Zur Diskussion um Die große Entwertung und Geld ohne Wert
von Ernst Lohoff
Eine Bemerkung vorab zum Charakter dieses Textes
Letztes Jahr erschien auf der Homepage der Gruppe „Exit“ ein Text von Bernd Czorny mit dem Titel „Ernst Lohoff und der methodologische Individualismus“, der den Anspruch erhebt, eine Kritik an der Theorie fiktiver Kapitalbildung zu leisten, die ich in dem Buch Die große Entwertung entwickelt habe und die gegenüber der bisherigen wertkritischen Krisentheorie einen grundsätzlichen Perspektivwechsel bedeutet.[1] Czorny misst meine Analyse an den methodologischen Vorgaben, die Robert Kurz in Geld ohne Wert gemacht hat, und kommt zu dem originellen Ergebnis, meine kategoriale Analyse würde auf blanken Empirismus hinauslaufen und sei theoretisch weitgehend unbrauchbar. Diese Behauptung rief alsbald eine in der Region Karlsruhe beheimatete wertkritische Gruppe auf den Plan, die unser Buch anders einschätzte und eine Entgegnung auf Czorny verfasste, in der sie Die große Entwertung verteidigte. Doch so erfreulich diese Intervention auch war, auch sie hat einen Pferdefuß: Ihr zufolge liege Czorny mit seiner Einschätzung insofern falsch, als die in unserem Buch vertretene Theorie des fiktiven Kapitals weitgehend mit der von Robert Kurz vertretenen Position übereinstimme; zwar gebe es gewisse inhaltliche Differenzen zu Geld ohne Wert, doch seien diese sekundärer Natur.
Das allerdings deckt sich keineswegs mit meiner eigenen Sicht. Vielmehr halte ich den Maßstab, den Bernd Czorny mit Geld ohne Wert an unsere Theorie anlegt, für das primäre Problem – und nicht, dass er diesen Maßstab falsch anlegen würde. Robert Kurz hat mit seinem letzten Buch ein theoretisches Vermächtnis hinterlassen, das äußerst fragwürdig ist und nicht nur in deutlichem Gegensatz zur neueren Theoriebildung der Krisis auf dem Feld der Kritik der Politischen Ökonomie im Allgemeinen und der Krisentheorie im Besonderen steht, sondern letztlich auch die gemeinsam erarbeiteten Grundlagen der Wertkritik für ungültig erklärt. Die Auseinandersetzung zwischen Bernd Czorny und der Karlsruher Gruppe hat noch einmal verdeutlicht, dass dies für unser weiteres und näheres Umfeld offenbar alles andere als durchsichtig ist. Um in dieser Hinsicht etwas mehr Klarheit zu schaffen, ist dieser Text entstanden.
1. Eine theoretische Weggabelung
Im Jahr 2012 sind kurz hintereinander zwei Bücher erschienen, die beide für sich den Anspruch erheben, die wertkritische Theoriebildung auf dem Feld der Kritik der Politischen Ökonomie auf eine neue Stufe zu heben. Geld ohne Wert von Robert Kurz und Die große Entwertung von Norbert Trenkle und mir, markieren so etwas wie eine Weggabelung im wertkritischen Theoriebildungsprozess. Natürlich haben beide Publikationen insofern einen ähnlichen Ausgangspunkt, als sie ihrer Intention nach Mängel der bisherigen wertkritischen Argumentation überwinden und den Ansatz theoretisch präzisieren wollen, aber die theoretischen Marschrichtungen sind einander diametral entgegengesetzt. Ohne es explizit auszuweisen, nehmen beide Publikationen weitreichende Umbauten am wertkritischen Theoriegebäude vor: Der zweite Teil von Die große Entwertung revidiert das in der wertkritischen Diskussion bisher gängige Verständnis der Kategorie des fiktiven Kapitals und stellt mit der Theorie der Waren 2ter Ordnung den alten wertkritischen Gedanken, der Kapitalismus greife auf künftige Wertproduktion vor, auf ein neues theoretisches Fundament. Robert Kurz vollzieht eine noch viel weitergehende Revision. In Geld ohne Wert rückt er von einem theoretischen Grundprinzip ab, das für die Vertreter des wertkritischen Ansatzes auf dem Feld der Kritik der Politischen Ökonomie bisher als selbstverständlich galt. Seit den Anfängen der Krisis-Gruppe haben wir uns immer an der aus den Marx‘schen ökonomiekritischen Schriften vertrauten Methode des sukzessiven Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten orientiert (siehe z.B. MEW 42, S. 34 ff.).
2. Der Stellenwert des fiktiven Kapitals in der frühen wertkritischen Krisentheorie
Bleiben wir zunächst beim Problem des fiktiven Kapitals. In welcher Weise sich die Theorie der Waren 2ter Ordnung in die Entwicklung der wertkritischen Akkumulations- und Krisentheorie einfügt, wird klarer erkennbar, wenn man sich zunächst einmal den früheren Stand der Theorie in Erinnerung ruft. Deshalb hier ein kurzer Ausflug in die Entwicklungsgeschichte des wertkritischen Ansatzes, der rekapituliert, welche Funktion dem Verweis auf die Dynamik fiktiver Kapitalbildung in unserer krisentheoretischen Argumentation anfänglich zukam und wie der Begriff des fiktiven Kapitals gefasst wurde.
Seit seinen Anfängen war der wertkritische Ansatz bemüht, die grundlegenden Kategorien der kapitalistischen Gesellschaft als historisch vergänglich und auf Selbstzerstörung programmiert zu fassen. Das betraf zunächst einmal vor allem anderen die Basiskategorie des Werts.[2] Dementsprechend war auch unsere Akkumulations- und Krisentheorie darauf fokussiert, die These einer fundamentalen Krise der Wertverwertung kategorial und analytisch zu fundieren. Mit der Dritten industriellen Revolution, so die krisentheoretische Kernaussage der Krisis, hat der Kapitalismus als Wertverwertungssystem seine historische Schranke bereits erreicht und gerät in eine fundamentale Krise. Diese These wirft allerdings ein grundsätzliches Problem auf: Wer behauptet, die Basis der Verwertung, die produzierte Wert- und Mehrwertmasse, sei aufgrund der Verdrängung lebendiger Arbeit aus dem Produktionsprozess mittlerweile im Schrumpfen begriffen, muss eine plausible Erklärung dafür parat haben, warum dieser Prozess die Kapitalakkumulation erst einmal nicht zum Erliegen gebracht hat. Diese Lücke einerseits zwischen der Empirie (die Fortsetzung der kapitalistischen Akkumulation in den 1980er- und 1990er-Jahren) und anderseits der Kernthese der wertkritischen Krisentheorie (fundamentale Krise der Wertverwertung) wurde seit jeher mit der Zusatzthese geschlossen, dass die Vermehrung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals inzwischen nicht mehr auf realer Wertverwertung beruhe, sondern vor allem durch den Vorgriff auf zukünftigen Wert in Gestalt des fiktiven Kapitals in Gang gehalten werde. Nur der explosionsartigen Ausdehnung des Finanzüberbaus wegen kann der Akkumulationsprozess trotz wegbrechender Wertverwertungsbasis zunächst einmal weiterlaufen.
