Anmerkungen zum Essay von Bruno Latour: »Das terrestrische Manifest«
von Richard Aabromeit (Jan 2019)
Der deutsche Titel des Büchleins von Bruno Latour: »Das terrestrische Manifest« (erschienen als Sonderdruck der edition suhrkamp, übers. von Bernd Schwibs, Berlin 2018, 144 S., 14 Euro), klingt bombastischer als es der Buchinhalt tatsächlich ist, aber auch plakativer als der französische Originaltitel von 2017: »Où atterrir? Comment s’orienter en politique«[1]. Ganz plakativ behauptet Latour dann gleich zu Beginn, dass er »kein anderes Ziel« verfolge, als »drei Phänomene miteinander zu verknüpfen […] deren Zusammenhang nicht immer gesehen wurde« (S. 9). Diese drei wären: »›Deregulierung‹, mit der das Wort ›Globalisierung‹ eine fortschreitend negative Bedeutung gewinnt«, sowie eine »Explosion der Ungleichheiten« und vor allem »die systematische Leugnung der Klimaveränderung« (ebd.). Wir werden sehen, dass Latour die Meinung vertritt, diese Phänomene hätten alle drei ihre Verknüpfung und auch ihren Grund im Klimawandel und dessen Folgen; und ich werde versuchen zu zeigen, dass Latour (nicht nur hier) die Welt häufig auf den Kopf gestellt sieht, also immer wieder einem Fetisch unbewusst anheimfällt. Damit schon von Anfang an niemand auf die tolle Idee kommen möge, Latour könnte ein fortgeschrittener Gesellschaftskritiker sein, der die marxistisch-leninistische Klassenideologie überwunden oder auch die Hardt-Negri’sche Imagination einer Multitude hinter sich gelassen hätte, ruft er aus: »Alles spricht dafür, dass ein gewichtiger Teil der führenden Klassen (heute recht vage als ›Eliten‹ bezeichnet) zu dem Schluss gelangte, dass für ihn und für den Rest der Menschen nicht mehr genügend Platz vorhanden sei. […] Seit den achtziger Jahren geht es den führenden Klassen nicht länger darum, die Welt zu führen, vielmehr suchen sie außerhalb dieser Welt Schutz.« (S. 9f.). Da müssten doch alle wackeren Klassenkämpfer/innen in einen veritablen Siegestaumel verfallen – die Bourgeoisie ist nicht mehr in dieser unserer Welt, ja vielleicht in einem Paralleluniversum, das vollkommen ohne Wechselwirkung mit dem unsrigen auskommen muss?
Bruno Latour, geb. am 22. Juni 1944 in Beaune, Prof. em., ist ein französischer Philosoph und Soziologe, angeblich stark beeinflusst von Gilles Deleuze, Michel Serres und Peter Sloterdijk. Er ist der Begründer der sogenannten Akteur-Netzwerk-Theorie, die davon ausgeht, dass an jeder Handlung ein Netzwerk von Agierenden beteiligt sei; der Akteur-Status beschränkt sich dabei nicht auf menschliche Individuen, denn auch andere Organismen, ja selbst Dinge seien zu Aktionen fähig. Latour apostrophiert denn auch folgerichtig, dass Γαῖα selbst, also unsere Erde, ein Organismus sei, und zwar einer, der jetzt damit beginnt zurückzuschlagen, nachdem die Menschen in Gestalt der Hypermodernisierer ihr allzu viel angetan hat.
Auch wenn er den Klassenkampfgedanken immer wieder in seinem Manifest einstreut und weiterführt: Das, was er anführt, ist nicht neu und alles andere als revolutionär, sondern lediglich alter Wein in neuem Schlauch – und von ihm mit neuen, von gewöhnungsbedürftigen bis wirren Denominationen ausgestattet. Davor jedoch offenbart er uns noch kurz, was man wissen muss, will man nicht ganz doof dastehen im Angesicht der Krise und ihrer politischen Bearbeitung: »Man versteht nichts von den seit fünfzig Jahren vertretenen politischen Positionen, wenn man die Klimafrage und deren Leugnung nicht ins Zentrum rückt. Ohne den Gedanken, dass wir in ein Neues Klimaregime eingetreten sind, kann man weder die Explosion der Ungleichheiten, das Ausmaß der Deregulierungen, die Kritik an der Globalisierung noch, vor allem, das panische Verlangen nach einer Rückkehr zu den früheren Schutzmaßnahmen des Nationalstaats […] verstehen.« (S. 10). Latour zufolge wird unsere Gesellschaftsformation nicht etwa Widerspruch einer verrückten Kapitalverwertung um ihrer selbst willen einerseits, und der Nichtverwertbarkeit des davon Abgespaltenen, genauso notwendigen wie nicht der Verwertung subsumierbaren Bereiches der – weiblich konnotierten – Sorge, Empathie, Reproduktion usw. vorangetrieben. Nein: Ihre Dynamik erklärt sich schlicht und einfach aus der Klimaftage! Er kommt mithin überhaupt nicht auf die Idee, dass die beginnende ökologische Katastrophe etwa das Resultat einer Gesellschaftsformation und deren Aktivitäten ist, in der Wirkmechanismen und Grundsätze am Werk sind, denen es unter anderem völlig gleichgültig ist, ob das Klima menschengerecht bleibt oder sich von diesem Zustand entfernt, solange nur die Verwertungsmechanismen sichergestellt und optimiert werden!
