Vortrag von Ernst Lohoff und Lothar Galow-Bergemann
gehalten am 7. Dezember 2019 in München auf dem Kongress Stolz & Vorurteil
Linke, die jahrzehntelang vor allem auf Identitätspolitik gesetzt und die soziale Frage vergessen haben, üben sich zu Recht in Selbstkritik, denn mit dieser Ausrichtung überließen sie die Deutung wichtiger gesellschaftlicher Konflikte den Liberalen und Konservativen. Viele erhoffen sich von der Rückbesinnung auf die Klasse und ihre Kämpfe einen Ausweg aus dieser Sackgasse. Dummerweise handelt es sich bei dieser vermeintlichen Lösung aber nur um die Fortsetzung ihres Kardinalfehlers unter nostalgischen Vorzeichen.
Als die kapitalistische Reichtumsproduktion noch auf Massenarbeit beruhte, konnten Kämpfe, die auf das gemeinsame Interesse der Lohnabhängigen orientierten, noch soziale Fortschritte im Rahmen des Lohnsystems erreichen. Unter den Bedingungen eines von Finanzmarktdynamik und Globalisierung getragenen Kapitalismus, in dem die Konkurrenz aller gegen alle mehr denn je Gesellschaft und Alltagsleben dominiert, ist die Beschwörung irgendeiner ominösen Klassenidentität dagegen nur noch eine nostalgische Phantasie. Ob Wohnungsfrage, radikale Arbeitszeitverkürzung oder die Verhinderung der Klimakatastrophe – für keinen der Kämpfe, die heute geführt werden müssen, ist mit der Wiederentdeckung der Klasse irgendetwas gewonnen. Eine emanzipative Perspektive und die Zusammenführung der scheinbar disparaten Kämpfe wären ganz anders herzustellen. Dem identitätspolitischen Zerstörungsprogramm der Rechten und dem neoliberalen Markttotalitarismus ist ein neues Projekt der Vergesellschaftung entgegenzusetzen, in dessen Zentrum die Befreiung des gesellschaftlichen Reichtums von der Herrschaft der betriebswirtschaftlichen Logik stehen muss: Es gilt nicht weniger, als sich vom Prinzip der „Finanzierbarkeit“ unseres Lebens zu verabschieden.