Dieses Argument hatte seit jeher eine hohe empirische Evidenz auf seiner Seite. Zum einen handelt es sich bei der Aufblähung der Finanzsphäre um das vielleicht am meisten ins Auge stechende Merkmal des zeitgenössischen Kapitalismus überhaupt. Zur Stützung ihrer krisentheoretischen Kernthese musste die Wertkritik also nicht bei irgendeinem Nebenaspekt der realen Entwicklung Zuflucht nehmen, sondern konnte sich direkt auf das Hauptkennzeichen der Epoche beziehen. Zum anderen fiel das Wachstum viel zu dramatisch aus, als dass sich diese Entwicklung auf eine bloße Umverteilung und Mobilisierung von bereits akkumuliertem Mehrwert zurückführen ließe. Offensichtlich wohnt der Finanzsphäre die Fähigkeit inne, auf irgendeine Weise selber eine eigentümliche Form von Kapitalvermehrung zuwege zu bringen, die vorübergehend die Mehrwertakkumulation ersetzen kann.
3. Ein verkürzter Begriff des fiktiven Kapitals
Die Existenz einer solchen, von der Mehrwertakkumulation abgelösten Form der Kapitalvermehrung zum einen zu konstatieren und zum andern ihre Funktionsweise konsistent darlegen zu können, sind freilich zwei Paar Stiefel. Der Verweis auf die Aufblähung des Finanzüberbaus wurde klassischerweise nur als flankierendes Hilfsargument benutzt. Gemessen an unserem Anspruch, die Verkürzungen des Arbeiterbewegungs-Marxismus hinter uns zu lassen; und auch gemessen an der kategorialen Klarheit, mit der von wertkritischer Seite damals bereits die Krise der Wertverwertung analysiert wurde, blieben die Ausführungen zur Kategorie des „fiktiven Kapitals“ defizitär. Wir griffen diesen in der marxistischen Diskussion bisher äußerst stiefmütterlich behandelten Begriff zwar auf, jedoch in einer gegenüber den Essentials einer traditionsmarxistischen Akkumulationstheorie ambivalenten Interpretation. Der überkommene Marxismus kennt im Grunde nur auf Mehrwertakkumulation beruhende Kapitalakkumulation und betrachtet das Finanzmarktgeschehen letztlich als Nullsummenspiel, das auf bloße Umverteilung bereits existierenden kapitalistischen Reichtums hinausläuft. Indem der wertkritische Ansatz darauf insistierte, das fiktive Kapital habe die Wertverwertung schon seit Jahren als die treibende Kraft der Kapitalakkumulation ersetzt, billigte er dem Finanzmarktgeschehen eine mit dem traditionsmarxistischen Verständnis kaum vereinbare Eigenbedeutung im Akkumulationsprozess zu. Die grundlegende Differenz zwischen der Bildung von fiktivem Kapital und der auf Wertverwertung beruhenden Kapitalakkumulation wurde aber in einer Art und Weise begründet, die diesen Bruch wieder halb zurücknahm. Zur Verdeutlichung des prekären Charakters fiktiver Kapitalschöpfung mussten Ausdrücke wie „Scheinakkumulation“ herhalten, die, statt etwas zu erklären, an ein „echtheitsmetaphysisches“ Vorverständnis appellieren, demzufolge eigentlich doch nur die Realwirtschaft wirklich zählt, während die Finanzsphäre die realen wirtschaftlichen Zusammenhänge bloß verschleiert.[3]
Zu dieser Lesart gehörte eine Interpretation des Begriffs „fiktives Kapital“, die entscheidend vom Marx‘schen Verständnis dieser Kategorie abweicht und deren Stellung im System der Kritik der Politischen Ökonomie vernebelt. Die Marx‘schen Darstellungen zur Frage des fiktiven Kapitals sind zwar fragmentarisch geblieben, lassen aber keinen Zweifel daran, was unter dieser Kategorie zu verstehen sei. Unter die Rubrik fiktives Kapital fallen sämtliche monetären Ansprüche, die beim Verkauf von Geldkapital entstehen und die für die Zeit der Weggabe des Ausgangskapitals neben dem ursprünglichen Geldkapital in Händen des Geldgebers existieren. Dazu zählen beispielsweise die Ansprüche einer Bank auf Tilgung und Verzinsung, genauso stellen aber auch Aktien fiktives Kapital dar. Was mit dem weggebenen Geldkapital in den Händen des Geldkapitalkäufers geschieht, ob es produktiv oder konsumtiv verausgabt wird, ist für die begriffliche Unterscheidung von fiktivem und fungierendem Kapital unerheblich. Entscheidend ist vielmehr das durch den Verkauf der Ware Geldkapital vermittelte „doppelte Dasein derselben Geldsumme als Kapital für zwei Personen“ (MEW 25, S. 366).
Dieses für den Marx‘schen Begriff des fiktiven Kapitals konstitutive Phänomen der Verdopplung des Ausgangskapitals blieb in der wertkritischen Deutung aber ausgeblendet. Vonseiten der damaligen Autoren der Krisis-Gruppe wurde stattdessen die Ebene der Realwirtschaft in die kategoriale Bestimmung hineingemengt. Dieser Argumentation zufolge solle angeblich erst eine „falsche“ konsumtive Verwendung von Fremdkapital fiktives Kapital hervorbringen. So erläutert der von Norbert Trenkle und Robert Kurz Ende der 1990er-Jahre gemeinsam verfasste Text „fiktives Kapital“ am Beispiel des Kredits die Entstehung fiktiven Kapitals folgendermaßen:
„[…]ein Kredit ist ja nichts weiter als Vorschuß auf zu produzierenden Wert. Solange er dazu verwendet wird, Investitionen im Produktionsbereich vorzufinanzieren, die die Vernutzung lebendiger Arbeitskraft, also Mehrwertproduktion nach sich ziehen, wird er im Sinne der Verwertung ‚richtig’ verausgabt. Wird ein Kredit aber für bloßen Konsum oder für Infrastrukturmaßnahmen, also nicht wertmäßig produktiv verausgabt oder erweisen sich die getätigten Investitionen vom Standpunkt des Weltmarkts aus als unproduktiv, weil sie nicht zu konkurrenzfähiger Produktion führen, dann sind die im Kredit vorgeschossenen Werte verpulvert. Die anfallenden Zinszahlungen und Tilgungen können dann nicht aus den Erträgen der mit diesem Kredit getätigten Investitionen gezahlt, sondern müssen aus einer anderen Quelle gedeckt werden. Der Kredit wird zu ‘fiktivem Kapital’ .”
Die Marx‘sche Kritik der politischen Ökonomie siedelte jedoch die Bildung fiktiven Kapitals eindeutig innerhalb der Finanzsphäre an. Fiktives Kapital entspringt der Beziehung des Verkäufers und des Käufers der Ware Geldkapital und hat seine Geburtsstunde in dem Augenblick, in dem ein Kredit gewährt, eine Aktie oder ein Schuldtitel erfolgreich emittiert wird (vgl. MEW 25, S. 494).