Etwas unvermittelt zählt Latour dann vier, von ihm als historisch eingestufte, Ereignisse auf, die darauf hinauslaufen, dass es »den Planeten, die Erde, den Boden, das Territorium, die den Globus der von allen Ländern angestrebten Globalisierung beheimaten sollte, nicht gibt« (S. 14): den Brexit; den Wahlsieg Donald Trumps; die Ausweitung der Migrationen; und nicht zuletzt das verabschiedete Übereinkommen der COP21[2] von Paris. Unbestritten sind das alles wichtige Ereignisse gewesen, und Latour braucht sie auch, um seinen Standpunkt zu explizieren; aber ihre Bedeutung übertreibt er doch ziemlich. Dass er durchaus auch bereit und in der Lage ist, Dinge platterdings auf den Kopf zu stellen, zeigt er, wie oben schon angedeutet, schon am Anfang des Buches: »Die Migrationskrise ist zu einer allgemeinen geworden.« (ebd.). Oh, lieber Sankt Bruno, es ist in der banalen Realität genau umgekehrt! Da die seit fast fünfzig Jahren nicht bewältigte allgemeine Krise der Kapitalverwertung sowie der »Verwilderung des Patriarchats« (Roswitha Scholz) bis heute fortdauert, ja sich tendenziell immer weiter verschärft, deswegen ist eben auch noch zusätzlich das Krisenphänomen der modernen Migration hinzugetreten. Im Übrigen lässt uns Latour das ganze Buch hindurch im Unklaren, weshalb es auch schon früher Krisen der Kapitalverwertung gegeben hat – seit etwa 1815, manche andere sagen seit 1825 –, obwohl zu den damaligen Zeiten noch gar keine Klimaveränderung zu verzeichnen war.
Das Lokale, das Globale, Vektoren, Erster und Zweiter Attraktor
Für Latour sind die Begriffe ›Modernisierung‹ und ›Globalisierung‹ so gut wie synonym und schon in seinem Buch von 2008 (französisch 1997): »Wir sind nie modern gewesen« beschuldigt er die Modernisierung »fast sämtliche Kulturen und Naturen gewaltsam und blutig zerstört«[3] zu haben. Auch hier bereits stellt er den Sachverhalt mehr oder weniger auf den Kopf: die für ihn mysteriös bleibende technologische Modernisierung gewinnt in einer Personifizierung seitens des heiligen Bruno die Macht alles Mögliche zu zerstören, obgleich sie in Wahrheit das Resultat der Anstrengungen zur Optimierung der Kapitalverwertung ist.
Dritter und Vierter Attraktor
Die mathematische Mystik des Bruno Latour geht noch weiter: Es tritt nämlich, außer dem bis hierher noch unerklärten dritten, ein vierter Attraktor auf die Bühne bzw. in die Abbildungen des Buches, der allerdings namentlich vorgestellt wird: Das Außererdige. An diesem Außererdigen sei jetzt Donald John Trump schuld: »Alles spricht dafür, dass es Trump gelungen ist, einen vierten Attraktor auszumachen. Und er ist mühelos zu benennen: Es ist das Außererdige […], der Horizont dessen, was nicht mehr zu den Realitäten einer Erde gehört, die auf sein Tun reagiert.« (S. 44). In diesem Zusammenhang scheint Latour eine dumpfe Ahnung zu kommen: »In gewissem Sinne bescheinigt die Wahl Trumps dem Rest der Welt, dass das Ende einer auf ein angebbares Ziel orientierten Politik gekommen ist. Das ist […] eine buchstäblich gegenstandslose Politik« (S. 48f.). Zwar ist die heutige Politik keineswegs gegenstandslos, aber als erster Schritt hin zu einem tieferen Verständnis und einer kategorialen Gesellschaftskritik mag diese Behauptung noch durchgehen. Hier immerhin angekommen, verzichtet er aber lieber auf eine kritische Analyse und Weiterbearbeitung seiner Ahnung, sondern zeiht uns (alle) der Lächerlichkeit, wenn wir glaubten, »über keinen genauen Hinweis auf diesen dritten Attraktor« (S. 49) zu verfügen. Er klärt uns aber doch jetzt auf mit dem nur für sehr Leichtgläubige völlig einleuchtenden Verweis darauf, »dass wir nicht zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Verweigerung und Hinnahme der Modernisierung schweben, sondern um 90 Grad gedreht, zwischen dem alten und einem neuen Vektor, vorwärts getrieben von zwei Zeitpfeilen, die nicht mehr in dieselbe Richtung verlaufen« (S. 50). Aha! Jetzt muss noch ein Name für diesen attraktiven Attraktor her; er entscheidet sich für das »TERRESTRISCHE (in Großbuchstaben, um deutlich zu machen, dass es sich um ein bestimmtes Konzept handelt« (S. 51), und das ist nun der neue »Politik-Akteur« (ebd.). Dieser abstrakte, oder vielleicht auch transzendente, oder gar göttliche Akteur nun ist ein solcher, so Latour, »der auf die Aktionen der Menschen reagiert« (ebd.), »uns umschließt, uns beherrscht, etwas von uns verlangt und uns […] mitreißt« (S. 52). Leider will Latour nicht mit einer mehr oder weniger gelungenen Metapher auf das »automatische Subjekt« (Karl Marx) der Kapitalverwertung, auch nicht auf die innerhalb dieser Verwertung um ihrer selbst willen handelnden »Charaktermasken« (Marx), ja nicht einmal auf das Spannungsverhältnis von »Ich und Überich« (Sigmund Freud), aufmerksam machen. Er will auch gar nicht konkret benennen, was dieses TERRESTRISCHE genau darstellen soll, sondern eiert eher um eine Erläuterung oder begriffliche Klärung herum: »Das TERRESTRISCHE stellt nicht länger allein den Rahmen menschlichen Handelns dar, es ist vielmehr Teil davon« oder »Das TERRESTRISCHE ist zweifellos eine NEUE WELT, ähnelt aber keineswegs der einst von den Menschen ›entdeckten‹ […] Das ist keine neue Terra incognita« (S. 53). Darauf aufbauend postuliert er, dass der moderne Geist »wird lernen müssen, mit jenen zusammenzuleben, die er bisher als Altvordere, Traditionalisten, Reaktionäre oder schlicht als Lokalpatrioten betitelte.« (S. 54). Der heilige Bruno »behauptet sein eigenes Terrain, er kämpft pro aris et focis« (MEW 3, 81). Zugegeben, das ist – unter Gesellschaftskritiker/inne/n – durchaus etwas Neues! Nur ist das inhaltslos, leer, sogar nahe an der Formlosigkeit, also amorph und substanzfrei. Somit fällt Latour sogar noch hinter die »schrillen Forderungen« der von ihm gerade noch verächtlich beschmunzelten Linken und Rechten heutiger Tage zurück. Man könnte sagen, er entspricht selbst ausgezeichnet der Situation, die er beschreiben möchte: »Die Leere der gegenwärtigen Politik« (S. 55). Und er hat in Bezug auf viele Aktivist/inn/en sehr Recht: »Das kann einen wahrlich in Schockstarre versetzen.« (ebd.)!
