschaftliche Themen interdisziplinär in Fächern Eingang finden, kann Schülern eher helfen, Wirtschaft als Resultat einer gesellschaftlichen und historischen Entwicklung zu verstehen – und nicht umgekehrt Gesellschaft als Nebenprodukt wirtschaftlicher, „natürlicher“ Prinzipien aufzufassen, wie es in der etablierten Wirtschaftswissenschaft der Fall ist. Es schadet dem Verständnis für Wirtschaft vielmehr, wenn man es in einem einzelnen Fach verdichtet. Solange sich die akademische Wirtschaftswissenschaft darauf beschränkt, das ökonomische System in seiner kapitalistischen Form ideologisch zu legitimieren und dadurch gleichermaßen zu reproduzieren, wird sie Bildung zur Ausbildung machen und damit zur abhängigen Funktion dieses Systems degradieren.