Indem sie die Entstehung von fiktivem Kapital mit der „missbräuchlichen“ konsumtiven Verausgabung identifizierte[4], verschob die klassische wertkritische Deutung diese auf einen späteren Zeitpunkt und verlegte gleichzeitig dessen Geburtsort von der Finanzsphäre in die Realwirtschaft. Dabei wird die Erzeugung fiktiven Kapitals logisch auf so etwas wie das Auflaufenlassen oder die Anhäufung von Zahlungsverpflichtungen durch die Schuldner herunterdimensioniert. Vor allem dieser Herunterdimensionierung wegen hatte der Mangel an begrifflicher Präzision, auch was die Einschätzung der realen Entwicklung angeht, Konsequenzen. Nicht von ungefähr haben wertkritische Autoren größere Einbrüche bei der Akkumulation von fiktivem Kapital immer wieder zum Anlass genommen, den endgültigen Kollaps des auf der Schöpfung fiktiven Kapitals beruhenden Kapitalismus zu verkünden. Wer mit einem verkürzten Begriff des fiktiven Kapitals operiert, muss jedoch die Akkumulationsfähigkeit des neuen Kapitalismustypus unterschätzen. Um zu einem realistischen Bild der Vorgriffspotenz des kapitalistischen System zu gelangen und eine kategorial fundierte Analyse der Binnengeschichte des von der Finanzmarktdynamik getragenen Kapitalismus unserer Tage zu gelangen, braucht man eine andere theoretische Grundlage. Die liefert erst die Theorie der Waren 2ter Ordnung, die das Problem der Verdoppelung des Geldkapitals in den Finanzmarktbeziehungen ins Zentrum rückt.
4. Die Veränderungen der Debattenlandschaft
Es hat natürlich seine Gründe, warum der wertkritische Ansatz lange Zeit gerade bei der Analyse des fiktiven Kapitals der tradtionsmarxistischen Sicht verhaftet blieb. Dazu gehört – wie schon angedeutet – die innere Entwicklungslogik unseres Theoriebildungsprozesses. Solange die wertkritischen Autoren sich noch darauf konzentrieren mussten, den Kern der wertkritischen Akkumulations- und Krisentheorie auszuformulieren, blieb für eine kategorial fundierte Ausarbeitung der vertrackten Politischen Ökonomie des fiktiven Kapitals wenig Raum. Mindestens genauso wichtig war allerdings auch das Diskursumfeld, in dem die wertkritische Krisentheorie sich zunächst einmal behaupten musste. Zumindest bis zum New-Economy-Crash standen wir mit unserer Sicht, derzufolge die kapitalistische Produktionsweise schnurstracks in eine fundamentale Krise hineinsteuere, ziemlich allein auf weiter Flur. Angesichts der Aufschwünge der Weltwirtschaft in den 1980er- und 1990er-Jahren erschien die Krisendiagnose weithin als unsinnig und empirisch widerlegt; wobei stets als selbstverständlich unterstellt wurde, dass die Wachstumsschübe über ein solides „realwirtschaftliches Fundament“ verfügten. Vor zwanzig Jahren hatte noch kaum jemand im Blick, dass allein die Finanzmarktdynamik den Boom treibt, geschweige denn welche Konsequenzen das für die weitere Entwicklungsperspektive des kapitalistischen Systems hat. In einem solchen Diskursumfeld mussten die Vertreter der Wertkritik, wenn sie die Abhängigkeit der Akkumulation von der Dynamik des fiktiven Kapitals betonten, auf den prekären Charakter einer solchen Art von Akkumulation insistieren. Das ging aber am einfachsten, durch einen Appell an das damals in den Hintergrund geschobene „echtheitsmetaphysische Vorverständnis“, demzufolge „richtiges“ Kapital, „richtiger“: kapitalistischer Reichtum, nur bei der Produktion von Gütermarktwaren entstehen könne.
Die historischen Umstände, die den wertkritischen Autoren einst einen schlampigen und eher assoziativen Umgang mit der Kategorie des fiktiven Kapitals zu erlauben schienen, sind in der Zwischenzeit freilich weggefallen. Angesichts der schweren weltwirtschaftlichen Erschütterungen der letzten Jahre ist die Krisenleugnung aus der Mode gekommen. Dass der Kapitalismus in einer fundamentalen Krise steckt, müssen die wertkritischen Autoren heute nicht mehr gegen den empirischen Anschein erst mühsam plausibel machen. Und auch das alte ceterum censeo der Wertkritik, die von den Geld- und Kapitalmärkten getragene Kapitalakkumulation sei prekär, unterscheidet die wertkritische Gesellschaftskritik nicht mehr grundsätzlich vom apologetischen Zeitgeist. Freilich stellt dieser den Zusammenhang auf klassisch-fetischistische Weise auf den Kopf. Die Krisenverarbeitungs-Ideologien, die spätestens seit dem Einbruch von 2008 hegemonial geworden sind, spielen allesamt das „gute Realkapital“ gegen das „böse Finanzkapital“ aus und jagen der Fata morgana einer Rückkehr zu einer am Primat der Realwirtschaft orientierten Warengesellschaft nach. Heute steht dem Gedanken, dass die Warengesellschaft ihre historische Schranke erreicht hat und dem Untergang geweiht ist, vor allem diese regressive Vorstellung im Weg, die in der angeblich einseitigen Ausrichtung der Wirtschaft auf die Geld- und Kapitalmärkte und deren Aufblähung die vermeintliche Krisenursache sieht.
Aber auch in Sachen Realanalyse zwingt die veränderte historische Situation die Vertreter des wertkritischen Ansatzes dazu, von Krisenprognose auf Krisendiagnose umzuschalten. Es gehört jetzt zu unseren Hauptaufgaben, die Verlaufsform des Krisenprozesses genauer zu durchleuchten und darzulegen, wie sich die Krise der Wertantizipation und die Krise der Wertverwertung miteinander verschränken. Dass ein auf dem ungedeckten Vorgriff auf künftige Wertproduktion beruhender Akkumulationsprozess früher oder später zu einem gigantischen Entwertungsschub führen muss, konnte die Wertkritik zwar auch mit einem verkürzten Verständnis der Kategorie des fiktiven Kapitals plausibel machen; die Binnenentwicklung des Wertantizipationssystems lässt sich indes erst gestützt auf eine Kritik der Politischen Ökonomie des fiktiven Kapitals, die das Phänomen der Verdoppelung von Geldkapital in den Finanzmarktbeziehungen ernst nimmt, systematisch aufrollen. Im Lichte einer solchen Theorie des inversen Kapitalismus entsteht ein viel klareres und facettenreicheres Bild der Veränderungen, die das kapitalistische Weltsystem in den letzten dreißig Jahren durchgemacht hat, als in früheren Publikationen wertkritischer Provenienz.[5]
Und auch den veränderten Anforderungen, die sich auf dem Feld der Ideologiekritik stellen, wird der neue Ansatz deutlich besser gerecht als die alte Argumentation. Wertkritik muss sich heute vor allem gegen die verschiedenen Spielarten des anachronistischen Traums von der Rückkehr zu einem auf ehrlicher Arbeit gründenden „gediegenen“ Kapitalismus positionieren. Wer selber in den Jargon der Echtheitsmetaphysik bemüht und noch immer von bloßer „Scheinakkumulation“ im Finanzüberbau redet, handelt sich damit angesichts der veränderten ideologischen Landschaft ein Abgrenzungsproblem ein. Er kann die Frontstellung gegen den Zeitgeist nie so konsequent durchhalten, wie eine Wertkritik, die mit der Theorie der Waren 2ter Ordnung im Hintergrund ganz ohne solche Anleihen auskommt.