Das Terrestrische
Ohne zu verstehen, dass der seit vielen Jahrzehnten zu beobachtende Dissens zwischen Ökologie / Romantik einerseits und Sozialem / Ökonomie andererseits etwas mit dem Widerspruch zwischen Tauschwert und Gebrauchswert der Warenwelt zu haben könnte, und dass die ökologischen Bewegungen, wie er zutreffend konstatiert, gescheitert sind, weil sich die systematische Gleichgültigkeit des Kapitalverwertungsprozesses gegenüber seinen eigenen stofflichen Grundlagen gegen die auf eine Stofflichkeit der Umwelt beharrenden Kämpfer/inne/n durchgesetzt hat, problematisiert Latour weiter den Rechts-Links Gegensatz. Diesen aufzulösen gelänge am besten, wenn man sich von den traditionellen Vektoren – zur Erinnerung: Globales vs. Lokales und ggf. vs. Außererdiges – entfernte und sich endlich entlang neuer Vektoren dem Heilsbringer-Attraktor des TERRESTRISCHEN zuwendete. Und zum wiederholten Male legt er seinen Leser/inne/n die Perversion nahe: »Man wird sich Verbündete bei jenen Leuten suchen müssen, die der einstigen Einteilung gemäß klar ›Reaktionäre‹ waren.« (S. 63). Will etwa Bruno Latour anschlussfähig werden für ein Bündnis ›EELV – RN – PCF‹[4] in Frankreich oder in Deutschland für eine Koalition von ›Die Grünen‹, ›DIE LINKE‹ und ›AfD‹ werben? Nein, ich habe ihn nicht missverstanden, er meint das mit der Annäherung an Reaktionäre schon so, wie es geschrieben steht! Dieser dritte Attraktor, das TERRESTRISCHE, also eine Art der »politischen Ökologie« (S. 64), ist, wiederum anders als die obsoleten Vektoren, »eine objektzentrierte Politik« (ebd.), die die falschen Territorien der alten Politik wechselt, und die politischen Einstellungen und Affekte der alten Zeit hinter sich lässt. Nachdem also die Verbündeten dieses neuen Kampfes gefunden sind, gilt es noch, die Feinde zu erkennen: »Und auch die neuen Gegner wären leicht zu bezeichnen: Es sind alle jene, die weiterhin ihre Aufmerksamkeit den Attraktoren 1, 2 und vor allem 4 zuwenden […] also das LOKALE, das GLOBALE und das AUSSERERDIGE.« (ebd.). Das sind nun dummerweise fast alle Menschen unserer Erde – und das fällt sogar Latour auf, denn er muss bedauernd feststellen: »Aber diese Gegner bilden auch die einzigen potenziellen Verbündeten, und so ist es ein Gebot der Stunde, sie zu überzeugen und umzustimmen.« (ebd.). Siehste wohl, janz einfach und allet andere als neu! Die Parole heißt also: Zurück, wo immer das ist. Es soll allerdings nur nicht zurück zu »ethnische[r] Homogenität, Musealisierung, Historizismus, Nostalgie, falsche Authentizität« (S. 65) sein. Vielmehr gäbe es »nichts Innovativeres, nichts, das stärker präsent […] technischer, künstlicher (im besten Wortsinn) und weniger rustikal und bäuerisch-ländlich wäre, nichts, das schöpferischer wäre […] als darüber zu verhandeln, wie und wo wieder Bodenhaftung erzielt werden könnte.« (ebd.). Und weiter: «Denn das TERRESTRISCHE hängt zwar an Erde und Boden, ist aber auch welthaft in dem Sinne, dass es sich mit keiner Grenze deckt und über alle Identitäten hinausweist.» (S. 66). Freund/in und Feind/in sind also geklärt – oder? Jedenfalls ein Problem der fundamentalen Widersprüchlichkeit unserer Gesellschaftsformation, die die Totalität wie auch die Individualität durchdringt, gibt es wohl nicht – und wenn doch, dann sollen sich andere darum kümmern; jedenfalls Latour tut solches nicht.
›Sozialismus‹ vs. ›Ökologie‹?