5. Wie Robert Kurz die Fehldeutung der Kategorie des fiktiven Kapitals fortschreibt
Der einstige Grundfehler im Umgang mit der Kategorie des fiktiven Kapitals, wurde bereits skizziert: Die wertkritischen Autoren haben die Bewegung des reinen Geldkapitals nicht gesondert analysiert, sondern die Frage der realwirtschaftlichen Verwendung des in die Realwirtschaft weitergegebenen Geldkapitals in die Begriffsbestimmung des fiktiven Kapitals hineingenommen. Diese Vermengung von Finanzsphäre und Realwirtschaft ist keineswegs eine für die wertkritische Theoriebildung spezifische Missinterpretation. Dabei handelt es sich vielmehr um die unfreiwillige Übernahme aus dem Arbeiterbewegungs-Marxismus stammender Verkürzungen. Die gleiche irreführende Deutung findet sich beispielsweise auch schon bei Rudolf Hilferding, der in seinem Hauptwerk das Bankkapital mit der Geldform des produktiven Kapitals zu einem Einheitsbrei verrührte: „Dagegen ist das Bankkapital, das eigene und das fremde, nichts anderes als Leihkapital und dieses Leihkapital in Wirklichkeit nichts anderes als Geldform des produktiven Kapitals, wobei es wichtig ist, daß es zum größten Teil bloße Form ist, also rein rechnungsmäßig existiert.“ (Hilferding 1968, S. 235) Hilferding gehörte zwar zu den wenigen Theoretikern des traditionellen Marxismus, die auf das fiktive Kapital überhaupt ausführlicher zu sprechen kamen, aber nur um fiktives Kapital zu bloß in der Einbildung der beteiligten Wirtschaftsakteure existierendem Kapital zu erklären. In diesem Zusammenhang kommt er sogar auf das Phänomen der Verdoppelung des Ursprungskapitals zu sprechen, sieht darin aber ein rein juristisches Phänomen. Dass der bloße juristische Anspruch auf Geld, sobald er die Gestalt einer handelbaren Ware annimmt, aufhört, bloß im Kopf und den Bilanzen der Beteiligten Kapital darzustellen und gesamtkapitalistisch betrachtet ökonomische Realität gewinnt, lag außerhalb des Vorstellungsvermögens Hilferdings und des traditionellen Marxismus überhaupt.
Was die Frage des fiktiven Kapitals betrifft, so hat Robert Kurz in allen seinen nach der Jahrhundertwende erschienenen Schriften die grundlegende Schwäche der ursprünglichen wertkritischen Argumentation reproduziert und die Bewegung des fiktiven Kapitals und die Bewegung des fungierenden Kapitals miteinander kategorial vermischt. Robert Kurz erhob den Anspruch, eine radikale Kritik des Arbeiterbewegungs-Marxismus geleistet zu haben – und das insgesamt betrachtet auch völlig zu Recht. Was die Frage des fiktiven Kapitals angeht, blieb er indes dem Horizont des Arbeiterbewegungs-Marxismus verhaftet. Besonders deutlich wird das in dem im Jahr 2005 publizierten Buch Das Weltkapital. In dem Abschnitt des Buches, in dem er eigentlich hätte skizzieren müssen, wie der Vorgriff auf künftige Wertproduktion auf dem Boden der Kritik der Politischen Ökonomie gedacht werden kann, referiert Robert Kurz stattdessen ausführlich Rudolf Hilferdings damals knapp hundert Jahre alte angeblich „unübertroffene Darstellung […] des Finanzkapitals” (Kurz 2005, S. 248). Damit lobt er ein Werk über den grünen Klee, das für ein mit dem wertkritischen Ansatz unvereinbares Kapitalismusverständnis steht. Nicht nur, dass Hilferding die „Herrschaft des Finanzkapitals” soziologisch fasste und mit der sukzessiven Aufhebung der Konkurrenz und des Wertgesetzes gleichsetzte, an deren Stelle angeblich ein von den Banken kontrolliertes kapitalistisches Generalkartell träte.[6] Was die akkumulationstheoretische Bedeutung der Finanzmärkte betrifft, so reproduziert Hilferding eins zu eins die VWL-Sicht der Geld- und Kapitalmärkte als reiner Kapitalsammelstellen, deren Funktion sich darauf beschränkt, „Geld in welcher Form auch immer … aus brachliegendem Geld in fungierendes Kapital zu verwandeln” (Hilferding 1968, S. 108).
Die 1980er- und 1990er-Jahre hindurch war es in der Krisis-internen Diskussion zwischen Robert Kurz und uns unstrittig gewesen, dass Hilferdings Position mit dem wertkritischen Ansatz schon im Ansatz inkompatibel sei. Deshalb hat uns die späte Liebe, die Robert Kurz in Das Weltkapital und vorher schon in dem Text Die Tücken des Finanzkapitals (2003) für diesen Vertreter des traditionellen Marxismus entwickelte, etwas verblüfft. So richtig wohl scheint sich Robert Kurz bei seinem offenen Rückgriff auf einen der wichtigsten Vordenker des Arbeiterbewegungs-Marxismus allerdings nicht in seiner Haut gefühlt zu haben. In Geld ohne Wert schlägt er jedenfalls einen anderen, besser zu seiner Mentalität als Theoretiker der Tabula rasa passenden Weg ein: Dort lehnt er sich nicht an Hilferding an, sondern wendet sich gegen Marx, und zwar unter einem höchst eigentümlichen Vorzeichen. Er attackiert den in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften weitverbreiteten methodologischen Individualismus und behauptet, die dem Kapital zugrundeliegende Darstellungsweise sei diesem Theoriekonzept verhaftet geblieben und bedürfe deshalb der Korrektur. Dem setzt er als Gegenprogramm ein ominöses „dialektisches Totalitätsverständnis“ (Kurz 2012, S. 63) entgegen, das im Gegensatz zur Marx‘schen Methode konsequent vom kapitalistischen Gesamtprozess her argumentieren soll und von diesem aus die Kategorien bestimmt. Schaut man sich den Kurz‘schen Standpunkt etwas genauer, dann weist er fatale Schwächen auf. Zum einen ist der Vorwurf des methodologischen Individualismus, was Marx angeht, haltlos. Zum anderen verbirgt sich hinter dem Label des „dialektischen Totalitätsverständnisses“ fatalerweise genau die Vorgehensweise, deretwegen die wertkritische Diskussion früher den Begriff des fiktiven Kapitals nur unzureichend erfasst hat. So gesehen erhebt Geld ohne Wert einen punktuellen Fehler, der uns im Umgang mit der Kategorie des fiktiven Kapitals unterlaufen ist, in den Rang einer höheren methodologischen Weisheit und einer allgemeinen theoretischen Handlungsanweisung.
6. Methodologischer Individualismus und Historizität
Der Begriff des methodologischen Individualismus stammt aus der sozialwissenschaftlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion und wird dort üblicherweise in folgender Bedeutung verwendet: „… methodologische Sichtweise, bei der davon ausgegangen wird, dass soziale Institutionen und Prozesse mit Hilfe von Gesetzesaussagen über individuelles Verhalten erklärt werden müssen. Gemäß dieser These sind die Grundbestandteile der sozialen Welt (‚Gesellschaft’) Individuen, deren Handeln von ihren Neigungen und von ihrem spezifischen Situationsverständnis bestimmt wird“ (Wirtschaftslexikon 24).