Kurz streift Latour das Thema, warum eine Transformation, wie sie Karl Polanyi in seinem 1944 erschienen Buch: The Great Transformation beschreibt, und wie Latour sie sich möglicherweise imaginiert, nämlich eine final problemlösende (vielleicht kommunistische?), insbesondere die nach Latour zentralen Probleme der Migration und des Klimawandels beseitigende, nicht wirklich stattgefunden habe. Seine Begründung: »Weil Sozialismus und Ökologie es nicht zustande brachten, wirksam ihre Kräfte zu bündeln« (S. 69). Als hätten diese beiden Bewegungen je im Sinn gehabt, sich zu verbünden und dann eine große Transformation zu erreichen, und das auch noch zusammen! »Zu schwach waren sie« (ebd.) bejammert er sie. Ich muss es noch einmal in anderen Worten wiederholen: Latour verkennt die gesellschaftliche Realität beinahe auf jeder Seite seines Buches. Hier geht es darum, dass der ›Sozialismus‹, zu dem er nicht sagt, was das war/ist, aber auch die ›Ökologie‹ nicht eine Transformation kategorischer Art im Sinne hatten, sondern in strikt konservativ-affirmativer Manier mehr oder weniger gravierende Missstände der Gesellschaft beseitigen, reparieren wollten und noch weiterhin wollen. Karl Mannheim definiert bekanntlich ›konservativ‹ so: »Einer der wesentlichen Charakterzüge dieses konservativen Erlebens und Denkens scheint uns das Sichklammern an das unmittelbar Vorhandene, praktisch Konkrete zu sein […] Konservativer Reformismus besteht im Austausch (Ersetzung) der Einzeltatsachen durch andere Einzeltatsachen (›Verbessern‹).«[5] Der Konservatismus des sogenannten Sozialismus brachte die Arbeiterklasse in den Stand, der ihr theoretisch a priori in der kapitalistischen Produktionsweise zugeteilt ist, jedoch von der konkreten Bourgeoisie nur durch zahlreiche und blutige Kämpfe konzediert wurde; und der Konservatismus der Ökologie besteht schlicht darin, das Zerstörerische der Kapitalverwertung gegenüber ihren stofflichen Grundlagen – Umwelt, Gesundheit, usw. – zu moderieren, zu reparieren, überall wo es halt nötig ist. Mehr hatten beide Bewegungen nie wirklich vor, trotz gelegentlicher starker Sprüche wie ›soziale Revolution‹ oder ›Umwelt-Revolution‹. Latour selber allerdings argumentiert stellenweise viel zu extravagant, um ihn als reinen Konservativen entlarven zu können. Ihn aber als Reaktionär zu betiteln, das fällt erheblich leichter, da er ja expressis verbis ein Bündnis mit solchen Vertreter/inn/en sucht und dies obendrein auch noch seinen Leser/inne/n anrät.
Der Wandel im zwanzigsten Jahrhundert und das Präfix ›geo-‹
Nachdem er so ganz nebenbei noch den Fortschritt der Industrialisierung, Urbanisierung und Kolonisierung lobpreist (»Der Fortschritt entriss Abermillionen von Menschen dem Elend, wenn nicht der Herrschaft«; S. 72. Dass das genaue Gegenteil der Fall war/ist, scheint Latour nicht zu bemerken oder vielleicht bewusst zu ignorieren), konstatiert er etwas prinzipiell Zutreffendes und Wichtiges, allerdings wiederum in seiner eigenartigen und wohl recht erdigen Ausdrucksweise: »Nun fand im Verlauf des gesamten 20. Jahrhunderts […] mehr oder weniger im Verborgenen und still, jedenfalls ohne dass sich die Linken allzu sehr darum kümmerten, ein tief greifender Wandel der Begriffsbestimmungen von Materie, Welt und der allem zugrunde liegenden Erde statt.« (S. 73). Gut, nicht die Begriffe allein, sondern die gesellschaftlichen Zustände haben sich in den betreffenden einhundert Jahren heftig gewandelt – aber das sei ihm einmal geschenkt. Nur, kaum hat er das geäußert, wendet er sich schon wieder anderem zu, anstatt die Gelegenheit beim Schopfe zu packen und ein wenig tiefer zu schürfen, wovor er aber zurückschreckt, ja zurückschrecken muss, weil sich allzu rasch erweisen könnte, welch arg verkürzte Begründungen er für die derzeitigen Missstände zu bieten hat. Nicht mehr ausführlich kommentieren möchte ich seinen zustimmenden Hinweis auf Timothy Mitchell, der in seinem 2011 publizierten Buch: Carbon Democracy. Political Power in the Age of Oil, »glänzend gezeigt [habe], wie die auf Kohle basierende Ökonomie lange Zeit einen wirksamen Klassenkampf ermöglichte, den die führenden Klassen durch den Umstieg auf Öl schließlich gewannen.« (S. 74). Nicht etwa der Zwang zur erfolgreichen Kapitalverwertung ist entscheidend, sondern ganz basal-materialistisch: der jeweilige Brennstoff! So kann man sich als eingebildeter Marxist irren…
Am Ende dieses Abschnittes behauptet er noch rasch, dass »der Klassenkampf nämlich von einer Geo-logie abhängt« (S. 75), und das 21. Jahrhundert »das Zeitalter der neuen geo-sozialen Frage« (S. 76) sei. Was Marx schon vor rund 150 Jahren klar war, das präsentiert 2017 ein Professor der ›Sciences Politiques Paris‹ als neu aufzuwerfende soziale Frage; sonderlich innovativ ist das nicht.
Wie weit Sankt Bruno sich mit seinem Postulat des TERRESTRISCHEN von Gesellschaftskritik entfernt (sollte er so etwas Anstößiges je vorgehabt haben) hat und lieber sich der Natur anheim gibt, das zeigt er überdeutlich, indem er begeistert »die geniale Losung der Aktivisten« zitiert; gemeint ist ein gewisser Baptiste L., der am 4.11.2013 postete: ›Nous ne défendons la nature, nous sommes la nature qui se défend‹[6] – und den Beitrag mit »Amen« beendete. Vielleicht scheint hier des Brunos Studium der Bibelexegese durch?
Karl Marx hat in seiner Polemik gegen den Theologen und Philosophen Bruno Bauer in der zusammen mit seinem Freund Friedrich Engels verfassten »Die deutsche Ideologie« (MEW 3) den Namensvetter von Latour oft spöttisch mit »Sankt Bruno« oder »der heilige Bruno« betitelt sowie mit vielen Argumenten, aber auch mit sarkastischen Kommentaren überzogen. Und Bruno Latour bleibt ohne Zweifel trotz seiner möglichen Bibelexegesen ein wirklich komischer Heiliger unter dem Herrn.
Subjektives und Objektives
Das »Auseinanderfallen von – äußerem, objektivem und erkennbarem – Realen und – irrealem, subjektivem und unerkennbarem – Inneren […] [ist] überlagert worden von dem bereits ausgemachten berühmt-berüchtigten Vektor der Modernisierung […] Das Subjektive wird fortschreitend mit dem Archaischen und Veralteten assoziiert und das Objektive mit dem Modernen und Fortschrittlichen.« (S. 84). Latour empfiehlt jedoch, dass wir uns »virtuell mit Sack und Pack von den subjektiven und gefühlsbetonten Positionen fortbewegen […] hin zu den allein als objektiv geltenden Positionen« (S. 85). Dies müsse sein, weil, um »die Situation auf Erden objektiv, rational, wirksam, mit einigem Realismus zu beschreiben, sind alle Wissenschaften notwendig, allerdings müssen sie anders positioniert werden.« (S. 87). Latour ahnt mehr als dass er es weiß, dass die genannten Wissenschaften mit all der aufklärerischen oder modernen oder auch postmodernen Ideologie ein integraler Teil der kapitalistischen Produktionsweise eben dieser Produktionsweise sind. Ergo müssen sie halt »anders positioniert werden« – warum machen wir das nicht einfach `mal?
Ökonomie, Lovelock, Gaia und Sirius
Die Ökonomie, also nicht die kapitalistische, sondern vermutlich eine anthropologische, eine seit ›homo erectus‹ mit seiner werkzeug- und feuergestützten ›Ökonomie‹ die Erde zu bevölkern anfing währende, hat ab dem 17. Jahrhundert die Natur in sich zu integrieren begonnen und diese dann nur noch als Produktionsfaktor betrachtet (vgl. S. 88). Dagegen setzt Latour aus »den Archiven anderer Völker […] Einstellungen, Mythen, Rituale […] denen jedwede Vorstellung von ›Ressource‹ oder ›Produktion‹ fremd war.« (ebd.). Diese Praktiken aus den Archiven werden allesamt »zu kostbaren Lernmodellen für das Überleben in der Zukunft.« (S. 89) – hon(n)i soit qui mal y pense!.
Einer der Schlüsselgedanken bei Latour ist derjenige der Unterscheidung einer Universum-Natur von einer Prozess-Natur oder auch einer Erde, betrachtet aus der Nähe oder aber vom Sirius[7] aus. Er lehnt sich bei der Entwicklung dieses Gedankenganges an einen der Retter der Ozonschicht, James Lovelock (*1919), der zu dem Schluss gekommen war, dass die Erde kein totes Ding, sondern selbst ein Lebewesen sei[8]. Völlig losgelöst von jeder Gesellschaftlichkeit werden die Menschen und ihre Umwelt in ein biochemisch-physikalisches Gemenge hineingepanscht, aus dem sie gesichert nur noch der dritte Attraktor, das TERRESTRISCHE, erretten können wird. Da alle Menschen keine Charaktermasken, keine gesellschaftlichen Wesen, keine Individuen und auch keine Zellhaufen mehr sein dürfen, sondern wie alle anderen Wesen auf der Erde »Agentien« (S. 89), müssen wir »zu verstehen suchen, was es heißt, Handeln, Lebendigkeit, Wirkmacht längs jener Kausalketten, in die […] [wir] verstrickt sind, zu verteilen.« (S. 91). Für die Herren Lovelock und Latour ist alles recht simpel: »Der Konflikt lässt sich einfach zusammenfassen: Auf der einen Seite stehen jene, die weiterhin die Dinge von Sirius aus betrachten […] Auf der anderen Seite [diejenigen, die bereit sind] sich dem Rätsel hinsichtlich Zahl und Natur der wirkenden Wesen zu stellen.« (ebd.). Das ist nicht nur schwer oder gar nicht zu verstehen, das wird auch nicht näher erläutert. Ob Latour das intendiert? Ich tendiere dazu, die Einschränkung von James Lovelock in seinem eigenen Buch: »Gaia: Die Erde ist ein Lebewesen«: »So mag die Gaia-Theorie denn ganz oder in Teilen unhaltbar sein«[9], uneingeschränkt zu bejahen.