Um den Begriff für seine Zwecke nutzbar zu machen, nimmt Robert Kurz an diesem Verständnis grundlegende Veränderungen vor. Die erste Umdefinition erscheint mir noch akzeptabel: Die Übertragung des eigentlich handlungstheoretisch ausgelegten Begriffs auf strukturanalytische Zusammenhänge. An die Stelle des einzelnen Individuums im landläufigen Verständnis rückt bei Robert Kurz das isolierte Strukturelement. Er schreibt „Der »methodologische Individualismus« besteht … im Wesentlichen darin, eine übergreifende Logik am isolierten Fall, der dann als »Modell« erscheint, darstellen und erklären zu wollen“ (Kurz 2012, S. 60). Damit aber nicht genug. Robert Kurz erweitert den Begriff um fünf „Komplexe“ (vgl. S.28 ff.), die mit der Frage des Ausgehens vom Einzelfall zum Teil nur sehr vermittelt oder gar nichts zu tun haben. Er funktioniert den Begriff des „methodologischen Individualismus“ zu einer Art universellem negativen Gegenstück zum eigenen Wertkritikverständnis um. So ziemlich jede Abweichung vom Kurz‘schen Theorieverständnis lässt sich damit dem heillos überdehnten Begriff des „methodologischen Individualismus“ subsumieren.
Für Kurz’ Marxkritik ist vor allem eine Weitung entscheidend. Sobald ein theoretischer Ansatz der „Historizität der Kategorien“ (S.28) nicht Rechnung trägt und die der kapitalistischen Produktionsweise zugrundliegenden Kategorien zumindest in einer unreinen Gestalt auch schon in vorkapitalistischen Gesellschaften am Werk sieht, verfällt er dem Verdikt des „methodologischen Individualismus“ aus . Zweifellos kann man in der Theoriegeschichte Positionen finden, die eine transhistorische Sicht mit dem „methodologischen Individualismus“ verbinden. Zu den absoluten Klassikern in dieser Hinsicht gehört Adam Smith. Der Urvater der Nationalökonomie ging beispielsweise bei seiner Ableitung der Notwendigkeit des Geldes nicht nur logisch vom isolierten Privatproduzenten aus, er projizierte gleichzeitig die Auflösung der Gesellschaft in getrennte Privatproduzenten in die Vergangenheit und behandelte dementsprechend Arbeit, Wert und Tausch als ewige gesellschaftliche Naturnotwendigkeiten. Das heißt jedoch keineswegs, dass jede transhistorische Deutung notwendigerweise gleichzeitig den isolierten Einzelfall zum Ausgangspunkt der Theoriebildung nehmen müsste. Beides kann zusammengehen, muss aber nicht. Genau das suggeriert Robert Kurz aber. Vor allem bei der geistesgeschichtlichen Schlüsselfigur, die für das Verständnis der Marx´schen Methode mit Abstand am wichtigsten ist, nämlich bei Hegel, fällt beides vollkommen auseinander. Indem er den gesamten Weltprozess als „Selbstentfaltung des Geistes“ fasste, deutete Hegel die ganze Weltgeschichte als einen einzigen Gesamtprozess des Zu-sich-Kommens der bürgerlichen Kategorien. Damit setzte er die transhistorische Denktradition der Aufklärung fort, die alle bisherige Geschichte als unreife Vorformen bürgerlicher Verhältnisse interpretiert hatte. Gleichzeitig war Hegel aber der Totalitätsdenker par excellence. Für ein auf das empirisch Einzelne fokussierte Denken hatte er nur Verachtung, und wenn es so etwas wie ein Antiprogramm zum methodologischen Individualismus avant la lettre gibt, dann Hegels Hauptwerk die Wissenschaft der Logik.
Robert Kurz konstatiert zu Recht, dass Marx die Historisierung der für die kapitalistische Produktionsweise spezifischen Kategorien in seinen Schriften nicht konsequent durchgehalten habe. Zumindest in den Grundrissen wollte Marx in der Tat noch unentfaltete Formen des Werts und der abstrakten Arbeit in vorkapitalistischen Gesellschaften erkennen. Schuld an diesen transhistorischen Anwandlungen ist vor allem die nur unvollständige Abnabelung vom Transhistorismus der Hegel‘schen Philosophie. Gerade diese Nähe zur Hegel‘schen Herangehensweise immunisierte Marx aber gleichzeitig gegen die Vorstellung, man könne vom empirischen Einzelfall aus die kapitalistische Wirklichkeit aufrollen.
Dass es einen engen Zusammenhang zwischen der Marx‘schen Methode und der Hegel‘schen Dialektik gibt, ist ja kein Geheimnis. In einem 1858 während der Arbeit am Hauptwerk verfassten Brief an Engels erwähnt Marx selber, dass seine eigene Vorgehensweise an die Hegel‘sche Methode andockt: „Übrigens finde ich hübsche Entwicklungen. Z.B. die ganze Lehre vom Profit, wie sie bisher war, habe ich über den Haufen geworfen. In der Methode des Bearbeitens hat es mir große Dienste geleistet, daß ich by mere accident … ‚Hegels Logik’ wieder durchgeblättert hatte“ (MEW 29, S.360). Um den Aufbau des Marx‘schen Hauptwerks zu begreifen, muss man diesen in der Marx-Diskussion der 1970er-Jahre häufig zitierten Hinweis ernst nehmen. Wie schon Roman Rosdolsky in seiner bahnbrechenden Arbeit zur Entstehungsgeschichte des Marx‘schen Kapitals[7] dargelegt hat, stellt Marx die Logik der kapitalistischen Produktionsweise dar, indem er in Anlehnung an Hegel sukzessive von den abstrakt-allgemeinsten Bestimmungen der modernen auf Warenproduktion gründenden Gesellschaft zum Konkreten aufsteigt. „Marx zeigt … vor allem, dass die Methode des ‚Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten’ die einzige wissenschaftliche Methode ist, ‚sich das Konkrete anzueignen, es als geistig Konkretes zu reproduzieren’. ‚Das Konkrete ist konkret’ – lautet der berühmt gewordene Satz der ‚Einleitung’ – ‚weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist. Also Einheit des Mannigfaltigen’. Deshalb kann es auch durch das Denken nur ‚als Prozeß der Zusammenfassung’, d.h. auf dem Weg der stufenweisen Rekonstruktion des Konkreten aus den einfachsten abstraktesten Bestimmungen desselben voll erfasst werden“ (Rosdolsky 1968, S. 43). Dieses „Aufsteigen vom „Abstrakten zum Konkreten“ (MEW 42, S. 35) ist etwas völlig anderes als das Ausgehen von irgendeinem empirisch einzelnen oder einem Idealtypus à la Max Weber.