Critical Zone
Kritische Zonen sind bei Sankt Bruno nicht etwa solche, in denen Armut, Bürgerkrieg, Diskriminierung und Unterdrückung wegen Religion oder Geschlecht, des Weiteren Elend, Hunger, Krankheit, Krieg, Repression, Umweltverschmutzung, Verfolgung usw. anzutreffen sind – nein, diese Zonen beschränken sich »überraschenderweise auf die kleine, einige Kilometer umfassende Zone zwischen Atmosphäre und Muttergestein: auf einen dünnen Film, Firnis, eine zarte Hülle« (S. 92). Die armen Forscher/innen, die sich mit diesen kritischen Zonen beschäftigen, müssen sich, ganz anders als diejenigen, die sich um das Universum und dessen Natur insgesamt kümmern, »mit den Konflikten auseinandersetzen, die jeden der diese Zone bevölkernden Akteure betreffen« (S. 93). Und wenn es speziell um die Klimaleugnung geht, dann »fließt Geld in Hülle und Fülle« (S. 94), wohingegen für das Vergessenmachen der Entdeckung des Higgs-Teilchens kein einziger Dollar ausgegeben wurde. Solche Geld- oder auch Nicht-Geldgeber sind schon böse Leute! Das »TERRESTRISCHE, jetzt verstanden als das vereinte Wirken der von den Wissenschaften von der Kritischen Zone erkannten Agentien […] entwirft buchstäblich eine andere Welt, die sich von der ›Natur‹ ebenso unterscheidet wie von dem, was ›menschliche Welt‹ oder ›Gesellschaft‹ hieß.« (S. 94f.). Und diese andere Welt ist die ganz separate Utopie des heiligen Bruno und wird der realen Welt zusammenhanglos und unvermittelt als fiktives Modell gegenübergestellt, moralisch-materialistisch vermutlich total integer. Gaia wird von der personifizierten Erde zu Γαῖα, einer mystisch-sakralen Gottheit, die nicht von unserer Welt sein kann, und die widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnisse bleiben beim heiligen Bruno am Ende auf der Strecke.
Produktionssysteme und Erzeugungssysteme im Anthropozän
In diesem Kapitel, dem achtzehnten, sehen wir uns – möglicherweise zum wiederholten, von mir nur nicht immer bemerkten, Male – einer eher sprachlichen, linguistischen Schwierigkeit ausgesetzt: Der von Latour im französischen Original formulierte Gegensatz von »systèmes de production« und »systèmes d‘engendrement«[10] wird mit der deutschen Übersetzung von Bernd Schwibs: »Produktionssysteme« und »Erzeugungssysteme«, recht alternativlos, aber auch recht hilflos und leicht missverständlich wiedergegeben. Während erstere durchaus eindeutig übersetzt und dabei korrekt verstanden werden können, verhält es sich mit letzteren leider anders. Während ›Erzeugung‹ im Deutschen so gut wie synonym mit ›Produktion‹ zu setzen ist und in der Alltagssprache auch gesetzt wird, hat das französische ›l‘engendrement‹ wenigstens zum Teil die Bedeutung von Erzeugung im Sinne von ›durch einen Zeugungsakt hervorgebracht‹, jedoch ›production‹ hat auch im Französischen mehr die Bedeutung von ›Herstellung‹, also praktisch wie im Deutschen. »Der von Latour aufgemachte Dualismus zwischen Produktion und Erzeugung leuchtet nicht ein. So kann der Mensch bereits nach Marx ›in seiner Produktion nur verfahren, wie die Natur selbst, d. h. nur die Formen der Stoffe ändern‹, wobei er ›beständig unterstützt [wird] von Naturkräften‹ (Kapital I, MEW 23, 57f)« urteilt Mattis Körber[11]. Im Rahmen der von Latour beabsichtigten, eher der terrestrischen Natur als der gesellschaftlichen Kultur nahen Ausführungen, vermute ich, dass seine Wortwahl durchaus den politisch-materialistischen mit dem natürlich-biologischen Kontext konfrontieren möchte. »Der heilige Bruno selbst scheint hiernach […] durch generatio aequivoca [also durch ›Urzeugung‹; R. A.] ›in die Welt, von der Welt und zu der Welt‹ gekommen zu sein.« (MEW 3, 94). Er ordnet daher auch Freiheit, Zentralität und Mechanik dem Produktionssystem, Abhängigkeit, Verteiltheit und Entstehung dem Erzeugungssystem zu. Und letzteres ist »nicht daran interessiert, für Menschen Güter aus Ressourcen zu produzieren, sondern Erdgeschöpfe zu erzeugen [»engendrer les terrestres« im französischen Original; R. A.] – alle Erdgeschöpfe und nicht nur Menschen.« (S. 97). Das klingt zunächst einmal faszinierend, denn dass sich die Menschen in einer postkapitalistischen Gesellschaftsformation um die Erde als Ganzes sorgen müssen, das scheint mir selbstverständlich.