Wenn dementgegen Robert Kurz behauptet, jede transhistorische Sichtweise verfalle zugleich auch dem methodologischen Individualismus, dann verfehlt das nicht nur die Hegel‘sche Methode, sondern erst recht die von Marx. Kurz stößt sich in seiner Kritik an Marx wesentlich von fragwürdigen Aussagen ab, die dieser über vorkapitalistische Gesellschaften machte. Doch damit trifft Kurz keineswegs den Kern der Marx‘schen Methode. Er ignoriert, dass Marx im Gegensatz zu Hegel streng zwischen logischer und historischer Darstellung unterscheidet und dass gerade das Hauptwerk sich ausschließlich mit der Logik der kapitalistischen Produktionsweise beschäftigt. Kurz vernebelt das aber systematisch, was besonders deutlich daran wird, dass er den historischen Begriff der „Keimform“ und den rein logischen der „Elementarform“ immer wieder in einem Atemzug gebraucht, als bezeichneten sie dasselbe. So resümiert Kurz seine Marxkritik im 3. Kapitel seines Buches folgendermaßen: „Der analogisierende Ausflug in die Naturgeschichte, was Marx ansonsten bei den bürgerlichen Ökonomen verspottet, unterläuft ihm hier selber im Drang, die kapitalistische Formation als vorläufigen Höhepunkt einer (positiven) transhistorischen Entwicklung und damit auch deren Kategorien als ‚weniger entwickelt’, gewissermaßen in ‚einfacher’ oder ‚primitiver’ Form, eben als ‚Keimformen’ oder ‚Elementarformen’, schon in der Antike zu vermuten“ (Kurz 2012, S. 60 f.). Indem Kurz die Begriffe Elementarform und Keimform wie Synonyme benutzt, möchte er seine Leser glauben machen, mit einer Kritik der Keimformvorstellung sei der Gedanke, dass die kapitalistische Produktionsweise so etwas wie eine logische „Elementarform“ habe, gleich miterledigt.
7. Empirische Ware und die Kategorie der Ware im 1. Band des Kapitals
Damit stellt Kurz die Darstellungsweise in Das Kapital direkt infrage. Den grundlegenden Fehler glaubt er im Ausgangspunkt der Marx‘schen Analyse zu erkennen: „Das Darstellungsproblem von Marx beruht … letzten Endes darauf, dass der ‚Anfang’ in Gestalt der Analyse der Warenform unwillkürlich in die Falle des methodologischen Individualismus führt“ (Kurz 2012, S. 169.
Kurz glaubt, Marx Folgendes ins Stammbuch schreiben zu müssen: „Die basalen Bestimmungen der Wertform der Ware als Moment des Kapitals können gar nicht an der einzelnen Ware entfaltet werden“ (Kurz 2012, S. 169).
Kurz unterstellt hier, Marx würde versuchen, die kapitalistische Logik von der „einzelnen empirischen Ware“ her aufzurollen. Was aber ist dran an diesem Vorwurf? Solange man die ersten beiden Sätze von Das Kapital völlig isoliert betrachtet, sich an den unmittelbaren Wortlaut hält und sowohl die methologischen Gemeinsamkeiten zwischen Hegels Wissenschaft der Logik und dem Marx’schen Hauptwerk als auch den Rest des ersten Kapitels ausblendet, scheint der Vorwurf plausibel zu sein. Marx schreibt: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware“ (MEW 23. S.49.
Liest man die einleitenden Worte in ihrem fetischismuskritischen Kontext, dann zeigt sich freilich, dass Marx im ersten Kapitel seines Buches keineswegs von beliebigen empirischen Waren spricht.[8] Er verwendet den Begriff der Ware vielmehr in einer vom landläufigen Sprachgebrauch völlig verschiedenen Bedeutung. Der Analysegegenstand des ersten Kapitels des Kapitals wird alsbald nämlich folgendermaßen bestimmt: „Nur Produkte selbständiger und voneinander unabhängiger Privatarbeiten treten einander als Waren gegenüber“ (MEW 23. S. 57).
Diese Kernaussage würde theoretischen Analphabetismus dokumentieren, spräche Marx hier von der Ware im empirischen Oberflächensinn. Natürlich ist ihm sehr wohl bewusst, dass auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise alles mögliche Warenform annimmt, bei Weitem nicht nur die Produkte von Privatarbeit. Weder die Ware Arbeitskraft stellt ein Produkt „getrennter, selbständiger und voneinander unabhängig betriebener Privatarbeit“ dar, noch gilt das für Grund und Boden und andere Naturressourcen – von der Ware Geldkapital ganz zu schweigen; und auch die Produkte des sogenannten „primären Sektors“ (Bergbau, Agrikultur usw.) sperren sich dieser Wesensbestimmung, weil in ihre Produktion ein Element arbeitsloser Naturaneignung eingeht und die Verwandlung vorgefundener Natur in Ware einer eigenen Logik folgt. Marx verengt den Warenbegriff im ersten Kapitel des Kapitals auf die Ware, soweit sie die Darstellungsform von Wert ist und damit die kapitalistische Kernstruktur verkörpert. Erst im Fortgang der Darstellung, in dem Maß wie die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise über die allgemeinsten abstrakten Bestimmungen hinaus entfaltet wird, führt Marx nach und nach all die Typen von Waren ein, von deren Existenz er zunächst abstrahiert hat. Im ersten Band des Kapitals gelangt der Konkretionsprozess nur bis zur Analyse der Ware Arbeitskraft. Die übrigen Waren begegnen dem Leser erst im dritten Band, erst dort erreicht die Rekonstruktion der kapitalistischen Totalität eine Stufe, auf der der selektive Warenbegriff fallengelassen werden kann. Nicht von ungefähr entwickelt Marx im ersten Kapitel seines Hauptwerks die „metaphysischen Spitzfindigkeiten und theologischen Mucken“ der Ware am Beispiel von Rock und Leinwand und lässt den mit Abstand wichtigsten Zweig der Reichtumsproduktion seiner Zeit, die Landwirtschaft, außen vor. Er muss den Warenbegriff derart verengen, weil er nur so die Kernstruktur der kapitalistischen Gesellschaft ins Visier nehmen kann: die Vergesellschaftung über die Produkte der Privatarbeit. Die Auflösung der gesellschaftlichen Produktion in Privatarbeit ist aber nichts anderes als die abstrakteste Bestimmung der kapitalistischen Produktionsweise, deren noch völlig unentfaltete Totalität, deren Totalität in nuce. Die Ware, die am Anfang des Kapitals steht, ist so unempirisch wie die Kategorie des „Seins“, mit der Hegel seine Wissenschaft der Logik beginnt.
Glaubt man Robert Kurz, dann findet der angebliche Marx‘sche methodologische Individualismus bei der Behandlung des Kapitals seine Fortsetzung. (Kurz 2012, S.169) Aber auch die Behauptung, Marx ginge bei der Untersuchung des Kapitalkreislaufs vom empirischen Einzelkapital aus, ist unhaltbar. Die Kategorie des Einzelkapitals spielt überhaupt erst bei der Analyse des Zusammenspiels vieler Kapitalien eine Rolle, also im dritten Band des Hauptwerks. Bis dahin bewegt sich die Darstellung logisch auf der Ebene „des Kapitals im allgemeinen“, (vgl. Rosdolsky 1968, S. 61 ff.) einer Kategorie, deren Existenz Kurz bezeichnenderweise unterschlägt.[9]
Neu ist die Vorstellung, Marx orientiere sich an der empirischen Ware und am empirischen Einzelkapital, nicht. Diese Deutung war schon im traditionellen Marxismus weit verbreitet, allerdings nicht als Vorwurf, sondern als positive Interpretation. Es war das große Verdienst der frühen Neuen Marx-Lektüre und ihrer Vorläufer, mit dieser verkürzten Lesart aufzuräumen und den qualitativen Unterschied zwischen der Kritik der Politischen Ökonomie und der bürgerlichen Wirtschaftslehre sichtbar zu machen – auch wenn sie diesen Unterschied später wieder weitgehend verwischt haben (vgl. Lewed 2016). Natürlich war Robert Kurz mit all diesen Debatten mindestens so gut vertraut wie ich. Umso bemerkenswerter und erklärungsbedürftiger ist es, weshalb er all dies in Geld ohne Wert als nicht-existent behandelt und damit die Marx´sche Darstellungsweise desavouiert. Warum hat Robert Kurz in seinem letzten Buch vergessen, was ihm früher selbstverständlich war? Warum ist er in die Sackgasse einer neuen Methodologie gelaufen, die die Totalitität der kapitalistischen Produktionsweise permanent im Munde führte, um ausgerechnet diejenige Vorgehensweise zu verbieten, die allein deren Rekonstruktion erlaubt?
8. Methodologischer Individualismus und Arbeitssubstanz
Einer der Gründe schimmert in den Auslassungen Bernd Czornys zu Die große Entwertung durch. Der bekennende Kurzianer kombiniert dort den Vorwurf des „methodologischen Individualismus“ ganz automatisch mit einem zweiten Anklagepunkt: Ich solle mich angeblich auch „widersprüchlich zum Substanzbegriff“ (Czorny 2016) verhalten.[10] Und in der Tat besteht ein innerer Zusammenhang zwischen diesen beiden Fragen.
In den Marx´schen ökonomiekritischen Schriften finden sich zwei unterschiedliche Fassungen der Kategorie der Arbeitssubstanz nebeneinander: ein naturalistisch-physiologischer Begriff, der eigentlich aus dem bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb des 19. Jahrhunderts stammt, und ein genuin fetischismuskritischer. Wertkritiker, die sich an ersteren halten, handeln sich damit, was den zeitgenössischen Kapitalismus angeht, ein massives analytisches Problem ein. Ein naturalistisch-physiologischer Arbeitssubstanzbegriff macht es schon im Ansatz unmöglich, in den Kategorien der Kritik der Politischen Ökonomie stringent zu erklären, wie das System der kapitalistischen Reichtumsproduktion auf künftige Wertproduktion vorgreifen und künftige Wertproduktion vorab kapitalisieren kann. Das Grundgeheimnis der Politischen Ökonomie der fiktiven Kapitalbildung, die zeitliche Inversion im Verhältnis von Wertverausgabung und Kapitalbildung, lässt sich nur auf der Grundlage eines fetischismuskritischen Substanzbegriffs lüften. Robert Kurz wollte von der Vorstellung einer pseudo-sinnlichen physiologischen Arbeitssubstanz nicht lassen. Damit war er dazu verurteilt, die Hilfskonstruktion der Gegenüberstellung von substanzlosem und substanziellem Reichtum fortzuschreiben. In Geld ohne Wert leistet er das, indem er die arbeitsphysiologische Vorstellung von den besonderen Waren ablöst und auf die Ebene des kapitalistischen Gesamtprozesses hebt.: „Die verausgabte abstrakt-menschliche Energie ‚fließt’ nicht unmittelbar in die produzierte einzelne Ware, sondern sie wird hinter dem Rücken der einzelnen Produktionsagenten objektiv aggregiert zu einer totalen Substanzmasse des gesamtgesellschaftlich produzierten Werts.“ (Kurz 2012, S. 179)
Wir leben in einer Zeit, in der die meisten Publizisten weder willens noch in der Lage sind, drei Sätze geradeaus zu denken. Robert Kurz stand für das totale Gegenprogramm. Seine theoretische Arbeit war von dem unbändigen Drang beseelt, jeden Gedanken bis zu seinem logischen Ende weiterzutreiben. Auch sein letztes Buch dokumentiert auf seine Weise diesen Grundzug Kurz‘scher Theoriebildung. In Geld ohne Wert hat Robert Kurz zwei Schwächen der frühen Wertkritik zu einem geschlossenen System weiterentwickelt. Im ominösen „dialektischen Totalitätsdenken“ adelt er das voreilige Vermengen der Analyse-Ebenen zu einer neuen Metatheorie. In der obskuren Vorstellung eines gesamtgesellschaftlichen Energiefonds, der die Gesamtwertproduktion repräsentieren und so etwas wie den Inhalt der kapitalistischen Totalität darstellen soll, über den Kurz aber allenfalls metaphorische Aussagen trifft (etwa Kurz 2012, S. 204), kommt die naturalistische Arbeitssubstanzvorstellung zu höchsten theoretischen Weihen.
Roman Rosdolsky hat bereits Ende der 1950er-Jahre die Widersprüchlichkeit im Marx‘schen Denken auf den Punkt gebracht und dem am Klassenkampf-Paradigma orientierten „exoterischen“ Marx den fetischismuskritischen „esoterischen Marx“ gegenübergestellt. Robert Kurz hat diesen Gedanken Jahrzehnte später aufgegriffen und als Theorem des „doppelten Marx“ in die wertkritische Debatte eingeführt (Kurz 1991, S. 16). Der Gegensatz zwischen dem Robert Kurz von Geld ohne Wert und meiner Position lässt sich als spiegelverkehrter Versuch fassen, die Trennlinie zwischen dem esoterischen und dem exoterischen Marx genauer zu bestimmen, um die Kritik der Politischen Ökonomie weiterentwickeln zu können.
Die Methode, die Marx seinem Hauptwerk zugrundelegte, das sukzessive Aufsteigen von den abstraktesten Bestimmung der kapitalistischen Produktionsweise zur entfalteten Totalität, ist nach wie vor wegweisend und als Darstellungsweise der kapitalistischen Totalität unverzichtbar. Dagegen führen die überhistorische Verwendung des Arbeitsbegriffs und die daraus resultierende naturalisierende Herleitung der Arbeitssubstanz als physiologisches Substrat weg vom fetischismuskritischen Kern der Marx´schen Argumentation. Sie vernebeln den Gegensatz zwischen dem negativen und historisch spezifischen Wertbegriff der Kritik der Politischen Ökonomie einerseits und dem überhistorisch affirmativen Arbeitswertkonzept der klassischen Ökonomie anderseits. An der unglücklichen Vermengung der Kritik des Warenfetischs mit einer physiologisch-mechanischen Arbeitssubstanz-Vorstellung hielt Robert Kurz aber fest und schoss sich stattdessen auf die Marx´sche Methodologie ein. Das Resultat ist verheerend. Wer wie Robert Kurz in seinem letzten Buch so tut, als ließe sich die Totalität erfassen, ohne sie dabei in ein gegliedertes Ganzes aufzulösen, landet zwangsläufig bei einer zirkulären Argumentation (siehe auch Samol 2013, S. 12 ff.). Er muss entweder voraussetzen, was er beweisen will, oder doch heimlich wieder den Weg gehen, den er als vermeintlichen „methodologischen Individualismus“ verdammt hat. Ein „dialektisches Totalitätsverständnis“, bei dem die Rekonstruktion der gesellschaftlichen Totalität nicht mehr das Ergebnis des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten ist, sondern der entfaltete Gesamtprozess zur Voraussetzung jeder kategorialen Bestimmung gemacht wird, macht jede kategoriale Bestimmung, die diesen Namen verdient, unmöglich.
Robert Kurz neigte bekanntlich zu zuspitzenden Formulierungen. Wenn man diesem Vorbild folgt, dann lässt sich der Stellenwert seines letzten Buches für den wertkritischen Ansatz in einem Satz zusammenziehen. In Geld ohne Wert macht Robert Kurz alles wieder zunichte, was er und andere über Jahrzehnte mühsam aufgebaut haben.