Im Anthropozän nun, das nächste Thema Latours, tritt eine Änderung ein: »Die Situation ändert sich heute, weil die Klimakrise die Fixpunkte beider Teile nachhaltig erschüttert: den Begriff der Natur wie den des Menschen.« (S. 100). In diesem Zeitalter ist es, so unser heiliger Bruno, »vielleicht an der Zeit, nicht mehr von Menschen, Humanwesen, zu sprechen, sondern von Terrestrischen, von Erdverbundenen (earthbound), um damit den Humus, letztlich den Kompost herauszustreichen […] (Erdverbunden hat den Vorteil, dass es weder Geschlecht noch Gattung genauer angibt…)« (S. 101). Zu guter Letzt sind wir auch nicht einmal mehr »Agentien«, sondern »terrestres«, Erdverbundene, sozusagen Nicht-ETs. Und diese Erdverbundenen – jetzt heißt es: alle gut aufgepasst! – »stehen tatsächlich vor dem sehr heiklen Problem herauszufinden, wie viel andere Wesen sie zum Überleben benötigen [!]. Indem sie deren Liste erstellen, entwerfen sie ihr Lebensterrain« (ebd.). Da wir ›Terrestrischen‹ uns weiter oben bereits u. a. mit Reaktionären zusammentun sollten, klingt das Erstellen dieser Liste wie eine Handlung – ja, ich muss es leider, aber sehr bestimmt so sagen! – der Gestapo. Ich kann nur hoffen, dass all das ein Irrtum Latours und / oder seines/r Lektors/in ist – an der Übersetzung oder an den Schwierigkeiten derselben liegt es diesmal sicher nicht, denn im Original heißt es um keinen Deut besser: »Les terrestres, en effet, ont le très délicat problème de découvrir de combien d’autres êtres ils sont besoin pour subsister. C’est en dressant cette liste qu’ils dessinent leur terrain de vie.«[12]
Angesichts des gerade Geschilderten erscheint ein Satz, den Latour aus aus der Spielkiste der Vulgärdialektik herausgekramt hat, geradezu harmlos, obwohl er die konservativ-reaktionäre Plattheit des Denkens unseres Sankt Bruno aufzeigt: »Die aktuelle Situation […] besteht […] aus dem Widerspruch zwischen Produktionsprozess auf der einen und Erzeugungsprozess auf der anderen Seite. Es ist eine Frage der Zivilisation und nicht nur der Ökonomie.« (S. 103). Und vielleicht auch nicht einmal der Ökologie, denn es mag »an der Zeit sein, außer mit Bezug auf ein wissenschaftliches Gebiet, auf das Wort ›Ökologie‹ zu verzichten.« (S. 104). Wozu das? Egal und gut!
Aber halt, gar nicht gut: »Wir stehen endlich in einer eindeutigen Kriegssituation, freilich eines komischen Krieges, einer drôle de guerre[13]: offen erklärt und zugleich verschleiert!» (S. 104f.). Also kondensiert das politisch-aktionistisch gezogene Fazit: Zusammen mit Reaktionären erstellen wir eine Liste der zu Erhaltenden und der zu Eliminierenden auf dem Globus und beginnen den lustigen Krieg der Terrestrischen gegen alle anderen Unbelehrbaren! »Und dieser zugleich zivile und moralische Krieg spaltet im Innern jeden von uns.« (S. 105). Zu blöd aber auch…
Was tun?
Es war nicht zu vermeiden und schlicht zu erwarten: Wenn schon keinerlei kritische Analyse im Text zu finden war – eher das Gegenteil, oder gar noch schlimmer –, so müssen wenigstens praktische Hinweise und Handlungsanweisungen her, als da wären:
- sich an einen Boden binden; (S. 107)
- welthaft werden; (ebd.)
- Lebensterrains und alle Lebewesen beschreiben nach dem Vorbild der ›cahiers de doléances‹ des Ancien Régime Anfang 1789; (S. 109)
- die Verfestigung aufbrechen, um die Darstellung der Landschaften zu verfeinern, in denen die geo-sozialen Kämpfe stattfinden; (S. 109f.)
- die Verfestigung von der Basis her, durch Erhebung und Untersuchung wieder neu zusammensetzen; (S. 110)
- auflisten, was ein Erdverbundener zum Überleben benötigt und was er, wenn es sein muss, bereit ist zu verteidigen; (ebd.)
- Agentien und Akteure in eine Rangfolge bringen; (S. 111)
Terrestrische aller Länder, vereinigt Euch – und fangt endlich an, diese Liste abzuarbeiten, bevor es zu späth ist!
Europa, Europa über Alles!
Im letzten Kapitel des Buches möchte Sankt Bruno gerne noch Europa loben und selber dort beheimatet werden: »Nun, ich möchte in Europa landen« (S. 115) oder noch emphatischer auf Französisch: »Eh bien, moi, c’est en Europe que je veux me poser!« Sehr schön, merveilleux! Schließlich ist dieses Europa das »Vaterland« und die »Heimat« und es »wächst an seinen Fehlern.« (ebd.). Ich werde nicht des Brunos Lobhudelei auf Europa wiedergeben; was ich mir aber nicht ersparen möchte aufzuzeigen, das ist seine seltsame Sicht auf Europas Geschichte, mit der er zu der Aussage gelangt: »Es scheint, als hätte Europa mit den potenziellen Migranten einen hundertjährigen Pakt geschlossen: Wir sind zu Euch gekommen, ohne etwas von euch zu verlangen; ihr kommt zu uns, ohne eurerseits etwas von uns zu verlangen. Eine Win-win-Situation. Der ist nicht zu entkommen. Da Europa einmal über alle Völker hergefallen ist, kommen nun alle Völker nach Europa.« (S. 119). Absolut absurd! In Europa können die »großen Fragen der Zeit zusammenlaufen: Wie kommen wir aus der Minus-Globalisierung heraus? Wie verkraften wir die Reaktion des Systems Erde auf die menschlichen Handlungen? Wie organisieren wir uns, um die Flüchtlinge aufzunehmen?« (S. 120) Und eine geradezu infantile Prosopopöie schließt er noch an, die zudem offen eurozentristisch anmutet: »Das heißt nicht, dass die Länder der anderen Kontinente das alles unterlassen. Das heißt nur, dass Europa sich aufgrund seiner Geschichte als Erstes dazu verpflichten muss, da es für das Vorgefallene die Hauptverantwortung trägt.« (ebd.). Die Éloge kulminiert: »Europa ist das Archipel der Prunk- und Prachtstädte. Schaut euch diese Städte an und ihr begreift, warum man sich von überall her in Marsch setzt, um sich eine Chance zu ergattern, dort zu leben« (S. 120f.) – etwa als Obdachlose/r in Berlin? Und so weiter und so fort. Auch in schöner Polanyi-Manier (den er auch zitiert) glaubt der heilige Bruno, dass ausgerechnet Europa (von ihm gemeint ist der Erdteil, nicht die phönizische Königstochter) »die Ökonomie auf den gesamten Planeten ausgedehnt« (S. 121) hätte. Auf den letzten Seiten lässt er sogar noch – wenn auch nur in einer Anmerkung – die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel jubeln: »Wir Europäer müssen unser Schicksal in unsere eigene Hand nehmen.« (S. 136 Anm. 112). Basta!