Literatur
Bernd Czorny (2016): Ernst Lohoff und der methologische Individualismus. http://www.exit-online.org/druck.php?tabelle=autoren&posnr=560
G.W.F. Hegel (1975): Wissenschaft der Logik. Hamburg 1975
Rudolf Hilferding (1968): Das Finanzkapital. Frankfurt am Main 1968
Robert Kurz (1991): Die verlorene Ehre der Arbeit. In: Krisis 10, Erlangen
Robert Kurz (2003): Die Tücken des Finanzkapitals. Streifzüge 3/2003
Robert Kurz (2005): Das Weltkapital. Berlin
Robert Kurz (2012): Geld ohne Wert. Grundrisse zu einer Transformation der Kritik der Politischen Ökonomie. Berlin
Karl-Heinz Lewed (2016): Rekonstruktion oder Dekonstruktion. Krisis/Beitrag 3/2016
Ernst Lohoff/ Norbert Trenkle (2012): Die große Entwertung. Münster
- Ernst Lohoff (2014): Kapitalakkumulation ohne Wertakkumulation. Der Fetischcharakter der Kapitalmarktwaren und sein Geheimnis. Krisis-Beitrag 1/2014, krisis.org/2014/kapitalakkumulation-ohne-wertakkumulation/
- Ernst Lohoff (2016): Die letzten Tage des Weltkapitals. Krisis/Beitrag 5/2016, http://www.krisis.org/2016/die-letzten-tage-des-weltkapitals/
- Marx, Karl: Grundrisse. MEW 42, Berlin 1983
- : Das Kapital. MEW 23, Berlin 1962
- : Das Kapital. MEW 25, Berlin 1965
- : Briefwechsel. MEW 29, Berlin 1978
- Norbert Trenkle/ Robert Kurz: Fiktives Kapital. 1998 http://www.krisis.org/1998/fiktives-kapital/
Roman Rosdolsky (1968): Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapital. Frankfurt
Wirtschaftslexikon 24: http://www.wirtschaftslexikon24.com/d/methodologischer-individualismus/methodologischer-individualismus.htm
Peter Samol (2013): Ein theoretischer Holzweg. Krisis Beitrag 4/2013, www.krisis.org/2013/ein-theoretischer-holzweg/
Anmerkungen
[1] Die theoretische Darstellung findet sich in Lohoff/ Trenkle 2012, S. 124-163 und noch etwas ausgereifter in Lohoff 2014. In einem neueren Text (Lohoff 2016) habe ich die Konsequenzen für die Einschätzung des Krisenprozesses genauer ausgeführt.
[2] Der Kreis der Kategorien, die wir als rein warengesellschaftliche und damit als historisch bedingte verstanden, hat sich dabei sukzessive erweitert. Die frühen Texte, beispielsweise Robert Kurz‘ Krise des Tauschwerts und Abstrakte Arbeit und Sozialismus operieren noch mit einem überhistorischen Arbeitsbegriff, der später bekanntlich verworfen wurde.
[3] Die „echtheitsmetaphysische“ Sicht ist weit verbreitet und verbindet Anhänger unterschiedlicher Lager. Für die monetaristische Theorie ist sie geradezu konstitutiv. Aber auch der traditionelle Marxismus argumentiert vor dem Hintergrund seines emphatischen Bezugs auf die Arbeit als Quelle allen Reichtums ganz ähnlich. Auch für ihn zählt nur die Realwirtschaft als „wirklich”.
[4] Konsequent zu Ende gedacht, würde sich nach dem obigen Verständnis auch Eigenkapital unter Umständen in fiktives Kapital verwandeln. Immer dann, wenn es die in es gesetzten Profiterwartungen nicht erfüllt und es im Sinne der Wertverwertung falsch investiert wurde, würde es im Nachhinein den Charakter „fiktiven Kapitals” annehmen.
[5] Vgl.dazu meinen kürzlich publizierten Essay Die letzten Tage des Weltkapitals (Lohoff 2016).
[6] Dass Robert Kurz meinte, ausgerechnet Hilferding würde einen theoretischen Beitrag zum Verständnis des heutigen „finanzmarktdominierten Kapitalismus” liefern, ist übrigens auch auf einer rein empirischen Ebene kaum nachvollziehbar: Für Hilferding bedeutet „Herrschaft des Finanzkapitals”, dass das Bankkapital unter Hintanstellung kurzfristiger Profitinteressen sukzessive sämtliche produktive Unternehmen seiner direkten Kontrolle unterwirft und quasi zu einem Generalunternehmer aufsteigt. Das ist ziemlich genau das Gegenteil vom heute herrschenden berüchtigen „Shareholder value”, wo die kurzfristigen Gewinninteressen der Besitzer fiktiven Kapitals den Gang der Wirtschaft bestimmen.
[7] Dieses Werk war nicht nur für die Marxrezeption im Gefolge der 1968er-Bewegung grundlegend, sondern auch für das wertkritische Methodenverständnis.
[8] Hegel eröffnet das erste Buch seiner „Wissenschaft der Logik“ mit dem Abschnitt „womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden“ und schiebt damit methodologischen Missverständnissen einen Riegel vor. Marx steigt dagegen in seine Darstellung ein, ohne den Ausgangspunkt zu begründen und klar zu umreißen, was unter Ware auf der ersten aller abstraktesten Stufe der Darstellung zu verstehen sei. Hätte Marx nach dem Hegel‘schen Vorbild seiner Untersuchung ein methodisches Prolegomenon vorangestellt, hätte das einiges an Verwirrung erspart.
[9] Die Unterscheidung zwischen Kapital im allgemeinen, Einzelkapital und kapitalistischem Gesamtprozess findet sich auch schon in den Grundrissen. Zum Kapital im allgemeinen heißt es dort: „Das Kapital im allgemeinen im Unterschied von den besondren Kapitalien, erscheint zwar 1. nur als eine Abstraktion; nicht eine willkürliche Abstraktion, sondern eine Abstraktion, die die differentia specifica des Kapitals im Unterschied zu allen anderen Formen des Reichtums auffaßt – oder die Weisen. … Es sind dies Bestimmungen, die jedem Kapital als solchem gemein oder jede bestimmte Summe von Werten zum Kapital machen. Und die Unterschiede innerhalb dieser Abstraktion sind ebenso abstrakte Besonderheiten, die jede Art Kapital charakterisieren, indem es ihre Position oder Negation ist (z.B. capital fixe oder capital circulant; 2. aber ist das Kapital im allgemeinen im Unterschied von den besonderen reellen Kapitalien selbst eine reelle Existenz. Es ist dies von der gewöhnlichen Ökonomie anerkannt, wenn auch nicht verstanden” (MEW 42, S. 362).
[10] Das Etikett methodologischer Individualismus passt zu meinem Versuch, die Kritik der Politischen Ökonomie mit der Theorie der Waren 2. ter Ordnung über den bei Marx erreichten Stand hinaus zu konkretisieren, genauso gut wie zur Darstellungsweise im Marx´schen Kapital. Mein Substanzbegriff ist keineswegs in sich widersprüchlich. In seiner konsequent fetischismuskritischen Ausrichtung unterscheidet er sich nur grundlegend vom Kurz‘schen Arbeitssubstanzbegriff, den Czorny als verbindlich voraussetzt.