Résumé
Die neue alte Devise des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU): »Wir sind heimatverbunden und weltoffen« ist meines Erachtens nur die in deutsches Politsprech übersetzte und ein wenig simplifizierte Zusammenfassung der durch und durch konservativen Hauptaussage des heiligen Bruno; nur dass Letzterer sich als guter französischer Philosoph des 21. Jahrhunderts erheblich gewählter, akademischer und nicht zuletzt vernebelnder ausdrücken kann. Da er sich selbst einer privilegierten Herkunft zeiht – er stamme aus einer eher wohlhabenden Winzerfamilie aus der Bourgogne und habe »voll und ganz von der […] Globalisierung profitiert« (S. 115), stellt er es den »Lesern frei zu entscheiden, ob ich damit überhaupt befugt bin, über diese geo-sozialen Konflikte zu sprechen.« (ebd.). Ja, lieber citoyen: befugt bist Du schon, wieso sollten wohlhabende Globalisierungsgewinnler nicht über so etwas sprechen dürfen – hier plagt ihn wohl ein pubertär-schlechtes Gewissen? Aber als privilegierter und hochdekorierter[14] Hochschulprofessor wäre es ihm schon gestattet, ein wenig tiefgründiger und kritischer nachzudenken. »Vieles in dem neuen Buch bleibt […] leider im Ungefähren und Metaphorischen« schlussfolgert Markus Holzinger[15]
Wer von den Leser/inne/n dieser kleinen Buchbesprechung eher einer christlich-konservativen oder auch reaktionären Denkströmung anhängt und gerne ›Deutschlandfunk‹ lauscht, die/der kann sich der Ansicht von Andrea Roedig anschließen: »Aber genau in seiner kurzen Form ist es ein gelungener, anregender und von der ersten bis zur letzten Seite spannend zu lesender Essay.«[16] Wer anderer Ansicht sein sollte und sich nicht zu dieser Klientel zählt, der/die kann getrost auf die Lektüre des Latour’schen Manifestes getrost verzichten.
Fußnoten
[1] »Wo landen? Wie sich in der Politik zurechtfinden«; eigene Übersetzung.
[2] »United Nations Framework Convention on Climate Change, 21st Conference of the Parties« – 30. November bis 12. Dezember 2015 in Paris.
[3] Bruno Latour; Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie; übers. von Gustav Roßler; Frankfurt am Main 2013; S. 173.
[4] EELV: ›Europe Écologie – Les Verts‹ (Europa Ökologie – Die Grünen); RN: ›Rassemblement National‹ (Nationale Sammlungsbewegung; bis Juni 2018: FN, Front National); PCF: ›Parti Communiste Français‹ (Kommunistische Partei Frankreichs).
[5] Karl Mannheim; Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens; Frankfurt am Main 1984; 111f.
[6] ›Wir verteidigen nicht die Natur, wir sind die Natur, die sich verteidigt‹; Übers. nach Bruno Latour; vgl. {https://reporterre.net/Nous-ne-defendons-pas-la-nature-nous-sommes-la-nature-qui-se-defend}, aufgerufen am 18.11.2018.
[7] Warum Latour ausgerechnet ein Doppelsternsystem, das obendrein fast neun Lichtjahre von der Erde entfernt ist, als Beobachtungsstation der Vertreter/innen der Universum-Natur wählt, bleibt unbegründet.
[8] vgl. James Lovelock; Gaia, die Erde ist ein Lebewesen. Anatomie und Physiologie des Organismus Erde; übers. von Jochen Eggert und Marcus Würmli; Bern und München 1996 [1991]. Lovelock macht sich in diesem Buch gar nicht die Mühe abzustreiten, er kümmere sich gar nicht um so etwas wie ›Gesellschaft‹ und reiht sich ein in die Phalanx der »there ain’t such thing as society« Behaupter/innen.
[9] sh. Anm11, a.a.O., 7.
[10] Bruno Latour; Où atterrir? Comment s’orienter en politique; Paris 2017; eBook, chapitre 18.
[11] vgl. {http://www.academia.edu/37696690/Rezension_Das_terrestrische_Manifest_Bruno_Latour_}.
[12] Siehe Anm. 11.
[13] Dieses »drôle de guerre« kann auch »lustiger Krieg« heißen! Ist es wirklich als Oxymoron gedacht?
[14] z. B. Siegfried-Unseld-Preis.
[15] {https://soziopolis.de/lesen/buecher/artikel/globalisierung-war-gestern/}.
[16]{https://www.deutschlandfunkkultur.de/bruno-latour-das-terrestrische-manifest-die-menschheit-hat.1270.de.html?dram:article_id=423856} vom 26. Juli 2018.